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Aus: Ausgabe vom 06.05.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Das Matroschkaprinzip

Hohe Wellen: Michael Lockshin verfilmt Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita«
Von Ronald Kohl
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Kompakte Story, gutes Timing: Meister (Jewgeni Zyganow) und Margarita (Julija Snigir)

Warum schlägt dieser Tage ein Film über die Moskauer Kulturszene während der Stalinzeit an den Kinokassen ein wie eine Bombe, und das in ganz Russland? Liegt es daran, dass auch in der neuen Verfilmung von Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita« die staatliche Zensur eine zentrale Rolle spielt? Oder daran, dass die junge Sowjetunion zwar als totalitärer Staat, aber eben doch auch als ein aufstrebendes Land monumentaler Architektur und modernen Alltags gezeigt wird?

Racheorgie

Regisseur Michael Lockshin, der von sich sagt, das Buch seit seiner Jugend geliebt zu haben, geht die Darstellung der Charaktere in russischer Manier an, nach dem Prinzip der Matroschka. Die wichtigste Figur, und damit jene, die das gesamte Geschehen in sich birgt, ist der Meister (Jewgeni Zyganow). Margarita (Julija Snigir), seine Geliebte und Muse, ist die zweitgrößte Puppe im Ensemble. Sie stellt die Verbindung zwischen unbeugsamer Kunst auf der einen Seite und den finsteren Mächten des Apparates und der Hölle auf der anderen dar. Auf einem gewöhnlichen Hexenbesen sitzend, wirbelt sie bewaffnet mit einem eisernen Fleischklopfer durch den Prolog und verwüstet in einem Moskauer Hochhaus das Mobiliar in den Wohnungen der Funktionäre und selbstverständlich auch alles, was sich an revolutionärem Kitsch zertrümmern lässt. Passend zur sowjetischen Prüderie ist unsere Furie dabei nackt, aber unsichtbar. Diese Racheorgie Margaritas befindet sich im Roman übrigens irgendwo im letzten Drittel.

Michael Lockshin überträgt in seiner Begeisterung für die Vorlage vieles eins zu eins, musste jedoch nicht nur eine eigene Auswahl der Szenen treffen, sondern auch eine neue Abfolge entwickeln, um die drei Erzählstränge (der Meister und Margarita, der Teufel und seine Gesellen, Pontius Pilatus und Jesus von Nazareth) zu einer kompakten Story zu bündeln. Dass ihm dies so perfekt gelingt, liegt nicht zuletzt an seinem Gefühl für gutes Timing.

Genau wie in der italienisch-jugoslawischen Verfilmung von Aleksandar Petrović aus dem Jahr 1972 zieht auch Lockshin den Helden von ziemlich weit hinten nach vorn, an den Beginn der Handlung. Kaum betritt jedoch der Meister die Bühne, will er sie auch schon wieder verlassen, sich das Leben nehmen. Vor wenigen Stunden erst verschwand sein Stück »Pilatus« während der Generalprobe ohne jede Vorwarnung vom Spielplan. Und auch das Skript, in einer Situation wie dieser für gewöhnlich die letzte Hoffnung auf Einkommen, landete auf dem Index. In der darauffolgenden Versammlung des Schriftstellerverbandes wird der Meister nach allen Regeln des sozialistischen Realismus rund gemacht wie ein Buslenker. Doch noch naht nicht das Ende der Welt. Der 1. Mai steht vor der Tür. Die Proben für die Kundgebungen draußen auf den Straßen gehen weiter. Als der Meister sich auf dem Heimweg vor einen Umzugswagen werfen will, rettet ihn Margarita. Sie beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die sich für den Meister auch als Phase größter Produktivität erweisen soll. Margarita, verheiratet mit einem aufstrebenden Kader von nationaler Bedeutung, besucht ihn täglich und liest die neuen Seiten des Romanmanuskripts. Sie liebt die Figuren, die ihr da begegnen: Pilatus, der Teufel, die Dichter, die Funktionäre und schließlich sie selbst auf dem Besenstiel. Gespannt auf Margaritas Reaktion, beobachtet sie der Meister jedes Mal sehr genau bei der Lektüre. Dabei zieht er unablässig an seiner Papirossa, der typischen Machorkazigarette mit dem gefalteten Pappmundstück.

Stiller Dissenz

So ungefähr muss es auch bei Romanautor Michail Bulgakow zu Hause ausgesehen haben. Soweit ich weiß, wurde bislang noch nicht widerlegt, dass er nach dem vollständigen Publikationsverbot um 1930 allein dank Stalins Vermittlung einen Job am Theater bekam. Er wusste, dass er die Veröffentlichung seines großen Projekts nie erleben würde, war aber finanziell abgesichert. Geschrieben hat er an »Der Meister und Margarita« mit Unterbrechungen von 1929 bis zu seinem Tod 1940. Ich will nicht behaupten, dass er am Rauchen zugrunde gegangen ist. Doch als Ursache für seine Nierensklerose wird chronischer Bluthochdruck genannt. Während der letzten Monate, als er allmählich das Augenlicht verlor, musste er seiner Frau diktieren. Ohne ihre damals schon länger andauernde Mitarbeit wäre das Buch vermutlich niemals zur Druckreife gelangt. Das ist für mich das eigentlich Phantastische an »Der Meister und Margarita«, dass Bulgakow seine Ehefrau im Roman zu seiner Geliebten macht.

Auf ihre Art ebenfalls irgendwie rührend sind die kulturpolitischen Wellen, die das Werk und dessen Verfilmung mehr als 80 Jahre nach dem Tod des Autors geschlagen haben.

Arnold Lockshin, der Vater des Regisseurs, war ein Wissenschaftler in der Krebsforschung, der 1986 mit seiner Familie aus den USA in die Sowjetunion emigrierte. Da war Lockshin fünf Jahre alt. Er kennt die UdSSR also noch aus seiner Schulzeit. »Der Meister und Margarita« drehte er 2021 in Russland, unter anderem mit heimischer Filmförderung. Als er sich später gegen den Ukraine-Krieg positionierte, geriet er unter Beschuss. Die propagandistischen Geschütze, die gegen ihn in Stellung gebracht wurden, waren so schlicht konstruiert und zugleich so gewaltig dimensioniert, dass sie aus dem Roman stammen könnten. Seit diesen Anfeindungen lebt Lockshin nur noch in Los Angeles. In Interviews bezeichnet er seinen Film und den Tod Alexej Nawalnys als die beiden Endpunkte einer Ära. Dass so viele Russen »Der Meister und Margarita« gesehen haben, erklärt er zum »stillen Dissens«.

Was Lockshin darüber denkt, dass die maßgeblichen ukrainischen Kulturfunktionäre den bekanntlich in Kiew geborenen Bulgakow unlängst praktisch zur Unperson erklärt haben, konnte ich nicht herausfinden. Mangelhafte Recherche? Oder doch nur ein Fall freiwilliger Selbstzensur?

»Der Meister und Margarita«, Regie: Michael Lockshin, Russland 2023, 157 Min., bereits angelaufen

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