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Aus: Ausgabe vom 10.05.2025, Seite 15 / Geschichte
Befreiung 1945

Auf eigene Faust

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das unbesetzte Gebiet um Schwarzenberg für kurze Zeit selbstverwaltet
Von Gerd Bedszent
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Schwarzenberg hatte schon immer eine lebhafte Arbeiterbewegung: Demo am 1. Mai 1932 auf dem Marktplatz

Als Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa datiert nach allgemeinem Verständnis der 8. Mai 1945. Tatsächlich tobten in verschiedenen Regionen danach noch Kämpfe – bis es den Alliierten gelang, auch die letzten Reste des Naziregimes zu beseitigen. Großadmiral Karl Dönitz, nach Hitlers Selbstmord dessen Nachfolger, hatte den noch kampffähigen Truppen des Regimes befohlen, sich nach Westen zurückzuziehen und sich keinesfalls sowjetischen Truppen zu ergeben.

Eine Episode aus dieser Zeit verdient auch heute noch besondere Beachtung: Im Westen Sachsens, südlich von Chemnitz, blieb ein Landkreis zuzüglich einiger umliegender Gebiete längere Zeit unbesetzt. Die Gründe dafür sind bis heute unklar. Gemäß Vereinbarung mit der sowjetischen Militärführung hätte der Landkreis Schwarzenberg von US-Truppen besetzt werden müssen, was diese aber nicht taten. Am 13. April 1945 hatten die US-Einheiten in Sachsen den Befehl erhalten, ihren Vormarsch einzustellen. Mehrere Orte, die von ihnen bereits besetzt waren, wurden nach wenigen Tagen wieder geräumt. Die sowjetischen Truppen waren an der vereinbarten Demarkationslinie stehengeblieben.

Ein Gebiet von etwa 1.500 bis 2.000 Quadratkilometern mit geschätzt 500.000 Einwohnern (darunter zahlreiche Flüchtlinge) wurde vorübergehend zum Niemandsland, eingeschlossen von der 12. US-Armee im Westen und Norden, den Sowjettruppen der 1. Ukrainischen Front im Osten und der tschechoslowakischen Grenze im Süden.

Antifapolizei

Der amtierende Landrat Friedrich Hänichen fragte bei der bereits in Auflösung begriffenen sächsischen Landesregierung nach Direktiven, wie er mit der Situation umgehen solle, und erhielt als Antwort, dass er nach eigenem Ermessen handeln könne. Dies erwies sich jedoch als schwierig. Die Bergbauregion im westlichen Erzgebirge verfügte nur über geringe landwirtschaftliche Nutzflächen und die Bewohner konnten sich nicht selbst ernähren. Zudem durchzogen Reste von Wehrmachts- und SS-Verbänden in dieser Zeit marodierend den Landkreis. Kolonnen von KZ-Häftlingen wurden auf Todesmärschen hin- und hergetrieben.

Hänichen entfernte als erstes aktive Mitglieder der Nazipartei aus seiner Behörde. Zeitgleich schritten Überlebende des politischen Untergrunds zur Tat. Bereits am 9. Mai konstituierte sich in der Ortschaft Bermsgrün ein Antifaschistischer Aktionsausschuss. Am 11. Mai entschloss sich in der Kreishauptstadt Schwarzenberg eine Gruppe von Kommunisten und Sozialdemokraten zur Machtübernahme. Noch am selben Tag besetzten bewaffnete Arbeiter das Rathaus, entwaffneten Polizei und Bürgerwehr und zwangen den Bürgermeister Ernst Rietzsch (Mitglied der Nazipartei) zum Rücktritt. Der ehemalige kommunistische Stadtrat Willy Irmisch wurde vom Landrat zum provisorischen Bürgermeister ernannt, der politische Machtwechsel somit legalisiert. Der Kommunist Paul Korb wurde Leiter einer neugebildeten Antifapolizei.

Ähnliches wiederholte sich in den Folgetagen in Aue, Stollberg und anderen Gemeinden des unbesetzten Gebietes, wobei die neugebildeten Antifaschistischen Aktionsausschüsse politisch sehr heterogen zusammengesetzt waren. Kommunisten und Sozialdemokraten dominierten, arbeiteten aber auch mit bürgerlichen Antifaschisten zusammen. Unter den Nazis verbotene und aufgelöste Parteien sowie Gewerkschaften konstituierten sich neu – am 3. Juni 1945 hielt beispielsweise die KPD-Ortsgruppe Schwarzenberg ihre erste Mitgliederversammlung ab.

Die Antifapolizei verhaftete mehrere örtliche Nazifunktionäre, darunter den Leiter der Gestapo und den Ortsgruppenleiter der NSDAP. Noch existierende Wehrmachtsdienststellen sowie ein Werwolf-Lager der Hitlerjugend wurden in der Folge aufgelöst, Truppen entwaffnet und eine rudimentäre Versorgung der Bevölkerung mit dem Allernotwendigsten organisiert. Bei der Suche nach bisher unentdeckten Vorratslagern kam es zu Zusammenstößen zwischen der Antifapolizei und Trupps von Wehrmachtssoldaten und SS-Leuten, die sich immer noch in Gebirgsdörfern verschanzt hielten. Bitten um Unterstützung an die Besatzungsmächte blieben wegen des ungeklärten Status der Region zunächst unerwidert.

Rasche Abwicklung

Die Konstituierung Antifaschistischer Aktionsausschüsse war im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus nichts Ungewöhnliches. Diese Ausschüsse gingen nach Beseitigung des allerschlimmsten Nachkriegschaos entweder von selbst in den neugeschaffenen Verwaltungsapparaten auf oder sie wurden von den Alliierten zwangsweise aufgelöst. Das Besondere im Landkreis Schwarzenberg bestand darin, dass die Antifaschisten zunächst ohne Rückendeckung einer Besatzungsmacht agieren und mit den Resten der Naziherrschaft aufräumen mussten.

Eine »freie Republik Schwarzenberg«, wie sie noch ab und zu durch die Medien geistert, gab es allerdings nie. Die Aktionsausschüsse der einzelnen Städte und Dörfer agierten zunächst weitgehend unabhängig voneinander. Am 26. Mai wurde zwar ein gemeinsamer »Bezirksaktionsausschuss« gegründet; dieser wurde jedoch erst nach Wochen als übergreifende Exekutive allgemein anerkannt.

Die Episode des unbesetzten Gebietes Schwarzenberg endete am 20. Juni 1945. Die Besatzungsmächte hatten sich auf eine neue Aufteilung der von ihnen kontrollierten Gebiete verständigt – in der Folge rückten sowjetische Truppen auch in den Westen Sachsens ein. Wie es in einer am Folgetag erfolgten Proklamation des Landrates hieß, garantierten die sowjetischen Militärbehörden eine »Unterstützung auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens«. Daraufhin übergab am 25. Juni der Antifaschistische Aktionsausschuss seine Geschäfte der neugebildeten sowjetischen Kommandantur und löste sich daraufhin auf. Die meisten Aktivisten verloren in der Folge ihre politischen Ämter wieder.

Die Machtübernahme von Antifaschisten in einer unbesetzten Region wurde zum Gegenstand mehrerer literarischer Bearbeitungen. Immer noch empfehlenswert ist die 2004 erschienene Erzählung »Das unbesetzte Gebiet« von Volker Braun.

Um uns selber müssen wir uns selber kümmern

Und dann, als sich nichts tat, dass weder die Amis kamen noch die Sowjets kamen und hier noch die faschistische Verwaltung – Bürgermeister, Landrat und so weiter, Polizei und die Partei der Nazis noch im Dienst war – dann sagten wir uns, jetzt müssen wir selber was tun.

Da hatten wir abends etwa 120 Antifaschisten, die bereit waren, mit uns das Rathaus zu besetzen. Das haben wir dann auch. Der größte Teil hatte sich schon Waffen besorgt, und im Rathaus lagen Berge von Waffen, es war also kein Problem, hab dann den Rest noch bewaffnet. Haben dann die Polizei, die noch da war, das waren bloß noch ein paar Alte, das war nicht mehr der Kern der Polizei, die haben wir erst mal nach Hause geschickt, ihre Waffen abgenommen. Da hatte der Bürgermeister noch aus Faschisten noch ne Bürgerwehr am 11. nachmittags organisiert. Da waren auch noch ein paar im Rathaus. Denen haben wir auch die Waffen weggenommen, haben sie erst mal nach Hause geschickt. Der Bürgermeister, der wohnte direkt dem Rathaus gegenüber, der kam da angestürzt und wollte uns verbieten, den haben wir erst mal aus dem Rathaus rausgeschmissen. So, das war an und für sich unsere Machtübernahme an diesem 11. Mai. Da habe ich gegen 23 Uhr noch einen Lkw ranholen lassen. Hab 10 Mann draufgesetzt mit Maschinengewehr – ich selbst bin da mitgefahren. (…)

Und da haben wir immer kontrolliert die Wachlokale, ob alles in Ordnung ist. Wir haben unterwegs Plünderer gesehen, die wieder einbrechen wollten, die mit Sack und Brecheisen unterwegs waren. (…) Kleine Trupps von Wehrmachtsangehörigen. Denn hier ist ja der Rest der Schörner-Armee gewesen. Hier gab es ja Tausende Angehörige der faschistischen Wehrmacht.

Erinnerungen von Paul Korb, aus: »Freie Republik Schwarzenberg – Zeugnisse einer Legende«, herausgegeben vom Kunstverein Schwarzenberg e. V., Edition Medien Cooperative audioscop 1998, Seite 48f.

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