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Aus: Ausgabe vom 17.05.2025, Seite 15 / Geschichte
Politische Justiz

Abrechnung in Stammheim

Vor 50 Jahren begann in Stuttgart der Prozess gegen die Gründungsmitglieder der Roten Armee Fraktion
Von Gerhard Hanloser
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Sinnbild der Bundesrepublik. Das Mehrzweckgebäude des Gefängnisses in Stuttgart-Stammheim (5.5.1975)

Der Prozess gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, der am 21. Mai 1975 begann, war deutlich politischer Natur, was um so heftiger von Anklägern und Richtern geleugnet wurde. Bereits die Fahndung nach der Kerngruppe der RAF erfolgte unter Aufbietung aller Kräfte: Eine emotionalisierende Kampfpublizistik trat einer sich im Antiterrorismus formierenden geeinten Politikerklasse zur Seite, die passende Schnellgesetze erließ. Das Urteil war öffentlich längst gesprochen: Die Aktivisten, die angesichts des völkermörderischen Vietnamkriegs einen bewaffneten Kampf »im Herzen der Bestie« (Che Guevara) führen wollten, seien nichts weiter als Mörder und Kriminelle. »Wenn uns an der Aktion der RAF 1972 etwas bedrückt«, so hatte Gudrun Ensslin erklärt, »dann das Missverhältnis zwischen unserem Kopf und unseren Händen und den B-52« – also den Bombern, mit denen die US Air Force bei ihren Flächenbombardements in Vietnam, Laos und Kambodscha mehr als eine Million Zivilisten tötete.

Die Angeklagten entstammten mit Ausnahme der ehemaligen Konkret-Kolumnistin Ulrike Meinhof allesamt der Neuen Linken. Sie versuchten mit Hilfe ihrer Anwälte den Prozess in ein politisches Tribunal zu verwandeln. So sollte beispielsweise Ex-US-Präsident Richard Nixon, der die völkerrechtswidrige Bombardierung Kambodschas angeordnete hatte, vorgeladen werden. Aber der Vorsitzende Richter Theodor Prinzing verhinderte jegliche politische Erörterung – mit allen legalen und extralegalen Mitteln.

Kriegsgefangene

Mit Prinzing, der seine Jugend in der Studentenverbindung Landsmannschaft Ghibellinia Tübingen verbracht hatte, und Baader, dessen Teilnahme an den Schwabinger Krawallen von 1962 ihn in die Außerparlamentarische Opposition (APO) geführt hatten, standen sich zwei antagonistische Generationenfiguren gegenüber. Die Gefangenen und ihre Verteidiger erblickten in Prinzings bieder-autoritärer Prozessführung eine gezielte Strategie und versuchten, ihn wegen Befangenheit abzusetzen, was ihnen ein Vierteljahr vor Ende des insgesamt zwei Jahre dauernden Verfahrens auch gelang. An der prinzipiellen Urteilsfindung änderte dies freilich nichts.

Die Angeklagten wollten für sich den Kriegsgefangenenstatus reklamieren. Sie argumentierten, dass sie sich im bewaffneten Konflikt mit der Bundesrepublik Deutschland befänden, die als militärischer und ideologischer Vorposten des US-amerikanischen Imperialismus agiere. Dieser Konflikt sei Teil eines weltweiten antiimperialistischen Befreiungskampfes, der unter anderem von der palästinensischen PLO, dem »Vietcong«, der FRELIMO in Mosambique, dem südafrikanischen ANC und anderen revolutionären Bewegungen geführt werde. Mit dieser Prozessstrategie bezogen sie sich auf die Genfer Konvention von 1949, wonach gemäß Artikel 4, Absatz 2 Mitglieder von Milizen, Freiwilligenkorps und organisierten Widerstandsgruppen, die gegen eine reguläre Armee kämpfen und gewisse Mindestanforderungen erfüllen (einheitliche Führung, offener Kampf, Tragen von Waffen), als Kriegsgefangene zu behandeln seien. Die Bundesrepublik Deutschland sei als Vertragsstaat der Genfer Konvention völkerrechtlich verpflichtet, die dort genannten Kategorien auch auf nichtstaatliche Akteure anzuwenden, wenn diese – wie im vorliegenden Fall – im Rahmen eines organisierten bewaffneten Konflikts agieren. »Die RAF«, so erklärte Andreas Baader, »ist nicht justitiabel.«

Natürlich konnte und wollte das Gericht dieser Argumentation nicht folgen. Es begnügte sich aber bei weitem nicht damit, im Rahmen eigener bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit zu verbleiben. Rechtsanwalt Otto Schily kommentierte das richterliche Vorgehen wie folgt: »Was hier in diesem Verfahren stattfindet, kann man nicht anders benennen als die systematische Zerstörung aller rechtsstaatlichen Garantien. Insofern hat das Verfahren für den Zustand dieser Republik seine exemplarische Bedeutung.« Dies zeigte sich bereits darin, dass es sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland um den ersten Strafprozess handelte, der in einem eigens auf dem Gelände des Hochsicherheitsgefängnisses Stuttgart-Stammheim gebauten Saal stattfand. Der Gerichtssaal war fensterlos, die Wände aus Beton. 400 bewaffnete Polizisten sicherten das Gebäude, über dessen Dach ein Stahlnetz geworfen war, um eine Befreiung der Gefangenen mit Hubschraubern zu unterbinden.

»Stammheimer Landrecht«

Der gesamte Prozess war gekennzeichnet von einer systematischen Unterbindung anwaltlicher Arbeit. Gegen Klaus Croissant, Kurt Groenewold und Christian Ströbele ergingen Verteidigerausschlüsse. Ehrengerichts- und Strafverfahren kamen dazu. Rupert von Plottnitz als Verteidiger Jan-Carl Raspes kommentierte, dass die Praxis der Ausschlüsse aus dem Verfahren, die bald nicht nur für Anwälte, sondern auch für die Angeklagten gelten sollte, eine »eigenmächtige Interpretation unter Umgehung der Gesetzgebungsinitiative« darstelle; »frei geschöpftes Stammheimer Landrecht«, so erklärte er, breche Bundesrecht. Später kam auch heraus, dass vertrauliche Gespräche zwischen Verteidigern und Angeklagten über Wanzen im Besucherraum der Gefängnisse heimlich abgehört, auf Tonband aufgenommen und den Staatsschutzbehörden überlassen wurden.

Ein Skandal, der von Anfang an das Verfahren begleitete, stellte die Isolationshaft dar, der die Angeklagten unterworfen waren. Sogar der Gefängnisarzt musste zugeben, dass die Haftbedingungen zu schweren Gesundheitsschäden führen könnten. Unabhängige Ärzte bestätigten dies. Doch die Forderung nach Prüfung der Verhandlungsfähigkeit wurde von seiten der Richter wiederholt abgeschmettert. Holger Meins, ursprünglich der fünfte Angeklagte, war vor Prozessbeginn bei einem Hungerstreik gegen die Haftbedingungen durch gezielte Vernachlässigung durch die Justiz umgebracht worden.

Hauptbelastungszeuge war ein labiles Mitglied der RAF. Gerhard Müller war erpressbar, weil die Beweislage bei einem Polizistenmord gegen ihn erdrückend schien. Sein Geständnis wurde unter Verschluss genommen, um ihm eine Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu ersparen, falls er umfassend aussagte – eine förmliche Kronzeugenregelung gab es seinerzeit noch nicht. Müllers mehr als fragwürdige Aussagen waren die wichtigste Stütze der Anklage. Er wurde 1976 zu zehn Jahren Haft verurteilt und nach sechseinhalb Jahren im Februar 1979 vorzeitig entlassen. Durch die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm bekam er eine neue Identität.

Das Urteil – lebenslänglich – verkündeten die Richter am 28. April 1977 den verbliebenen drei Angeklagten, denn Ulrike Meinhof kam am 9. Mai 1976 im Gefängnis unter ungeklärten Umständen um. Rechtskräftig wurde das Urteil nie, denn im Herbst 1977 nahmen sich die letzten drei Angeklagten im überwachten Hochsicherheitstrakt das Leben – so zumindest die offizielle Lesart, die von vielen Linken bis heute bezweifelt wird. Befreiungsversuche wie 1975 durch die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm und die Entführung von Hanns-Martin Schleyer 1977 durch neue RAF-Kommandos waren gescheitert.

Bornierte Institutionen

»Die Bundesanwaltschaft und das Gericht sind nicht intelligent genug, im Objekt ihrer Vernichtungsmaßnahmen auch das Opfer zu sehen. Die Bundesanwaltschaft und das Gericht sehen nur den Feind, den sie erschlagen wollen. Darin zeigt sich auch die grundsätzlich andere Bestimmung unseres Kampfes. Wir können im Faschisten auch das Objekt seiner Umstände sehen und seines Apparats und d. h., es ist nicht daran vorbeizukommen bei der Niveaulosigkeit der Behörde, die mangelnde Intelligenz. Es sind nicht wir, die den Fanatismus nötig haben, sondern Bundesanwaltschaft und Gericht sind fanatisch. Es ist aber auch klar, als Schaltstelle des innerstaatlichen Faschisierungspozesses zwischen den verschiedenen Institutionen, die ihn vorantreiben, wächst mit der Macht, die sie sich verschafft, die Borniertheit der Institution, bzw. auf der personellen Ebene der Bundesanwälte nimmt mit der Arroganz ihres öffentlichen Auftritts ihre Intelligenz rapide ab.«

Ulrike Meinhof am 30. Juli 1975 vor Gericht. Aus: Ulf G. Stuberger (Hg.): »In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes u. a.«. Dokumente aus dem Prozess. Frankfurt am Main 1977

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