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Aus: Ausgabe vom 07.05.2025, Seite 1 / Kapital & Arbeit
Wachsende Ungleichheit

Arme Menschen sterben früher

WHO untersucht soziale Gesundheitsfaktoren. Langsame Entwicklung laut UNO »alarmierend«
Von Michael Merz
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3,3 Milliarden Menschen lebten 2024 in Ländern, die mehr Geld für Zinsen ausgaben als für Gesundheit und Bildung zusammen (Bewohner eines Slums auf den Philippinen)

Die Schlussfolgerung ist kurz und bündig, spätestens seit Marx ist sie eine Binse: »Soziale Ungerechtigkeit tötet im großen Stil.« Am Dienstag hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf eine Studie vorgestellt, die die Determinanten der Gesundheit untersucht. Demnach beeinflussen Wohnumfeld, Gehalt, Bildung und weitere soziale Faktoren sehr viel stärker als Genetik und Gesundheitssystem, wie lange ein Mensch zu leben hat – konkret: zu über 50 Prozent mehr.

Die Verfasser der Studie erklären in aller Deutlichkeit: »Je benachteiligter die Region ist, in der die Menschen leben, je niedriger ihr Einkommen und je weniger Ausbildungsjahre sie haben, desto schlechter ist ihr Gesundheitszustand und desto weniger gesunde Lebensjahre können sie erwarten.« So lebe die Bevölkerung in Ländern mit der höchsten Lebenserwartung im Durchschnitt 33 Jahre länger, die Sterberate von Kindern unter fünf Jahren sei hingegen in Ländern mit geringem Einkommen 13mal höher als in reichen Regionen. Eine Kluft tut sich auch innerhalb einzelner Staaten auf – vielfach seien die Unterschiede zuletzt größer geworden. Die von der WHO vorgeschlagene Lösung: Ökonomische Ungleichgewichte müssen beseitigt werden. Denn arme Länder hätten kein Geld für Investitionen, weil die Schuldenlast drücke. 3,3 Milliarden Menschen lebten 2024 in Ländern, die mehr Geld für Zinsen ausgaben als für Gesundheit und Bildung zusammen.

Im Zuge der wachsenden Ungleichheit haben die Vereinten Nationen, ebenfalls am Dienstag, eine Verlangsamung des menschlichen Fortschritts konstatiert, in »alarmierendem Maße«. Ihr alljährlicher Bericht zum Index der menschlichen Entwicklung (HDI) analysiert unterschiedliche Indikatoren. »Jahrzehntelang waren wir auf dem Weg, bis 2030 einen sehr hohen Stand der menschlichen Entwicklung zu erreichen, aber die derzeitige Verlangsamung stellt eine reale Bedrohung für den globalen Fortschritt dar«, erklärte UNDP-Chef Achim Steiner laut AFP. Dies mache die Welt »unsicherer, gespaltener und anfälliger für wirtschaftliche und ökologische Schocks«.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. Mai 2025 um 21:00 Uhr)
    Die Aussage, dass soziale Faktoren wie Wohnumfeld, Einkommen und Bildung den Gesundheitszustand und die Lebenserwartung deutlich stärker beeinflussen als Genetik und das Gesundheitssystem – konkret: zu über 50 Prozent mehr –, wirft einige grundlegende Fragen auf. Zunächst ist festzuhalten: Soziale Faktoren sind keine genetischen. Genetik beschreibt die biologisch vererbten Merkmale eines Menschen – das, was wir durch unsere Vorfahren erhalten haben. Diese Unterscheidung sollte klar benannt und korrigiert werden. Zweitens: Natürlich ist es entscheidend, in welcher Zeit, in welchem Umfeld und unter welchen sozialen Bedingungen ein Mensch geboren wird. Diese Ausgangsbedingungen haben unzweifelhaft Einfluss auf seine Chancen im Leben. Doch damit allein ist nicht alles erklärt. Denn drittens: Wir werden ins Leben gestellt, ohne gefragt zu werden – doch ab dem Moment unserer Geburt geht es darum, mit dem, was wir vorfinden, umzugehen. Persönlicher Einsatz, Wille und der Versuch, mit den gegebenen Mitteln etwas zu erreichen, dürfen in dieser Diskussion nicht unter den Tisch fallen. Auch Zufall, Glück und Pech spielen eine Rolle – das ist kaum zu bestreiten. Aber ohne inneren Antrieb, ohne den Drang, etwas aus dem Leben zu machen, bleibt jeder strukturelle Vorteil ungenutzt. So wichtig strukturelle Gerechtigkeit auch ist – der individuelle Gestaltungswille darf nicht unterschätzt werden.

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