Das Salz in der Suppe
Von Felix Bartels
Globale Erwärmung bedeutet anormale Entwicklung. Von allen möglichen Messgrößen, zunächst aber von Temperaturen, von denen der Rest abhängt. Wer das Anormale greifen will, muss das Normale fassen. Und was das Wasser betrifft, liegt das Normale bekanntlich im Anormalen. Jeder hat es im Physikunterricht ausprobieren dürfen: Die Dichte des Wassers erreicht ihren höchstmöglichen Wert immer bei vier Grad Celsius, von dort aus verhält das Aggregat sich in beide Richtungen ähnlich. Wird es erwärmt, nimmt die Dichte ab und das Volumen anhängig davon zu. Kühlt man es ab, nimmt die Dichte ebenso ab und das Volumen ebenso zu. Eine andere Anomalie lässt sich bei den Wassertemperaturen des Atlantiks beobachten.
Das Jahr, in dem die betreffende Entdeckung gemacht wurde, ist 1751. Damals segelte der britische Kapitän Henry Ellis auf 25 Grad nördlicher Breite durch den subtropischen Atlantik, auf einem Sklavenschiff nebenbei gesagt. Mittels eines vom britischen Theologen und Naturforscher Stephen Hales entwickelten Messinstruments erhob Kapitän Ellis Daten über die Temperaturen des Ozeans in Abhängigkeit von der Tiefe. Und machte dabei zwei Entdeckungen: Das Wasser in den Tiefen des Ozeans ist deutlich kälter als das in den oberen Schichten. Und die Temperatur nimmt ab einer bestimmten Tiefe nicht mehr ab. In einem Brief notierte Ellis: »Die Temperatur sank kontinuierlich, hinab bis etwa 3.900 Fuß. Ab da blieb sie bei 53 Grad. Obwohl ich das Instrument bis in eine Tiefe von 5.346 Fuß senkte, veränderte sich die Quecksilbersäule nicht mehr.« Zur Orientierung: 3.900 Fuß sind etwa 1,2 Kilometer, 5.346 entsprechen etwa 1,6. Die 53 Grad Fahrenheit ergeben umgerechnet circa 11,7 Grad Celsius. Ellis’ Messungen waren die ersten aufgezeichneten für die Bereiche der Tiefsee. Mit der Feststellung der konstanten Tiefentemperatur der Weltmeere kann Ellis als der Mensch gelten, der die Umwälzzirkulation des Atlantiks entdeckt hat. Die dauerhafte Bestrahlung durch Sonnenlicht erwärmt das Wasser des Weltmeeres nicht etwa über Jahrtausende hinweg, vielmehr besorgt ein System von Tiefseeströmungen, dass das kalte Wasser aus den polaren Zonen der Weltmeere tief unterhalb der Meeresoberfläche um den Planeten zirkuliert und damit die Temperaturen ab einer bestimmten Tiefe konstant kalt hält.
Diese atlantische Umwälzzirkulation bestimmt, allein schon aufgrund der großen Menge der beförderten Wassermassen, das globale Klimasystem. Eine Veränderung der Tiefseeströmungen würde sich als Kippunkt im Geosystem auswirken. Wie das wissenschaftsjournalistische Magazin Spektrum in einem Forschungsbericht darlegt, gibt es mehrere Faktoren, die die Tiefseeströmungen beeinflussen, genauer: verlangsamen. Die Bezeichnung für die Atlantische Umwälzzirkulation ist AMOC (Atlantic meridional overturning circulation). Das warme Wasser der atlantischen Oberfläche strömt grundsätzlich nach Norden. Die kalte Tiefenströmung des Ozeans macht ihren Rücklauf aus, sie strömt von Norden nach Süden. Darin unterscheidet sich der Atlantik in dem Teil, der in der Südhalbkugel liegt, von den anderen Weltmeeren. Er transportiert Wärme nicht vom Äquator weg, sondern ihm zu, führt also der wärmeren Region Wärme zu, wodurch der Nordatlantik, der dieselbe Oberflächenströmung hat (Süd nach Nord), mehr Wärmeleistung in die nördlichen Regionen (um Grönland und Island) befördert. Im Europäischen Nordmeer erwärmen die Wassermassen die Luft, wodurch sie ihrerseits abkühlen, absinken und als Tiefseestrom in den Süden zurücklaufen. Aufgrund dieser atlantischen Anomalie ist die Nordhalbkugel 1,4 Grad wärmer im Durchschnitt als die Südhalbkugel.
Ein weiterer Einfluss im Zusammenhang der AMOC ist der Salzgehalt des Wassers. Je salziger ein Ozean, desto dichter sein Wasser. Und je dichter das Wasser, desto tiefer kann es sinken. Da der Atlantik mehr Salz enthält als andere Ozeane, sinken die Wassermassen in seinem Norden tiefer. Der Salzgehalt ist aber nicht nur Ursache der AMOC, er wird auch zu deren Folge, da aufgrund der Strömungsbewegung und der damit verbundenen höheren Temperatur in den warmen Regionen mehr Wasser verdunstet und folglich relativ mehr Salz im Wasser zurückbleibt.
Der Einfluss des Klimawandels auf die für das globale Gleichgewicht wesentliche AMOC wird vor diesem Hintergrund beschreibbar. Die skizzierte Wechselwirkung kann sich umkehren. Indem der vermehrte Zulauf von Regenwasser und Schmelzwasser nämlich im nördlichen Atlantik – beides seit längerem beobachtbare Phänomene des Klimawandels – die Salinitätswerte des Ozeanwassers und damit dessen Dichte sinken lässt. Das atlantische Wasser sinkt somit weniger ab, der kalte Rücklauf und die AMOC überhaupt verlangsamen sich. Und indem die Umwälzzirkulation des Ozeans weniger Salz transportiert, verlangsamt sich die Bewegung weiter, was in der Klimaforschung als »Salztransportrückkopplung« bezeichnet wird.
Der Kippunkt dieses Systems liegt nun darin, dass ab einer bestimmten, kritischen Schwelle die Wechselwirkung zur unumkehrbaren Spirale wird. Die AMOC kann sich dann nicht mehr vom Schockeffekt erholen. Wobei die Gefahr nicht grundsätzlich in einem sich wandelnden Klima liegt. Das Geosystem hat eine gewisse Resilienz gegen Veränderungen, Gleichgewichte stellen sich auf lange Sicht wieder her. Folgenreich ist das Tempo des Klimawandels, durch das das System überfordert und in irreversible Zustände getrieben wird.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Natur & Wissenschaft
-
Auf Nummer sicher
vom 06.05.2025