Die letzten 128 Tage
Von Regine Sylvester
Den Dokumentarfilm »Das Jahr 1945« von Karl Gass sah ich 1985 in einer Pressevorführung. Die Diskussion danach überraschte: Filmemacher und Journalisten redeten über Gefangenschaft, Lazarett, Ruhr, Hunger, ungewisse Heimkehr in Trümmerwelten. Da sprach eine Generation über persönliche Erinnerungen. Sie war am Krieg beteiligt gewesen. Ich Nachkriegskind fühlte mich als Außenseiter.
Jetzt, vierzig Jahre später, sehe ich diesen Film noch einmal, in der Reihe »Nie wieder Krieg« im Kino Babylon. Es ist still. Als das Licht angeht, sehen sich Fremde in die Augen. Viele bleiben sitzen. Der Film könnte heute kaum Zeitzeugen verbinden, aber auch wir Nachgekommenen fühlen etwas Gemeinsames.
Im April 1975 lud der Film- und Fernsehverband der DDR ehemalige sowjetische Frontkameraleute ein. Sie erwähnten eigenes, nie verwendetes Material, das noch in den Archiven liegen müsste: Alltägliches, Ereignisse am Rand der Schlacht.
Der Regisseur Karl Gass hörte das. Er schrieb eine Filmidee auf und suchte mit seinen Mitarbeitern nach unbekannten Bildern. Die Suche weitete sich aus. Sie dauerte zehn Jahre und brachte dem Film »Das Jahr 1945« etwa 70 Prozent neues Material, das hilft, mehr vom Krieg zu begreifen. Alle Kameraleute riskierten ihr Leben. Karl Gass dankt ihnen im Abspann.
Der Film hat einen Untertitel: »Die letzten 128 Tage des Krieges in Europa und die ersten Tage danach.« Dieser Zeitraum wird in 26 Kapiteln erzählt, so detailliert und anschaulich wie möglich. Aus wechselndem Frontverlauf, dem Chaos des letzten Sterbens und den Komplikationen der Kriegsdiplomatie baut der Film einen Gedankengang, der sich mit dem dokumentierten Material entwickelt.
Der Kommentar des Autors, Kritikers und Dramaturgen Klaus Wischnewski wirkt wie der Dialog eines Historikers mit den offenen und verdeckten Botschaften der Dokumente: Er befragt das Irritierende. Die Kommentierung vergegenwärtigt dem Zuschauer die Ereignisse. Bestürzende Szenen: Berge von Toten, die verbrannt werden sollen. Ein kleiner, vermummter Mann läuft zwischen zwei amerikanischen Offizieren und zeigt auf angetretene deutsche Militärs. Die werden im Laufschritt weggebracht und erschossen. Zeigte der Mann auf die Richtigen? Eine alte Polin steht am Massengrab und schreit: »Alles, was deutsch ist, möge verflucht sein in Ewigkeit!«
»Hier beginnt das verfluchte Deutschland«, haben Soldaten an die Landesgrenze geschrieben, und die Rache beginnt gleich dahinter. Polen springen zwischen deutsche Gefangene und schlagen strauchelnde Gestalten zusammen. Ein russischer Soldat zerrt an einem Fahrrad, das eine deutsche Frau festhält. Aber auch das: Ein Russe zieht einen Deutschen aus dem Versteck. Ein Geschoss explodiert, beide werfen sich hin. Der Russe hält eine Hand schützend über den Gefangenen.
Im Jahr 1985 dachte niemand, dass es die DDR wenige Jahre später nicht mehr geben könnte. Medien wurden geprüft und zensiert. War das sozialistischer Realismus? Die richtige Weltanschauung? Zwanzig Jahre früher, im Dezember 1965, hatten auf dem 11. Plenum des ZK die Staatsmacht und die SED in künstlerische Produktionen aller Genres eingegriffen. Die Erfahrung der Verbote wirkte nach.
Auch dem erfahrenen Karl Gass – er war zu seiner Lebenszeit bei 121 Filmen als Autor und Regisseur dabei – traute man nicht. Die Staatssicherheit beobachtete ihn einige Jahre. Sein Film »Ecken und Kanten« wurde lange nicht freigegeben, auch »Das Jahr 1945« wollten die Zensoren in der ursprünglichen Form nicht durchgehen lassen. Zum Beispiel sollten im Kommentar Jubeldemonstrationen nach Kriegsende erwähnt werden. Aber die Deutschen unter russischer Besatzung jubelten mehrheitlich nicht. Sie waren desillusioniert, erschöpft, viele nahmen sich am Schreibtisch, im Wohnzimmer, auf Parkbänken das Leben.
Am 11. Juni 1945 erschien ein Aufruf der Kommunistischen Partei »zum Aufbau eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands«. Darin steht: »Wir deutschen Kommunisten erklären, dass auch wir uns schuldig fühlen …« Weil »infolge einer Reihe unserer Fehler« es nicht zur Einheitsfront gekommen war. Diese Ehrlichkeit wollte der Regisseur in den Film aufnehmen. Es gab aber Widerspruch, dazu noch in acht anderen Punkten, Gass konnte bei allen dagegenhalten. Aber dieses Zitat wurde aus den Kopien herausgeschnitten – sonst, so hieß es, würde der Film nicht gezeigt. Karl Gass gab auf. Wer hätte es besser gewusst?
»Das Jahr 1945«, Regie: Karl Gass, DDR 1984, 90 Min.
»Nie wieder Krieg 1945–2025« im Kino Babylon, Berlin-Mitte, noch bis 24.5., nächste Termine (Auswahl): »Der Spiegel« (UdSSR 1975) am 14. und 17.5., »Jahrgang 45« (DDR 1966) am 15. und 18.5.
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