Dokument und Entsetzen
Von Florian Neuner
Heimrad Bäcker war bereits über 60 Jahre alt, als er 1986 mit seiner »nachschrift« – »nachschrift 2« sollte 1997 folgen – eines der wirkmächtigsten und am meisten diskutierten Werke der experimentellen Literatur vorlegte. Friedrich Achleitner sprach in seinem Nachwort von einem Hauptwerk der konkreten Poesie und sah darin »den Beweis, dass ihre Methoden in einem viel intensiveren Sinne Wirklichkeit vermitteln können als die Methoden der Beschreibung.« Die Wirklichkeit, um deren Vermittlung es in der »nachschrift« geht, das ist das Terrorregime des Hitlerfaschismus. Nun herrscht gewiss kein Mangel an Erinnerungsliteratur – an literarisch anspruchsvoller und weniger anspruchsvoller, an autobiographischen oder fiktional aufbereiteten Texten, die aber doch alle von letztlich kontingenten Einzelschicksalen künden. Heimrad Bäcker hingegen setzt sich direkt mit den Dokumenten des NS-Staats und mit den Zeugnissen von Tätern und Opfern auseinander und bearbeitet sie mit den Methoden der konkreten Poesie: montierend, einzelne Elemente auf dem weißen Blatt isolierend. Er war davon überzeugt: »Es genügt, die Sprache der Täter und der Opfer zu zitieren. Es genügt, bei der Sprache zu bleiben, die in den Dokumenten aufbewahrt ist. Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen.«
Heimrad Bäckers jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Hitlerfaschismus, die in den »nachschrift«-Bänden kulminierte, verstand er als Schritte »im Prozeß der Aufhebung von Sätzen, die der Autor am 27.5.1942 in der Linzer Tages-Post schrieb: ›Wir haben den Führer gesehen!‹« Gemeint ist ein Artikel, den der erst 17jährige Volontär Heimrad Bäcker schrieb, der später in der Pressestelle der Hitlerjugend in Linz arbeitete und mit 18 in die NSDAP eintrat. Was man aus der historischen Distanz wahrscheinlich als jugendliches Mitläufertum der harmloseren Art beschreiben könnte, war für den 1925 in Wien geborenen und in Oberösterreich aufgewachsenen Bäcker jedoch ein lebenslanger Stachel, der in ihm den Wunsch auslöste, alles über das Regime zu erfahren, dem er als Teenager auf den Leim gegangen war. Nach dem Krieg studierte er in Graz und Wien Philosophie, Soziologie und Völkerkunde, promovierte über Karl Jaspers und arbeitete ab 1955 als Fachreferent für Geisteswissenschaften an der Linzer Volkshochschule. Dort scharte er einen Kreis junger Literaten und Künstler um sich und gründete 1968 die Zeitschrift neue texte, die sich bald zu einem wichtigen Forum für konkrete und experimentelle Literatur und Kunst – mit einer Wirkung weit über Linz und Österreich hinaus – entwickeln sollte.
Friederike Mayröcker und Ernst Jandl publizierten dort ebenso wie Josef Bauer, Jochen Gerz, Ian Hamilton Finlay, Helmut Heißenbüttel, Fritz Lichtenauer und Dieter Roth. 1976 kam der Verlag »edition neue texte« dazu. Bäcker quittierte seinen Dienst an der Volkshochschule und schlug sich als Verleger und Literaturvermittler durch, war in der Linzer Künstlervereinigung MAERZ aktiv und an der Gründung der Grazer Autorenversammlung beteiligt, organisierte Ausstellungen mit visueller Poesie. Der Schriftsteller Heimrad Bäcker aber hielt sich lange im Hintergrund.
Bis 1992 erschienen in der »edition neue texte« Bücher von Franz Josef Czernin, Bodo Hell, Anselm Glück, Reinhard Priessnitz, Gerhard Rühm, Liesl Ujvary, Waltraud Seidlhofer, Christian Steinbacher und vielen anderen aus dem Lager der Neuen Poesie – und 1986 eben auch die »nachschrift«. Viele, auch aus seinem engeren Kreis, wussten bis zu jenem Zeitpunkt gar nicht, dass Bäcker an diesem ihn so fordernden Werk gearbeitet hatte. Zudem besuchte er immer wieder die oberösterreichischen Konzentrationslager Mauthausen und Gusen, die er fotografisch dokumentierte, durchkämmte wie ein Archäologie die Umgebung der Lager und zeigte in Ausstellungen wie »Epitaph« Fundstücke. In diesen an Gedenkveranstaltungen reichen Tagen wäre Heimrad Bäcker am 9. Mai 100 Jahre alt geworden. Seine »nachschrift« wird uns noch lange beschäftigen.
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