Guerilla auf neuen Wegen
Von Loïc Ramirez
Wir sitzen in einem Restaurant im Stadtzentrum von Pasto, der Hauptstadt des Bundeslands Nariño im Südwesten Kolumbiens, an der Grenze zu Ecuador. Über Whats-App erhalten wir die erste Anweisung: »Nehmen Sie einen Bus nach Tumaco. Wenn Sie im Bus sitzen, schreiben Sie mir.« Die Stadt Tumaco liegt an der Pazifikküste, etwa 270 Kilometer von Pasto entfernt, und dehnt sich über mehrere Inseln aus. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit dort sind erdrückend. Als wir unterwegs sind, teilt uns unsere Kontaktperson mit, wie es weitergehen soll: »Sagen Sie dem Fahrer, dass er Sie in der Gemeinde Llorente aussteigen lassen soll, das ist etwa eine Stunde vor Tumaco.« Dort angekommen sollen wir ein Motorradtaxi nehmen. Der Treffpunkt ist Inda Zabaleta, ein kleines Dorf, das sich im Zentrum einer Reservation der Awa-Ethnie befindet. Als wir uns unserem Ziel nähern, informiert mich der Motorradfahrer: »Sie müssen sich am Dorfeingang ausweisen.« »Gegenüber wem?« frage ich. »Gegenüber der Guerilla.«
Nariño liegt im Süden, weit von der Hauptstadt Bogotá entfernt – hier dauert der kolumbianische bewaffnete Konflikt noch immer an. Nach dem 2016 unterzeichneten Friedensabkommen zwischen den »Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo« (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee, FARC-EP) und dem kolumbianischen Staat sind zahlreiche bewaffnete Gruppen aus der Asche der ehemaligen bewaffneten Organisation hervorgegangen. Zu ihnen gehört die als Segunda Marquetalia bezeichnete Gruppe, deren Besonderheit darin besteht, dass sie von ehemaligen Unterzeichnern des Abkommens gegründet wurde, darunter dem Leiter der FARC-EP-Delegation in Havanna, Iván Márquez. Diese unterscheidet sich von anderen Gruppen, die als Dissidenten bezeichnet werden und von ehemaligen FARC-EP-Mitgliedern angeführt werden, die sich dem Friedensprozess nie angeschlossen haben. Im November 2024 kam es zu einem offiziellen Bruch innerhalb der Segunda Marquetalia. Eine kleine Gruppe spaltete sich ab und gründete eine bewaffnete Organisation, die sich als Coordinadora Guerillera Nacional – Ejército Bolivariano vorstellte. Sie vereint unter ihrem Kommando mehrere bewaffnete Gruppen, die entlang der Grenze zu Ecuador aktiv sind. Von dieser Organisation werden wir empfangen.
Dorf statt Lager
»Willkommen«, sagt Mario, unsere Kontaktperson. »Wie Sie sehen können, tragen wir hier keine Uniformen, und unsere Waffen sind nicht sichtbar. Vor allem aus Respekt vor der einheimischen Gemeinschaft, mit der wir zusammenleben.« In der Tat scheint das Dorf auf den ersten Blick eine ganz gewöhnliche Ortschaft zu sein. Nichts deutet auf eine Präsenz der bewaffneten Gruppe hin: keine Banner, Graffiti oder Flaggen. Mehrere kleine Lokale reihen sich entlang einer einzigen zentralen Straße aneinander. Rudimentäre Boutiquen und kleine Läden, aber auch Bars und Prostitutionslokale. Am Ende des Dorfes befindet sich ein großer überdachter Fußballplatz mit Tribünen und einem Kinderspielplatz, der neu aussieht. An der Seite weisen Ziegelsteine und Arbeitsgeräte darauf hin, dass das Gebäude in der Tat neu ist und sich noch im Bau befindet. »Wenn du vor zwei Jahren in das Dorf gekommen wärst, hättest du fast nur Gestrüpp gesehen«, erklärt Mario.
Unter den T-Shirts können wir die Revolver erahnen, die einige Männer tragen. Die meisten derjenigen, mit denen wir sprechen, sind ehemalige Mitglieder der historischen FARC-EP und stammen aus verschiedenen Teilen des Landes. Nach der Demobilisierung haben sie nach einem Weg gesucht, um zu überleben, da sie eine ungewisse Zukunft vor sich sahen. Manchmal wechselten sie von einer Splittergruppe zur nächsten. Mario selbst war von 2021 bis 2022 Mitglied der Frente 10 Martín Villa in Arauca (im Nordosten Kolumbiens). Damals gehörte diese Einheit zur bewaffneten Organisation Zentraler Generalstab (Estado Mayor Central), die immer noch aktiv ist. Der Grund, warum er sich der Coordinadora anschloss, war, dass die meisten Mitglieder der Frente Martín Villa durch Militärschläge eliminiert worden waren.
»Diese Organisation ist anders«, erklärt Mario, »wir leben nicht mehr in Lagern im Dschungel, sondern die Guerilleros lassen sich mit ihren Familien nieder und eröffnen ihre eigenen kleinen Geschäfte. Die Ladenbesitzer, die Sie hier sehen, sind Mitglieder der Organisation.« Ich frage ihn, wie es auf militärischer Ebene aussieht. »Wir teilen uns in kleine Einheiten auf, die in der Region eingesetzt werden. Ich zum Beispiel wohne mit einigen Kameraden in einem kleinen Haus bei Bauern.« Im Mittelpunkt dieser »neuen Etappe« des Guerillakriegs (wie er es nennt) steht die Selbstverwaltung dieser kleinen halbstädtischen Ortschaft, die als Modell für die Organisation dienen soll. »Sehen Sie, hier gibt es keine staatliche Präsenz, keine Armee, keine Polizei«, sagt er zufrieden. »Die Straße, die Elektrizität, all das ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der Gemeinde und der Guerilla.«
Zu den kleinen Geschäften kommt eine wichtige Ressource für die Guerilla hinzu: die Kokapflanze. Inda Zabaleta ist von Kokafeldern umgeben. Wir fahren mit dem Motorrad durch sie hindurch, um die Dimension der Felder zu begutachten. Es gibt auch Labore, in denen das Kokablatt zu einer Paste verarbeitet wird, die zur Herstellung von Kokain verwendet wird. Plötzlich sehen wir eine Reihe von Bauern, die sich unter einem hölzernen Vorplatz in der Nähe eines bescheidenen Wohnhauses versammeln. Einige Männer wiegen dort die Kokablätter. Unsere Begleiter bestätigen uns: »Das sind Drogenhändler, sie kommen, um den Kleinbauern die Produktion abzukaufen.« Die Guerilleros versichern, dass sie nicht die Eigentümer der Plantagen sind, sondern nur deren Wächter: »Die Narcos kommen herein und tauschen sich mit den Bauern aus. Wir beschützen sie und erheben natürlich eine Steuer auf diese wirtschaftliche Aktivität.«

Langer Weg zum Frieden
Mit einer Kufija um den Hals gibt uns Walter Mendoza – mit bürgerlichem Namen José Vicente Lesmes – auf dem Hof eines Bauern ein Interview. Er ist der Oberbefehlshaber der Coordinadora Guerrilera. »Unsere revolutionären Prinzipien sind dieselben, aber die Zeiten haben sich geändert«, erklärt der alte Mann, der viel Erfahrung im bewaffneten Kampf hat. Mendoza, seit den 1970er Jahren Mitglied der FARC-EP, war einer der einflussreichsten, wenn auch diskret agierenden Militärstrategen. Ihm wird die Schaffung der mobilen Kolonnen innerhalb der Guerilla (eine Art Elitetruppe) zugeschrieben. In der Kokafrage gibt der Guerillero dem Staat die Schuld: »Hier gibt es leider nicht die ausreichende Infrastruktur, damit die Bauern etwas anderes produzieren und davon leben können. Es gibt keine Straßen, kein Netzwerk und keine Häfen, um eine alternative Wirtschaft zu entwickeln.«
Mendoza ist ein ehemaliges Mitglied der Delegation für die Friedensverhandlungen in Havanna und gehört zu der Gruppe von Deserteuren, die nach der Unterzeichnung des Abkommens in den Dschungel zurückkehrten. Der Grund? »Es war eine Falle«, sagt der Kommandant. »Man hat uns die Waffen weggenommen, und dann hat sich der Staat nicht an das gehalten, was vereinbart worden war.« Die ehemalige kolumbianische Regierung hatte aus ihren Ambitionen bezüglich des Abkommens keinen Hehl gemacht, und der extrem rechte Expräsident Iván Duque hatte öffentlich geschworen, es zu zerstören. Doch im Jahr 2022 gewann überraschenderweise die kolumbianische Linke, die mit Gustavo Petro als Kandidat antrat, die Präsidentschaftswahlen. »Das Problem Petros ist, dass er mit der gleichen politischen Elite regieren muss, die es bereits zuvor gab«, sagt Mendoza. »Er hat zwar gewonnen, aber nur sehr knapp; nicht genug, um eine Mehrheit im Kongress zu haben. Alle Institutionen sind ihm feindlich gesinnt, und er kann keine einzige Reform durchsetzen, er kann nichts ändern.«
Der alte Kämpfer versichert uns, dass die neue Guerillaorganisation auf dem Marxismus-Leninismus beruhe. Dennoch scheint die politische Frage im täglichen Leben abwesend zu sein. Grundlegende Elemente der alten FARC-EP-Guerilla sind verschwunden, wie die Kulturstunde: Ein tägliches Zeitfenster, in dem sich die Guerilleros trafen, um über aktuelle Themen zu diskutieren. Während in den damaligen Lagern marxistische Broschüren und Lektüre stark vertreten waren, gibt es im Dorf keine Spur davon. Wir sind erstaunt, dass einige mit dem berühmten kolumbianischen Drogenhändler Pablo Escobar ihre Schaufenster schmücken. Dazu kommen Bilder von nackten Mädchen, die Kunden anlocken sollen, was angesichts der progressiven Rolle, die Kämpferinnen in der historischen Organisation innehatten, schockierend ist. Schließlich verfügt die Coordinadora im Gegensatz zur FARC-EP, die mit der Kolumbianischen Kommunistischen Partei verbunden war, über keine parallele politische Struktur. Mendoza argumentiert: »Sie müssen verstehen, dass nach der Demobilisierung und den Friedensverträgen alles zerstört wurde. Wir müssen alles wieder aufbauen; auch die Schulen für die Ausbildung und Erziehung zum Sozialismus.«
Zu den von der Regierung Petro in Angriff genommenen Projekten gehört der »Paz total« (Totaler Frieden). Dieser soll über Verhandlungen mit allen noch aktiven bewaffneten Gruppen im Land erreicht werden. Mit einigen Guerillas wurde der Dialog abgebrochen, die Coordinadora Nacional sitzt noch immer am Verhandlungstisch. »Wir hoffen, dass wir vor dem Ende der Amtszeit von Präsident Petro eine minimale Einigung erzielen können, aber die Frist ist sehr kurz; ganz zu schweigen von der desaströsen Episode, deren Zeugen wir in Bogotá wurden.« Mendoza bezieht sich auf die Festnahme von Giovanni Andrés Rojas, Kampfname »La Araña« (Die Spinne), am 12. Februar in der Hauptstadt Bogotá, der Teil der Friedensdelegation der Coordinadora war und dessen Festnahmebefehl ausgesetzt war. Er befindet sich immer noch im Gefängnis, und ihm droht die Auslieferung an die USA wegen mutmaßlichen Drogenhandels.
Die Verhaftung führte zur Konfrontation zwischen der eigenen Friedensdelegation der Regierung und der Justizbehörde. Für Mendoza ist das ein Beispiel für das Fortbestehen »korrupter Elemente« im kolumbianischen Staatsapparat, die den USA dienen. Die Regierung ist sich ihrer schwachen Bilanz beim Thema Entwaffnung der verbliebenen Guerillagruppen bewusst und weiß, dass sie bei den Präsidentschaftswahlen 2026 in Schwierigkeiten geraten wird. Was wäre, wenn die Rechte dann zurück an die Regierung kommt? »Wir wünschen es uns nicht, aber in diesem Land ist alles möglich«, antwortet der Guerillero schlicht.
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