Einfach und wahr
Von Gerhard Hanloser
Margot Friedländer, Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt, ist am Freitag im Alter von 103 Jahren in Berlin gestorben. Nachdem sie 1946 nach New York gezogen war, kehrte sie mit 88 Jahren nach Deutschland zurück – nach Berlin, wo sie 1938 die Pogromnacht miterlebt hatte. Sie kannte den Verrat und die Denunziation. Ihr Bruder wurde von der Gestapo abgeholt, im Januar 1943. Ihre Mutter folgte ihm, wollte ihn nicht alleine lassen. »Versuche, dein Leben zu machen«, ließ die Mutter Margot über Nachbarn ausrichten. Diese händigten ihr auch die Handtasche der Mutter mit deren Adressbuch und einer Bernsteinkette aus. Kleine Gesten der Unterstützung. Bis zuletzt behielt sie diese Erinnerungsstücke.
Ihr Vater, streng religiös und eher deutsch-national eingestellt, mit Eisernem Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet, schätzte die Gefahr, die ihnen als Juden in Deutschland drohte, falsch ein. So ging es vielen bürgerlich und national eingestellten deutschen Juden. Als die Eltern von Margot schließlich doch in die USA auswandern wollten, stellte sich der Vater quer. Überraschend reiste er ohne seine Familie nach Belgien, von dort nach Frankreich. Die Mutter war alleine mit den beiden Kindern. Erst lebten sie in Berlin-Mitte, dann ab 1941 in der Skalitzer Straße 32 in Berlin-Kreuzberg. Als mögliches Fluchtziel tat sich Shanghai auf. Da die beiden Kinder noch nicht volljährig waren, brauchte die Mutter für die Ausreise die Genehmigung des Vaters, von dem sie mittlerweile geschieden war. Er verweigerte sie brieflich. Die Nazis verhafteten ihn schließlich und deportierten ihn nach Auschwitz.
15 Monate konnte Margot, die damals noch den Nachnamen Bendheim trug, bei 16 Berlinern versteckt überleben. Sie hatte sich die Haare rot gefärbt, die Nase verändert. Jüdische Greifer, die mit der Gestapo zusammenarbeiteten, stellten sie schließlich. Bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt musste sie Zwangsarbeit leisten. Sie überlebte als einzige ihrer Familie, später hatte sie Schuldgefühle. Im KZ Theresienstadt traf sie Adolf Friedländer, den sie bereits von ihrer Arbeit als Kostümschneiderin beim Jüdischen Kulturbund kannte. Gemeinsam überlebten sie den Holocaust, heirateten und reisten 1946 per Schiff nach New York, wo sie die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten annahmen.
Ihre Geschichte erzählte Margot Friedländer leise, doch mit großer Präzision. Sie besuchte bis vor kurzem noch Schulklassen und blieb den Schülern dort, vom desinteressiertesten bis zum strebsamsten, in lebhafter Erinnerung. Auch den Lehrern ging es so, vom linken über die obligatorisch grün-liberalen und sozialdemokratischen bis zum konservativen Kollegen. Bei einem Zeitzeugengespräch in einer Neuköllner Schule im Februar 2023 riss man ihr ihre Autobiographie, die sie unter Mithilfe der Schriftstellerin Malin Schwerdtfeger geschrieben und 2008 veröffentlicht hatte, förmlich aus der Hand, jeder wollte ein Selfie machen. Sie sagte: »Ich bin fix und fertig, ich werde alt« – war aber hochzufrieden, glücklich und von der Resonanz bewegt.
Friedländer kam als Anwältin der Menschlichkeit. Sie, die ihren Vater, die Mutter und ihren Bruder in Auschwitz verloren hatte, zog universalistische Lehren aus den Naziverbrechen. »Menschen müssen respektiert werden – ganz egal, welche Religion sie haben«, sagte sie im November 2023 dem WDR. Ihre Botschaft war einfach und wahr: »Wir sind alle gleich! Seid Menschen! Respektiert Menschen!« Besonderes pädagogisches Geschick zeigte sie darin, dass sie neue Generationen zwar zum Handeln herausforderte, aber nie überforderte: »Wir können nicht alle Helden sein, aber wir können wenigstens menschlich sein« – was menschenrechtlich bewegte junge Menschen in besonderer Weise ansprach. Mit Nachdruck betonte sie, dass diejenigen, die direkt Zeugnis über die Nazizeit ablegen können, aussterben. Die jungen Menschen, die sie stets liebevoll betrachtete, müssten nun die Zeitzeugen werden.
Politischer Instrumentalisierung jeder Art entzog sich Friedländer. Als Mahnerin eines politisch interessierten »Nie wieder ist jetzt!« wollte sie nicht benutzt werden. Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Hamas als »die neuen Nazis« bezeichnete, widersprach Friedländer. Sie erklärte, der Holocaust und ihre Erlebnisse seien ihr immer präsent. Die Massaker der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober 2023 kommentierte sie: »Ich werde die Sache nicht los, als ob es gestern wäre. Und natürlich sehe ich nach diesen Morden die Bilder von damals wieder vor mir.« Doch betonte sie, dass wir in anderen Zeiten leben und solche Gleichsetzungen wenig sinnvoll sind.
Im Sommer 2023 gründete sie noch die Margot-Friedländer-Stiftung, die ihr Lebenswerk fortführen soll. Die Stiftung wird auch den Margot-Friedländer-Preis verleihen, der Initiativen von Schülern und Eltern auszeichnet, die sich beispielhaft für Demokratie, Menschlichkeit, Toleranz und die Zukunft der Erinnerung einsetzen.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- © USHMM et YAD VASHEM - Collection SHOAH de Claude Lanzmann19.02.2025
Die Frage der Architektur
- picture-alliance / akg-images27.01.2025
Zwei von sechs Millionen
- Dirk Krüger14.12.2024
Eine Frau verschwindet
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Schaumäker, Lesch, Münch, Krößner, Weigel
vom 14.05.2025 -
Die letzten 128 Tage
vom 14.05.2025 -
Walk away, honey
vom 14.05.2025 -
Rotlicht: Snapback
vom 14.05.2025 -
Nachschlag: Seltene Perspektive
vom 14.05.2025 -
Vorschlag
vom 14.05.2025 -
Veranstaltungen
vom 14.05.2025