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Aus: Ausgabe vom 12.05.2025, Seite 12 / Thema
Theatergeschichte

Die »Chineserin«

Der Weg zur asiatischen Grazie. Vor 125 Jahren wurde die Schauspielerin und Intendantin Helene Weigel geboren
Von Sabine Kebir
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In asiatischer Tradition – Helene Weigel (1900–1971) in der Rolle der Gouverneursfrau in Brechts »Der Kaukasische Kreidekreis« (Berliner Ensemble, 7.10.1954)

Anders als berühmte Filmschauspieler hinterlassen Koryphäen des Theaters nach dem Tod vor allem unbewegte Bilder, die ihre Kunst nur erahnen lassen. Daher werden sie im kollektiven Gedächtnis meist schnell vergessen. Bei der am 12. Mai 1900 geborenen Helene Weigel ist das nicht der Fall, weil sie als Ehefrau Bertolt Brechts bekannt bleibt, die nicht nur seine Untreue ertrug, sondern ihm auch aufopferungsvoll den Haushalt führte. Aber beides stimmt nur teilweise, denn die Weigel führte ab ihrem 17. Lebensjahr ein emanzipiertes erotisches Leben und beschäftigte schon seit der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes bis in die Zeit des schwedischen Exils Kinder- und Haushaltshilfen. Anders hätte sie sich auch trotz ihres außergewöhnlichen Talents kaum zu einer der bedeutendsten Theaterdarstellerinnen des 20. Jahrhunderts entwickeln können.

Ohne eine Schauspielschule besucht zu haben, begann die junge Wienerin bereits mit 17 Jahren eine Blitzkarriere. Mit 19 spielte sie am Frankfurter Schauspielhaus die Marie in Büchners »Woyzeck«: »Ohne die volle Sicherheit des Fertigen strömte sie Gefühl aus und Wärme, erregte sich zur Wildheit und vergaß sich. Ein wahres Temperament.« Ein anderer Kritiker lobte »die derb-naturalistische Wiedergabe der Marie durch Helene Weigel (…), die in ihrer ausgezeichneten Mimik und der Festhaltung ihres harten Sprachtones von bewusster Eigenart getragen war«.¹

Ungewöhnliche Auftritte

1922 wurde sie ans Staatliche Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt engagiert. Dort und auf anderen Bühnen spielte sie zunächst kleine Rollen, erregte aber durch ungewöhnliche Auftritte Aufsehen. Über ihre Gänsemagd in Nestroys »Titus« wurde geschrieben, sie sei »dialektecht und derb, wenn auch sehr lärmend wie alles, was diese erschreckend explosive Schauspielerin macht«. Und als Latkina in »Sonkin und der Haupttreffer« von Semjon Juschkievicz spielte sie sich als »rabiate, mit allen Mitteln operierende Bittstellerin eigenartig ins Gedächtnis«.²

Die Weigel begann als Charakterdarstellerin, die naturalistische und expressionistische Spielweisen anbot und daher in die symbolistischen frühen Stücke Brechts, mit dem sie seit 1923 liiert war, gar nicht passte. Später bestätigte sie, dass sie ihn zunächst mehr als Frau und weniger als Schauspielerin interessiert habe. Aber er unterstützte sie bald beim Einstudieren von Rollen. Wahrscheinlich geht es auf seinen Einfluss zurück, dass sie mehr und mehr auch mit leisem und sogar stillem Spiel beeindruckte. 1925, in Luigi Pirandellos Stück »Das Leben, das ich dir gab«, stellte sie eine stumme Amme dar. »Herrlich schließlich, wie Helene Weigel als alte Amme durch das Stück schlich, schief, schmal, schrägen Kopfes, lautlos daherschlurfend.« Und: »Ihr Aussehen, ihre Stummheit sind zwingend beredt. Ihr Wort ist kaum verständlich.«³

Den endgültigen Durchbruch hatte sie 1925 als Klara in Hebbels »Maria Magdalena«: »Im Bildhaften wird die Weigel am stärksten, wenn sie den Schnitt der Barlach-Figuren hat, deren schwere Körperbeuge, jene unwiderrufliches Elend bezeugende Knickung des Leibes, die Last des Draußen und die Not des Innen in einem zentralen Schmerz zu erfahren scheint.«⁴ Nicht nur korrespondierte die Spielhaltung der Weigel mit den Haltungen von Barlach-Figuren. Sie inspirierte sich sicher auch an den Plastiken von Käthe Kollwitz, mit der sie befreundet war und deren soziales Engagement sie teilte. Ab 1927 spielte und sang sie auch auf Arbeiterbühnen und in Arbeiterkneipen, was ihr einmal sogar eine Verhaftung durch die Polizei einbrachte. 1928 spielte sie erstmalig eine Rolle, die Brecht ihr auf den Leib geschrieben hatte: die Witwe Begbick in »Mann ist Mann« unter der Regie von Erich Engel. 1930 folgte die Agitatorin in »Die Maßnahme«.

1929 hatte Elisabeth Hauptmann Brecht mit den alten No-Stücken des Japaners Seami und dessen Schriften zur Schauspielkunst bekannt gemacht. Eine erste, daher stammende Anregung war der Rat an Helene Weigel, sich das Gesicht für die Rolle der Magd im »Ödipus« des Sophokles weiß zu schminken.

Die Schauspielkunst beruhe, so Seami, auf »Imitation«, wofür die Identifikation mit äußerlichen Merkmalen einer Figur nicht entscheidend ist. Das Wesen der Imitation sei »Unähnlichkeit. Es sollen keine Knaben Knabenrollen und keine Greise Greisenrollen spielen, denn nur ein Knabe kann gut einen Greis imitieren, aber ein Greis kann keinen Greis imitieren.«⁵ Über Weigels Magd im »Ödipus« schrieb Brecht, dass sie sich nicht mit der Figur identifiziert, sondern sich vielmehr auf das Hinweisen, auf das Schildern eines schrecklichen Vorgangs konzentriert habe, was eine große Wirkung einer eigentlich kleinen Szene hervorgerufen habe. »Spirituell. Zeremoniell. Rituell.« sollen die großen Vorgänge auf der Bühne wirken, schrieb er. »Nicht nahe kommen sollten sich Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selbst entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist. (…) Wenn ich den dritten Richard sehen will, will ich mich nicht als dritter Richard fühlen, sondern ich will dieses Phänomen in seiner ganzen Fremdheit und Unverständlichkeit erblicken.«⁶

Sozialer Gestus und Subjektivität

An der asiatischen Schauspielkunst faszinierte Brecht, dass ihre Technik die konzentrierte Darstellung sozialer Kodifizierungen ermöglichte. Wenn der Darsteller weniger individuelle Details und Besonderheiten der Figur betont, entsteht die Möglichkeit, dass er die tiefere soziale Dramatik – das kollektive Unbewusste im Sinne Foucaults, das den Dargestellten prägt, eventuell sogar beherrscht – deutlicher machen kann. Der amerikanische Brecht-Forscher Antony Tatlow hob hervor, dass durch diese Techniken des asiatischen Theaters die Individualität des Dargestellten keineswegs geopfert wird, sondern vielmehr besonders stark zum Ausdruck kommen kann. So sei die permanente Unterdrückung der chinesischen Frau nur durch diese Techniken öffentlich sichtbar geworden. Diese Darstellungsform sei in Asien überhaupt nur erfunden worden, um mit solcherart Zwängen leben zu können: Lyrische Momente der Darstellung seien dort als »Arien des Unbewussten« zu verstehen, da »das gesellschaftlich notwendige Aufrechterhalten einer Repression in der theatralischen Vorstellung gewissermaßen öffentlich versagt und man dadurch plötzlich einen sonst verbotenen Einblick bekommt in die Stärke der verdrängten Gefühle und in die Macht der sie unterdrückenden gesellschaftlichen Gefühle«.⁷

Brecht und Weigel haben asiatische Theatertechniken nicht nur zur Aufdeckung von Tabuisiertem genutzt, sondern in einem allgemeineren Sinn für die Aufdeckung von Unausgesprochenem und/oder für das, was für die dargestellte Figur selbst unsagbar ist. Laut Elisabeth Hauptmann gab es in Seamis Schriften den Begriff des »Jugen«, der ursprünglich von den Sen-Mönchen stamme und »das Dunkle« bedeute, »das, was unter der Oberfläche liegt, das Symbol von Jugen ist ein weißer Vogel mit einer Blume im Schnabel. Die Schauspieler, von denen es heißt, das Jugen ihrer Kunst war groß, waren wahrhaft große Schauspieler.«⁸

Im Oktober 1930 und im Januar 1931 hatte Brecht zum ersten Mal japanische Schauspieler auf der Bühne gesehen, was maßgeblich seine Inszenierung von »Mann ist Mann« 1931 beeinflusste, in der Weigel wieder als Begbick auftrat. Die Figuren waren grotesk maskiert, ihr sozialer Gestus stark herausgestrichen. Im Gegensatz zu Engels Inszenierung von 1928, in der die Figuren »einander zugewandt« waren, steht nun »jeder statuarisch für sich, verkörpert nicht nur ein Individuum, sondern auch eine Verinnerlichung von gesellschaftlichen Verhältnissen«.⁹ Wie Brecht in seinem Fragment »Über die japanische Schauspieltechnik« von 1930/31 betonte, ging es nicht um dogmatische Anverwandlung, sondern um Übernahme einzelner Elemente, die für sein episches Theater funktional werden konnten.

1932 bekommt die Zusammenarbeit von Brecht und Weigel eine neue Qualität, weil sie nun ebenfalls Einfluss auf den »Stil« des Dramatikers auszuüben beginnt. Bei der Inszenierung von Maxim Gorkis »Die Mutter« kombiniert sie ihre Fähigkeit als Charakterdarstellerin mit der erzählenden »epischen« Spielweise, und Brechts Dramatik lässt den Symbolismus hinter sich – zugunsten eines dialektischen sozialistischen Realismus.

Faschismus und Exil setzten dem öffentlichen Wirken der Schauspielerin Weigel ein jähes Ende. Aber die künstlerische Symbiose mit Brecht entwickelte sich weiter – was auf Fotos sichtbar ist, die von den wenigen Auftritten, die sie in den zwölf Jahren hatte, überliefert sind. Um 1935 kam es zu einer großen Wende, durch die sie als eine ganz andere Schauspielerin nach Deutschland zurückkehrte, als sie es vor dem Exil gewesen war. Durch die intensive Aneignung von Spielformen des asiatischen Theaters verfügte Weigel bald über ein Alleinstellungsmerkmal auf der europäischen Bühne.

Nachdem Brecht 1935 in Moskau den chinesischen Schauspieler Mei Lan-Fang gesehen hatte, beschäftigten sie sich beide erneut mit asiatischer Schauspieltechnik. Davon zeugen die Fotos der Pariser »Carrar«-Aufführung 1937 und die Gedichte, mit denen Brecht Weigels Spiel beschrieb. Brecht konstatiert eine Dialektik zwischen der Reduktion des Dargestellten und dessen Vielschichtigkeit: »Wiewohl sie alles zeigte / Was nötig war, eine Fischersfrau / Zu verstehen, verwandelte sie sich doch nicht restlos / In diese Fischersfrau, sondern spielte / So, als sei sie außerdem noch beschäftigt mit Nachdenken / Gleichsam, als fragte sie stets: Wie war es doch? / Wenngleich man nicht immer / Ihre eigenen Gedanken über die Fischersfrau / Erraten konnte, so zeigte sie doch / Dass sie solche dachte, und lud so ein / Solche zu denken.« (BFA 14, 372)

Das Gedicht verweist nicht nur hinsichtlich der Nichtidentifikation mit der Rolle auch wieder auf Seami. Diesem zufolge urteilen Zuschauer gelegentlich: »Gerade da, als der Schauspieler (scheinbar; S. K.) gar nicht spielte, war er besonders fesselnd!« Der Grund dafür liege »in der inneren Haltung des Schauspielers, der ohne die kleinste Nachlässigkeit das einzelne Tun durch die Kraft seines Herzens miteinander verknüpft.«¹⁰ Die »Kraft des Herzens« ist im asiatischen Kontext durchaus mit einer gehörigen Dosis Vernunft versehen. Zur Vielschichtigkeit des Spiels gehörte für Seami eben auch die Einbeziehung der Subjektivität des Schauspielers, wodurch jene Komplexität der Darstellung erreicht wird, die den Zuschauer fesselt: »Im Noh hat man auf tausend Dinge zu achten. Man darf etwa bei der Darstellung eines Erzürnten nicht vergessen, ein weiches Herz zu bewahren. Das ist der Weg, auch bei heftigem Zorn nicht in die Rohheit abzugleiten. Im Zorn noch ein weiches Herz zu besitzen, ist die Voraussetzung dafür, dass der Reiz des überraschend Neuen entsteht.«¹¹

Das Vorzeigen der Subjektivität des Schauspielers, der seine kritische Distanz zum Dargestellten zum Ausdruck bringt, behandeln folgende, auch die Carrar-Rolle der Weigel betreffenden Verse: »So ist mein Geist abwesend, was ich zu machen habe / Mache ich auswendig, mein Verstand / Geht ordnend dazwischen herum.« (BFA 14, 376)

Auch hier lässt sich eine Parallele zu Seami erkennen. Wenn sich der Schauspieler an die Vernunft wende, vermeide er »alles, was lebhafte Bewegung verlangt« und sein Spiel werde zu einer »Art fast mechanischer Vorführung«.¹²

Mit geradem Rücken

Schon die von ihr in Berlin gespielte Magd im »Ödipus« und auch die »Mutter« von 1932 hatten bei einigen Kritikern den Eindruck einer »ritualisierten« Spielweise erzeugt. Dass die Weigel bei ihrer Carrar-Darstellung von 1937 noch weit mehr stilisiert war, offenbaren die Fotos von Josef Breitenbach. Wenn man sie mit den Fotos der »Mutter«-Inszenierung von 1932 vergleicht, fällt auf, dass die Weigel nicht nur im Stehen, sondern auch im Sitzen, Knien und Beugen nie mehr einen runden Rücken präsentierte, der im europäischen Theater ein Mittel ist, betagte Menschen darzustellen und den man auch noch 1932 bei Weigel als Mutter gesehen hatte. Nun zeigt sie einen auffallend geraden Rücken, wie er im asiatischen Theater üblich ist. Haltungen dieser Darstellungsart, die zweifellos auf Anregungen des Mei-Lan-Fang-Erlebnisses Brechts zurückgingen, muss sie sich damals antrainiert haben. Bei ihrem einzigen, wegen Anwesenheit vieler dänischer Intellektueller aber triumphalen Carrar-Auftritt in Kopenhagen, fiel dem Kritiker Frederik Martner auf, dass sie beim Drehen des Kopfes anstatt nur diesen, den ganzen Oberkörper mitgedreht hatte, um über die Schulter zu sehen.¹³ Auch diese »auffällige« Bewegung kam aus dem asiatischen Theater.

Die frühen Carrar-Aufführungen sind jedoch auch berühmt wegen ihrer realistischen Details wie das von der Weigel den Fischern in Skovsbostrand abgeschaute Netzknüpfen und die mittelmeerische Art des Teigknetens auf dem Fußboden. Aber ihre Wirkungskraft erzielten sie auch durch die für europäische Augen befremdliche bzw. verfremdende Körpersprache, die dem Spiel eine unverwechselbare persönliche Grazie verliehen.

Dass Brecht Helene Weigel zwei Jahre zuvor von Mei Lan-Fang nicht nur berichtet, sondern manches vorgespielt haben wird, kann als sicher gelten. An Beständen ihrer Nachlassbibliothek ist zu erkennen, dass sie sich auch selbst mit den ihr zugänglichen Schriften über den Chinesen befasst hat. Während sich in Brechts Bibliothek nur das russische Programmheft des Moskauer Gastspiels befindet, verfügte die Weigel auch über zwei in China herausgegebene Publikationen zu Mei Lan-Fang in englischer Sprache, die sie, seit sie im US-Exil lebte, auch lesen konnte. Eines ist ein speziell für das Moskauer Gastspiel zusammengestelltes Büchlein, ein zweites enthält Artikel und Kritiken der Auftritte Mei Lan-Fangs 1930 in New York, Chicago und San Francisco.¹⁴ In den amerikanischen Artikeln und Kritiken von Stark Young, die ihr Margarete Steffin schon 1935 übersetzt haben wird, sind Elemente zu erkennen, die die Weigel von Mei Lan-Fangs Körpersprache übernommen hat: »Mei Lan-Fang ist mittelgroß, schlank, mit sicheren, eng anliegenden Muskeln, kleinen, geschmeidigen Handgelenken, einer hervorragend gestützten Taille, aus der die feinen Bewegungen und Gesten des Oberkörpers hervorgehen – einer bemerkenswerten Kontrolle des Halses und einer perfekten Haltung und Federung der Knöchel.«¹⁵

In weiteren Charakterisierungen Mei Lan-Fangs sind Elemente wiederzuerkennen, die von nun an immer stärker auch Weigels Spiel bestimmen: »Die Bewegungen sind fließend, aber präzise, ​die Wirkung in jeder Bewegung kalkuliert.« Und: »Ein großer Schauspieler kann mit einer Geste ausdrücken, was sonst viele Bewegungen erfordern würde.«¹⁶

An der Westküste der USA, wo Weigel und Brecht von 1941 bis 1948 lebten, gab es nicht nur einen asiatischen Bevölkerungsanteil, sondern auch asiatische Theateraufführungen. Tochter Barbara erinnerte sich an den Besuch einer chinesischen Inszenierung in San Francisco. Brechts »Journal« bezeugt ab 1943 eine längere Freundschaft mit dem chinesischen Schauspieler Tsiang. Er »demonstriert mir und Helli einiges. Er zeigt, wie die Chinesen, einen Stock als Gewehr hantierend, einfach den Stock für ein Symbol des Gewehrs nehmen.« (BFA 28, 156)

Comeback in Chur

Dass die Weigel bei ihren täglichen Körperübungen im Exil ihre asiatische Körpersprache weiter entwickelt hatte, zeigen Fotos ihres ersten Auftritts auf einer europäischen Bühne, als sie 1948 in Chur die Rolle der Antigone spielte, für die sie eigentlich zu alt war. Das risikoreiche Comeback gelang, weil sie einen besonderen Stil vorführte, den man bei einer europäischen Darstellerin noch nie gesehen hatte. Oft spielte sie dem Publikum frontal zugewandt und immer in aufrechter Haltung. Selbst im verzweifelten Zusammenbrechen fiel sie nicht nach vorn, sondern knickte nur die Hüfte ein.

Auch ihr Kostüm, von dem man einen griechischen Faltenwurf erwartet hätte, sorgte für einen »asiatischen« Ausdruck. Sie trug ein grünseidenes »knöchellanges, eng geschnittenes Kostüm, dem Schnitt japanischer Kleider nachempfunden«.¹⁷ Valeria Steinmann, die damals die Botin spielte, bezeugte für Brechts Regie: »Es hatte viel vom japanischen Theater, wie er es gemacht hat. Ich wurde an meine Zeit an der Schauspielschule erinnert, wo wir einige Wochen japanisches Theater studiert hatten.«¹⁸

Helene Weigels triumphaler Einzug ins Nachkriegsberlin als Mutter Courage zeigte Episches und Realistisches, eher wenig Asiatisches. Dahinter stand wohl die Überlegung, dass man das Publikum, das zu bildende Ensemble und die Kulturbürokratie nicht überfordern, sondern eher an die Charakterdarstellerin Weigel der 1920er und frühen 1930er Jahre erinnern wollte. Aber auf einem Foto, das gern dem entsprechenden Szenenfoto mit Therese Giehse gegenübergestellt wird, ist die phänomenale Gelenkigkeit der Weigel zu erkennen: ihr gerader Rücken, als sie sich im 90-Grad-Winkel beugte, um das Totentuch über ihren Sohn zu ziehen.

Asiatische Besonderheiten wurden zum sichtbaren Unterschied ihrer Darstellung von Gorkis »Mutter« zwischen 1932 und 1951. Bei ihrer Carrar von 1952 traten sie noch deutlicher als 1937 hervor. Sie nahm sie zurück als Frau Grossmann in Erwin Strittmatters »Katzgraben« und wohl auch als Wassilissa in Ostrowskis »Ziehtocher« und später als Frau Flinz im gleichnamigen Stück Helmut Baierls.

Prachtvoll ausspielen konnte die Weigel ihre asiatischen Fähigkeiten jedoch als Gouverneursfrau im »Kaukasischen Kreidekreis«. Der starke Kontrast ihres Spiels im Verhältnis zur Grusche von Angelika Hurwicz und allen anderen Mitwirkenden ist mit dem Begriff der Herrscherinnenpose nur ungenügend erfasst, er beruht auch auf starker gestischer Annäherung an die asiatische Theatertradition. Man sah sie auch bei ihrer Volumnia in »Coriolan«. In beiden Rollen, die negative gesellschaftliche Haltungen erfassen, erzeugte die Weigel »asiatische« Anmut und Grazie. Sie zeigte das, was Seami die »Verknüpfungen« genannt hatte, die die »Kraft des Herzens« bewerkstelligen kann, wenn es weich bleibt, gerade auch bei der Darstellung negativer Figuren. Joachim Tenschert erinnerte sich, dass Helene Weigel zunächst große Schwierigkeiten hatte, die ihr sehr unsympathische Heldenmutter Volumnia zu gestalten: »Im Grunde genommen hat sie gegen sich gespielt, (…) musste sie in die Figur viel mehr Sympathisches einbringen, viel mehr Positiv-Qualitatives, viel mehr um Verständnis-Suchendes einbringen, (…) ein richtiges dialektisches Verfahren.« Sie erreichte das, indem sie der Figur Grazie und Charme verlieh durch einfache, aber auffällige Gesten und ihren berühmten Gang. Diesen hatte sie freilich nicht aus Asien entlehnt, sondern angeblich von Mae West.¹⁹

Nur wenige errieten etwas von diesem Berufsgeheimnis der Helene Weigel. Die Giehse nannte sie manchmal liebevoll »Chineserin«. Der polnische Kritiker Leon Schiller verglich sie 1954 mit der berühmten japanischen Darstellerin Sada Jakko. Und Stefan Brecht, der seinem Vater 1955 einen japanischen Bildband mit No-Masken schenkte, hinterließ im inneren Rückumschlag bezüglich der Maske Nr. 88 handschriftlich die Frage: »Hellis Schmerz bei Verlust des ehrlichen Sohnes in Mutter Courage?«

Anmerkungen

1 Frankfurter Zeitung, 17.9.1919 u. Generalanzeiger, 17.9.1919

2 BZ am Mittag, 17.11.1923 u. Hallische Nachrichten, 10.11.1923

3 Fritz Engel: Berliner Tageblatt, o. D. (Helene Weigel-Archiv, HWA, Akademie der Künste) u. Herbert Ihering, Berliner Börsen-Courier, o. D. (HWA 29)

4 Börsen-Courier, o. D. (HWA 29)

5 Elisabeth Hauptmann: Die Rollen des Schauspielers Seami. (Hörspiel, 1931). In: dies.: Romeo ohne Julia. Geschichten, Stücke, Aufsätze, Erinnerungen. Berlin 1977, S. 146

6 Bertolt Brecht: Dialog über Schauspielkunst. In: ders.: Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21, S. 280 f. (im folgenden mit der Sigle BFA im Text belegt)

7 Antony Tatlow: Brechts Ostasien. Ein Parallog. Hg. v. Literatur­forum im Brecht-Haus. Berlin 1998, S. 28

8 Hauptmann: Rollen des Schauspielers (Anm. 5), S. 148

9 Tatlow: Brechts Ostasien (Anm. 7), S. 22

10 Yugaku-Shudo-Kempu-Sho: Das Erlernen und die Aufführung der Verknüpfungskunst. In: Seami: Die geheime Überlieferung des NO. Aufgezeichnet von Meister Seami. Frankfurt/M. 1986, S. 107

11 Ebd., S. 83

12 Hauptmann: Rollen des Schauspielers (Anm. 5), S. 148

13 Frederik Martner im Gespräch mit Matthias Braun, 2.4.1979 (HWA, FH14)

14 Performances of Mei Lan-Fang in Soviet Russia. o. O. 1935 u. Mai Lan-Fang in America. Reviews & Criticisms. o. O. 1935

15 Stark Young: Mei Lan-Fang and his company in repertory, The New Republic (1930), Nr. 5, S. 6

16 Stark Young: Mei Lan-Fangs Programm, The New Republic, March 1930, S. 26 u. E. V. Wyatt: Dramatic Rhythms and Mei Lan-Fang, Catholic World, April 1930, S. 27

17 Christine Tretow: Caspar Neher: Graue Eminenz hinter der Brecht-Gardine und den Kulissen des modernen Musiktheaters. Eine Werkbiographie. Trier 2003, S. 375. Eigentlich handelte sich nicht um ein japanisch, sondern chinesisch geschnittenes Kleid.

18 Helene Weigel 100. Das Brecht-Jahrbuch 25. Hg. v. Judith Wilke u. Maarten van Dijk. Ontario 2000, S. 222

19 Joachim Tenschert im Gespräch mit Matthias Braun, 22.11.1983, HWA FH 66 u. ders. im Gespräch mit Matthias Braun, 11.7.1983, HWA FH 63

Weiterführende Literatur: Sabine Kebir: Abstieg in den Ruhm. Helene Weigel. Eine Biographie. Berlin 2000

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. März 2025 über die Geschlechterpolitik von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit: Heftig umkämpft.

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