»Der Bürokratiedschungel überfordert viele«
Interview: Gitta Düperthal
Während der Aktionstage des Sozialverbands VdK in Frankfurt am Main zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung haben Sie die Kluft zwischen dem verfassungsmäßigen Anspruch darauf und der Lebensrealität von mehr als zehn Millionen Betroffenen in der BRD kritisiert. Sie sind im Bereich lange tätig, zuletzt ehrenamtlich. Welche Probleme beschäftigen Sie?
Ich habe zwei pflegebedürftige Enkel mit einer ADHS-Erkrankung. Um mehr Zeit für die Kinder zu haben, reduzierten mein Sohn und meine Schwiegertochter jeweils ihre Arbeitszeit auf 30 Stunden. Sie erhalten weniger Lohn. Nur einer der beiden kann dies bei der Rente geltend machen. Sie können nicht genügend Renteneckpunkte sammeln. Wie sollen sie private Altersvorsorge leisten, wie es die Regierung propagiert? Altersarmut ist programmiert, und das ist kein Einzelfall. Viele pflegen ihre älteren Angehörigen. Finanziellen Ausgleich gibt es nur vorübergehend oder als Darlehen. Deshalb fordern wir Lohnersatz oder einen Pflegelohn.
Was erwarten Sie dahingehend von der SPD-Bundessozialministerin Bärbel Bas?
Der Bürokratiedschungel überfordert viele – keineswegs nur migrantische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Man muss sich durcharbeiten: Welche Anträge muss man wo stellen? Dann sollen sogenannte Pflegestützpunkte zu Pflegekompetenzzentren weiterentwickelt werden. Wir fordern, den Zugang zu erleichtern und in einfacher Sprache zu informieren.
Bauliche, sprachliche und weitere Barrieren grenzen aus. Inklusion dagegen sei »ein Gewinn für alle«, sagen Sie.
Jeder kann mal erkranken und von Barrierefreiheit profitieren. Vor allem geht es um Solidarität. Aber bürokratische Hürden stehen auch bei haushaltsnahen Dienstleistungen im Weg: Wer aus der Nachbarschaft ehrenamtlich helfen will, benötigt ein polizeiliches Führungszeugnis. Muss es das erweiterte für 13 Euro sein? Das einfache kostet nichts. Brauchen Sie den Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein? Nein, aber einen Pflegekurs, der auf Erkrankungen eingeht! Das Pflegegesetz muss überarbeitet werden, auch damit nicht jedes Bundesland unterschiedlich vorgeht. Konkrete Festlegungen, wie die Koalition die Pflege finanziell sichern will, finden sich im Koalitionsvertrag nicht.
Darin heißt es, die Regierung wolle »die Belange von Menschen mit Behinderungen bei der Entwicklung von KI-Systemen berücksichtigen«, beim Erwerb digitaler Kompetenzen, bei barrierefreier digitaler Infrastruktur am Arbeitsmarkt, in außerbetrieblichen Bildungseinrichtungen.
KI kann für Menschen mit einer Behinderung hilfreich sein. Etwa bei Durchsicht des Koalitionsvertrags: Was wird auf den 144 Seiten zu ihren Belangen gesagt? Wer die Hände nicht bewegen kann, kann Laptop oder Smartphone mittels Sprache ein- oder ausschalten; wobei das System nur auf Ansprache dieser Person reagiert. KI könnte im Fall von demenzerkrankten Menschen angewandt werden, falls sie vergessen, den Herd auszuschalten.
Ich hatte einen Mann mit Multipler Sklerose nach langer Zeit wiedergetroffen. Er kann sich kaum allein bewegen. Mithilfe von KI hat er einen Doktortitel erworben. Trotz schwerer Einschränkung schreibt er Berichte über medizinische Forschungen für Zeitschriften, kann für seinen Lebensunterhalt sorgen. Für die Körperpflege aber benötigt er einen Pflegedienst.
Der fortlaufende Rechtsruck in der Gesellschaft dürfte sich auch auf das Leben von Menschen mit Behinderung auswirken. Wie hat sich das entwickelt?
Seit dem Aufstieg der AfD kommen Diskriminierungen im Alltag vermehrt vor. Ein Paar mit jeweiliger Behinderung mit seinen zwei Kindern wird beschimpft: »Ihr könnt doch zu Hause bleiben, ihr nehmt bloß einen Kindergartenplatz weg.« Queere Menschen mit Behinderung haben es besonders schwer. Wir erwarten hier von der Bundesregierung, dass sie Förderprogramme gegen Rechtsextremismus gezielt ausbaut, um die Demokratie zu schützen. Bürgerinnen und Bürger müssen vor der Gefahr rechter Angriffe besser geschützt werden. Dazu findet sich im Koalitionsvertrag von Union und SPD nichts.
Hannelore Schüssler ist Vorstandsvorsitzende des VdK-Kreisverbands Frankfurt
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