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Aus: Ausgabe vom 14.05.2025, Seite 12 / Thema
Cannabislegalisierung

Hintertür für Konzerne

Ein Jahr nach der Teillegalisierung in Deutschland gibt es nur wenige »Cannabis Social Clubs«. Indes boomt der Markt für medizinisches Cannabis
Von Florian Osuch
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Alle Hände voll zu tun: Ein Mitglied des »Cannabis Social Club Ganderkesee« (Niedersachsen), eine der wenigen zugelassenen Organisationen, prüft den vereinseigenen Anbau

Das im April vorigen Jahres in Kraft getretene Gesetz zur kontrollierten Abgabe von Cannabis leitete eine Trendwende im Umgang mit der Substanz ein. Cannabis wurde aus der berüchtigten Anlage II des Betäubungsmittelgesetzes gestrichen. Seitdem gilt für Volljährige: Bis zu 50 Gramm Cannabis für den Eigenbedarf sind gestattet. Drei Pflanzen dürfen pro Person gezüchtet werden. Mit etwas gärtnerischem Geschick können Konsumentinnen und Konsumenten weitgehend autark Cannabis anbauen. Auch das Rauchen eines Joints kann in der eigenen Wohnung wie auch in der Öffentlichkeit nicht mehr belangt werden, sofern geltende Abstandsregeln zu Kinder- und Jugendeinrichtungen eingehalten werden. Verkauf und Handel oder auch eine unentgeltliche Weitergabe von Cannabis an Freunde bleiben indes streng verboten. Verstöße können mit teils hohen Bußgeldern geahndet werden.

Neben Besitz und privatem Anbau ist die gemeinschaftliche Aufzucht in »Cannabis Social Clubs«, sogenannten Anbauvereinigungen, gestattet. Angelehnt sind sie an Konzepte des Genossenschaftswesens. Konsumierende schließen sich zusammen, gründen einen Verein und bauen Cannabis für sich selbst an. Konzernen und kapitalistischem Profitstreben bleibt der Zugang zu dieser Sphäre verwehrt. Abgegeben wird das Cannabis nur an Mitglieder des Vereins. Das Ernteerzeugnis wird in wirtschaftlicher Hinsicht nicht verkauft, sondern gegen eine Gebühr abgegeben. Aus politökonomischer Sicht entsteht »Gebrauchswert« in Form eines Genussmittels für die Mitglieder der Clubs. Für das Cannabis gibt es jedoch keinen kapitalistischen Markt, weshalb kein »Tauschwert« entsteht.¹

Ein Jahr später stecken viele dieser Clubs in den Mühlen der Bürokratie. Bevor Räume angemietet, Gewächshäuser gebaut oder Klima- und Bewässerungsanlagen installiert sind, müssen Anträge geschrieben, Sondergenehmigungen eingeholt und Konzepte für den Jugendschutz entwickelt werden. Doch selbst wenn alles ordentlich formuliert und abgeheftet vorliegen sollte, heißt das nicht, dass die zuständigen Behörden eine Genehmigung erteilen. So wurde in Bayern noch kein einziger Antrag genehmigt. Laut eines Berichts des Bayerischen Rundfunks vom 26. März 2025 prüfe das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit noch 28 von 37 Einreichungen. Die übrigen Anträge wurden abgelehnt oder zurückgezogen. Das wundert kaum. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte noch kurz vor der Bundestagswahl gegenüber der Augsburger Allgemeinen gepoltert: »Wir wollen den Fehler der Ampel rückgängig machen und Cannabis wieder verbieten.«

Auch die Bundesländer Hessen und Saarland haben laut der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion noch keinen einzigen »Cannabis Social Club« genehmigt (Stand: Dezember 2024). Selbst in den Stadtstaaten geht es sehr langsam voran: Berlin und Bremen vergaben bis Dezember je eine, Hamburg drei Konzessionen. Die meisten Genehmigungen zur kollektiven Cannabisgärtnerei erteilten Niedersachsen (20) und Nordrhein-Westfalen (25).²

In der Hauptstadt wurden mittlerweile »immerhin fünf Anträge genehmigt«, teilte der »Cannabis Social Club Berlin« (CSC Berlin) Mitte März mit. Da im Cannabisgesetz jedoch eine Höchstgrenze von maximal 500 Mitgliedern pro Club festgeschrieben ist, brauche Berlin nach einer Berechnung des CSC »mehrere hundert« solcher Vereine. So bleibt Konsumierenden, die kein eigenes Cannabis anbauen wollen oder können, in Berlin nur der Gang zum Schwarzmarkt. Oder man weicht auf einen Onlineshop für medizinisches Cannabis aus.

Lauterbach als Vorreiter

Genau diesen illegalen und unregulierten Markt hatte die frühere Bundesregierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zurückdrängen wollen. Ursprünglich hatte man sogar eine komplette Legalisierung mit lizenzierten Fachgeschäften geplant. Die Öffnung von Genusscannabis für das profitorientierte Geschäft war wohl als Zugeständnis an die FDP und die Cannabiswirtschaft gedacht. Vorbild sind Kanada und mehrere US-Bundesstaaten. Dort wird der kommerzielle Handel von heimischen Konzernen dominiert. Hierzulande hätte eine vollständige Legalisierung jedoch im Widerspruch zu EU-Recht und dem gemeinsamen Wirtschaftsraum gestanden.

Allerdings hatte die Reform zur Folge, dass sowohl vor als auch nach Verabschiedung des Gesetzes mitunter etwas unaufgeregter, vorurteilsfreier und sachlicher über die Pflanze, den Konsum ihrer Blüten, über Gefahren und Risiken, über das medizinische Potential von Cannabis, über juristische Aspekte oder über Vertriebs- und Handelswege illegalisierter Substanzen gesprochen wurde. Eine bedeutende Stellung hatte dabei der damalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) inne. In Talkshows, Interviews und auf mehreren Bundespressekonferenzen³ legte er ausführlich dar, wie die bis dahin praktizierte Verbotspolitik gescheitert sei.

Dabei identifizierte er drei Probleme: als erstes den Anstieg des Cannabiskonsums bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Diese Personengruppen sind nach Auffassung von Medizinern für Psychosen, Angststörungen und andere Erkrankungen anfälliger als ältere Konsumenten. Der im Cannabis enthaltene Wirkstoff THC kann das noch im Wachstum befindliche Gehirn in besonderer Weise schädigen. Ein Verbot hindere junge Menschen allerdings nicht am Konsum. Als zweites verwies Lauterbach auf einen wachsenden Schwarzmarkt. Die Prohibition leite Konsumierende in einen unregulierten Handel ohne Verbraucher- und Gesundheitsschutz. Daran anknüpfend verwies Lauterbach drittens auf die Problematik, dass Cannabis auf dem illegalisierten Markt zunehmend mit allerlei Giftstoffen verunreinigt ist.

In einer Studie wurde 2024 auf dem Schwarzmarkt bezogenes Cannabis aus 30 deutschen sowie zehn europäischen Metropolen auf biologische Komponenten, Pestizide und andere Drogen getestet. Von über 300 eingesendeten Proben seien »nur rund 20 Prozent als sichere und saubere Produkte« einzustufen. Ein Großteil war verunreinigt, unter anderem mit menschlichen und tierischen Fäkalien, Covid-19 und Influenzaviren. Weiter heißt es: »Ebenso fanden sich Spuren von Kokain, Ketamin, Crystal Meth, MDMA und sogar Verbindungen aus Haarspray; außerdem Spuren von toxischen Pestiziden, die in Europa als illegal eingestuft werden.«⁴ Am schlechtesten schnitten die Großstädte Berlin, Hamburg und München ab. Um dieses und die anderen Probleme zu lösen, hatte man sich in der Ampelregierung auf die beschriebene »kontrollierte Legalisierung« verständigt. Der Schwarzmarkt sollte zurückgedrängt, der Jugendschutz gestärkt und der Konsum sicherer und insgesamt begrenzt werden.

Für das Cannabisgesetz (CanG) mussten Änderungen an mehreren anderen Gesetzen vorgenommen werden, darunter am Betäubungsmittelgesetz, entsprechenden Verschreibungs- und Außenhandelsverordnungen, dem Arzneimittelgesetz, dem Strafgesetzbuch, der Strafprozessordnung und der Fahrerlaubnisverordnung. In der breiten öffentlichen Debatte wurde weitgehend ignoriert, dass das Cannabisgesetz aus zwei Einzelgesetzen besteht. Das »Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis« (KCanG) regelt Eigenanbau, privaten Konsum und Anbauvereinigungen. Die gleichzeitig erfolgte Reform im Umgang mit medizinischem Cannabis – geregelt unter der Bezeichnung »Medizinal-Cannabisgesetz« (MedCanG) – wurde selten diskutiert, auch in dieser Zeitung nicht. Warum? Die Änderungen beim medizinischen Cannabis waren im Vergleich zum Genusscannabis sehr gering.

Privater Anbau blüht

Von der Entkriminalisierung profitieren insbesondere jene, die ihr Cannabis selbst pflanzen, düngen, ernten, veredeln und konsumieren. Das gab es zwar hierzulande schon vor dem Cannabisgesetz tausend- oder vielleicht sogar zehntausendfach – nur musste der Anbau aufgrund der strengen Verfolgung durch Polizei und Justiz im Verborgenen stattfinden, abgeschirmt vor Vermietern, Gästen oder Nachbarn. Kommerziell ist die Teillegalisierung vor allem für die Verkäufer von Spezialbedarf für die private Aufzucht erfolgreich. Damit aus einem Samen eine blütenreiche Pflanze mit hohem Ertrag gedeiht, ist neben dem gärtnerischen Geschick auch einiges an Equipment nötig. Als Grundausstattung sind Spezialdünger und eine Vorrichtung zum Trocknen der geernteten Blüten ausreichend. Geübte Grower greifen auf optimierte Erden zurück, nutzen Speziallampen und Reflektoren oder investieren in Bewässerungs-, Klima- und Lüftungstechnik. Faule Kiffer kaufen sich eine sogenannte Growbox. Das sind etwa kühlschrankgroße Minigewächshäuser, vollausgestattet mit LED-Beleuchtung, Abluftanlage etc. Mit so einer Vorrichtung im Keller oder in einer Abstellkammer lässt sich mit drei Pflanzen bereits eine Ernte einfahren, die in vielen Fällen den Grenzwert von 50 Gramm Cannabis pro Person deutlich übersteigt. Die Nachfrage nach solchem Zubehör war schon kurz vor Verabschiedung des Cannabisgesetzes derart groß, dass sie das Angebot überstieg. Zeitweise waren Lampen, Lüfter, Growboxen etc. restlos ausverkauft, und Kunden mussten lange Lieferzeiten einplanen.

Wie geht es nun weiter? Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD will das Cannabisgesetz im Herbst 2025 »ergebnisoffen evaluieren«. So steht es im Koalitionsvertrag, und so ist es bereits im Cannabisgesetz festgeschrieben. Von der Rücknahme der Teillegalisierung – wie sie auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) vor der Wahl gefordert hatte – ist keine Rede mehr. Eine zügige Rückabwicklung ist zudem kompliziert. »Ein bestehendes Gesetz (kann) nicht einfach per Regierungsbeschluss außer Kraft gesetzt werden, sondern (muss) durch ein neues Gesetz aufgehoben oder geändert werden«, heißt es beim Blog jurawelt.com. Zudem müsse ein solches Gesetz den gleichen langwierigen Prozess der Gesetzgebung mit Beratungen, drei Lesungen im Bundestag und einer Schlussabstimmung im Bundesrat durchlaufen.

Wie hat sich das Konsumverhalten seit der Cannabisreform überhaupt entwickelt? Das von CDU/CSU und AfD beschworene Szenario, ganz Deutschland und insbesondere Teenager würden sich im Zuge der Teillegalisierung einen Wettbewerb im Dauerkiffen liefern, ist wahrlich nicht eingetreten. Hin und wieder kann man in Parks und Grünanlagen sehen, wie in geselliger Runde ein Joint geraucht wird. Der Schulbetrieb hat überdies andere Sorgen: Neben bröckelndem Putz, ollen Toiletten und fehlendem Personal rückt die zunehmend ungesunde, bisweilen toxische Nutzung von Smartphones in den Blick der Bildungsbehörden.

Zum Cannabiskonsum in Deutschland fehlen weiterhin belastbare Daten. In Stuttgart will man es genauer wissen. Dort werden seit März 2023 – also etwa ein Jahr vor der Teillegalisierung – Proben des Abwassers genommen, und zwar stündlich: 24 Proben am Tag, jede Woche, jeden Monat. Getestet wird der Gehalt von Carboxy-THC. Das ist ein Abbauprodukt von THC, der psychoaktiven Hauptsubstanz von Cannabis. Carboxy-THC wird über den Urin ausgeschieden und lässt sich mehrere Tage nachweisen. Ergebnis der Proben? Die Abwasserdaten in Stuttgart zeigen eine leichte Steigerung von etwa 13 Prozent der Carboxy-THC-Werte gegenüber den Werten vor der Einführung des Gesetzes. Ein mäßiger Anstieg, der zeitweise auch wieder sank.

Cannabis auf Rezept

Eine ganz eigene Dynamik hat die Abgabe von medizinischem Cannabis. Ab 2017 war es unter sehr strengen Regeln möglich, dass ein Arzt zur Behandlung etwa schwerer chronischer Schmerzen Cannabis verschrieb. Nötig waren dafür eine individuelle Ausnahmegenehmigung und ein spezielles Rezept für Betäubungsmittel, denn Abgabe, Transport und in Verkehr bringen von Cannabis waren verboten.

Im MedCanG heißt es nun, die Substanz darf zu medizinischen Zwecken »von Ärztinnen und Ärzten verschrieben oder im Rahmen einer ärztlichen Behandlung verabreicht (…) werden«. Binnen weniger Monate ist ein großer Markt dafür entstanden. Diverse Onlineportale bieten medizinisches Cannabis an. Sie heißen »420brokkoli«, »Grünhorn«, »Green Medical«, »CannabisApo24« oder »CannaZen« und sind einem Onlineshop zum Verwechseln ähnlich. Inzwischen gibt es – ähnlich wie beim Kauf einer Pauschalreise oder eines Fernsehers – sogar Vergleichsportale. Der Anbieter »flowzz« ist nach eigenen Angaben »mit über 1.000 Cannabisblüten, Extrakten und Sorten der größte Preisvergleich für Cannabisapotheken in Deutschland«. Einem Laien fällt nicht auf, dass auf diesen Webseiten medizinische Produkte angeboten werden. Da sowohl das Gesetz für Genusscannabis als auch jenes für medizinisches Cannabis den kommerziellen Handel weiterhin verbieten, bedienen sich die Anbieter einer auf den ersten Blick schwer durchschaubaren Konstruktion. Die Firmen fungieren nicht als Verkäufer, sondern als Vermittler. Die Kunden sind offiziell Patienten. Das in Hessen ansässige Unternehmen »Green Medical« beschreibt den Prozess so: Die Firma »fungiert als Plattform zur Vorbereitung telemedizinischer Leistungen und stellt einen Kontakt zwischen dir und dem Arzt und, sofern du das wünschst, dir und deiner Wunschapotheke her«.

Der Unterschied zwischen einem Kaufvorgang und der Bestellung eines verschreibungspflichtigen Medikaments wird erst beim obligatorischen Ausfüllen eines Fragebogens deutlich. Dort wird gefragt, ob man beispielsweise an chronischen Schmerzen oder Schlafstörungen leidet. Das Ausfüllen dauert circa 30 Sekunden. So soll der Anschein einer medizinischen Konsultation gewahrt werden. Falls gewünscht, kann ein Arzt telefonisch oder per Videoschalte kontaktiert werden. Verpflichtend ist das nicht. Die Mediziner stellen in der Regel ein Privatrezept aus, weshalb die Abwicklung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung stattfindet, ähnlich wie beim »Lifestylearzneimittel« Abnehmspritze.

Längst ist ein für den kapitalistischen Markt typischer Wettbewerb entstanden. Konkurriert wird um Kunden bzw. »Patienten«. Geliefert wird per Post. Eine Altersprüfung findet höchstens statt, wenn der Lieferant bei Aushändigung einer Sendung nach dem Ausweis fragt. Wem der Versand an die heimische Adresse zu gefährlich ist, lässt das Cannabis an eine anonyme Packstation liefern. So kann auch leicht eine mögliche Altersprüfung umgangen werden, falls bei minderjährigen »Patienten« versehentlich die Eltern die Sendung in Empfang nehmen.

Vom Geschäft mit dem medizinischen Cannabis profitieren alle Beteiligten. Die Plattformen erheben für ihre Vermittlung eine Gebühr. Die Ärzte berechnen für ihre »Beratung« und das Ausstellen eines Privatrezeptes ein Honorar. Die Apotheken verkaufen das Cannabis – ihnen wird das Rezept digital übermittelt. Für die Kunden/Patienten ist diese Konstruktion bequem. Sie bezahlen einen Gesamtpreis und bekommen das Cannabis oftmals binnen 24 Stunden zugeschickt. Der Preis liegt in den Onlineshops nur geringfügig über jenem auf dem Schwarzmarkt. Dafür kann je nach Anbieter aus über einhundert Sorten ausgewählt werden. Sie unterscheiden sich im THC-Gehalt, in der Wirkung (stimulierend oder beruhigend) und im Geschmack. Ein Shop bietet Cannabis der Sorte »Cosmic Cream« an. Es enthält einen recht hohen THC-Gehalt von 31 Prozent. Aroma: süß, zitronig, würzig. Preis: 9,94 Euro pro Gramm. Hersteller ist der multinationale Konzern »Aurora«. Die Sorte »Lavender Clouds« (»ideal für den Tag, wenn du einen klaren Kopf und kreative Inspiration suchst«) hat mit 13 Prozent einen deutlich geringeren THC-Gehalt. Es enthält ein »erfrischendes Aroma mit Zitrusnoten« und kostet 6,99 Euro pro Gramm.

Aggressive Werbung

Beide Produkte werden auf der Plattform »Dr. Ansay« angeboten. Die Firma ist Pionierin auf dem Gebiet der Telemedizin. Firmengründer Can Ansay ist kein Mediziner, sondern Jurist. Bekannt wurde er mit dem Geschäftsmodell, Krankschreibungen online bzw. per Whats-App zu verschicken. Auch die sogenannte Abnehmspritze vermittelt die in Malta registrierte Firma.

In der medizinischen Fachwelt wird das Geschäft mit dem medizinischen Cannabis zunehmend kritisiert. Der Apothekerkammer Nordrhein ging es zu weit: Sie reichte Klage gegen die Plattform ein. Das Landgericht Hamburg urteilte im März, »Dr. Ansay« dürfe »gegenüber Endverbrauchern nicht für die Durchführung von telemedizinischen Behandlungen werben, bei denen die Verschreibung von medizinischem Cannabis angestrebt wird«, so die Pharmazeutische Zeitung. Ebenso unzulässig ist der bei Google eingeblendete Werbespruch »Cannabis plus Rezept einfach, schnell und günstig erhalten«. Nach Auffassung des Gerichts verstößt »Dr. Ansay« gegen das Heilmittelwerbegesetz, wonach Werbung für Fernbehandlungen untersagt ist. Beeindruckt zeigt sich »Dr. Ansay« durch das Urteil nicht. Auf der Plattform heißt der Bereich, in dem medizinisches Cannabis bestellt werden kann, unverblümt »Cannabis Shop«. Geworben wird weiterhin mit »Cannabis, Rezept und AU-Schein⁵ online bestellen – einfach, schnell und günstig«.

Für Konsumentinnen und Konsumenten ist der Onlinehandel aus zweierlei Hinsicht ein Gewinn: Sie müssen sich nicht umständlich engagieren – entweder beim Eigenanbau oder in einem Club –, sondern können Cannabis bequem und zu einem (schwarz)marktüblichen Preis bestellen. Sie erhalten überdies endlich den gewünschten Verbraucherschutz, wie er beispielsweise bei Alkohol existiert. Zuständige Behörde für die Anwendung des Gesetzes für medizinisches Cannabis ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn. Es überwacht sowohl die Herstellung im Inland als auch den Import aus dem Ausland. Laut Deutschem Ärzteblatt habe die Einfuhr von medizinischem Cannabis im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Das Magazin habe dafür Daten des BfArM ausgewertet. Demnach seien im ersten Quartal 2024 – also kurz vor der Reform – 8,1 Tonnen Cannabis für medizinische Zwecke importiert worden. Im zweiten Quartal 2024 waren es 11,6 Tonnen, im dritten 20,7 Tonnen und im vierten Quartal bereits 31,7 Tonnen. Dem Gesamtimport von 72,1 Tonnen Cannabis im Jahr 2024 stehen gerade einmal 2,6 Tonnen heimischer Produktion gegenüber. Fast die Hälfte des Cannabis wurde aus Kanada importiert, gefolgt von Portugal und Dänemark. Kanada ist Ursprung und Zentrum der international tätigen Cannabiskonzerne. Die Aktiengesellschaften »Aurora« und »Canopy Growth« haben dort ihren Sitz. »Tilray«, ein weiterer globaler Akteur, hat seinen Hauptsitz erst vor ein paar Jahren von Kanada in die USA verlegt. Die Unternehmen beliefern Dutzende Staaten mit medizinischem Cannabis. Sie haben inzwischen eigene Produktionsstätten in Europa, darunter – das überrascht wenig – in Portugal und Dänemark.

Mit dem Markt für medizinisches Cannabis hat der Gesetzgeber vermutlich unwillentlich eine Hintertür für die Konzerne geschaffen. »Wir erleben bei medizinischem Cannabis eine Explosion, die wir so nicht erwartet haben«, erklärte Thomas Müller, Leiter der Abteilung Arzneimittel und Medizinprodukte im Bundesgesundheitsministerium, gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Anmerkungen

1 Ausführlich zur Cannabiswirtschaft und zu Anbauvereinen in »Gemeinsam bauen«, jW, 19.9.2023

2 Vgl. Drucksache 20/14626

3 Bundespressekonferenz »Cannabislegalisierung. Kritik von beiden Seiten ein gutes Zeichen«, 16.8.2023

4 Studienergebnisse unter: https://avaay.de/studien/studie-cannabis-verunreinigungen

5 Gemeint ist eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Krankschreibung)

Florian Osuch schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. September 2024 über das System der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik.

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