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Aus: Ausgabe vom 06.05.2025, Seite 1 / Titel
Festung Europa

Bewusst ignoriert

»SOS Humanity« legt Bericht zu zehn Jahren privater Seenotrettung vor. Organisation prangert EU wegen unterlassener Hilfe an
Von Yaro Allisat
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Glück, wenn in der Nähe ein Seenotrettungsschiff ist: Ein schiffbrüchiger Asylsuchender vor Lampedusa (12.8.2024)

Seit mehr als zehn Jahren gibt es keine staatliche Seenotrettung mehr im Mittelmeer. Statt dessen baut die EU die Kooperation mit Drittstaaten wie Tunesien und Libyen aus, wo Folter, Menschenhandel und sexualisierte Gewalt drohen, und erschwert die Bedingungen ziviler Seenotrettung. Die Geflüchtetennothilfeorganisation »SOS Humanity«, früher »SOS Méditerranée«, gründete sich zum gleichen Zeitpunkt, um europäische Regierungen zur Wiederaufnahme der Seenotrettung sowie zu einer »Humanisierung der Migrationspolitik« zu bewegen. Das Gegenteil ist jedoch passiert, wie ein am Montag veröffentlichter 40seitiger Bericht der Organisation zeigt, der die Stimmen 64 Überlebender versammelt. »Die politisch verursachte humanitäre Dauerkrise vor Europas Haustür wird bewusst ignoriert – mit tödlichen Folgen«, erklärte Till Rummenhol, Geschäftsführer von »SOS Humanity«, am Montag in Berlin bei der Vorstellung des Berichts.

Seitdem 2014 die italienische Seenotrettungsmission »Mare Nostrum« endete, betreibt die EU laut Bericht eine systematische Externalisierung der Asylpolitik, versucht also mit allen Mitteln, Geflüchtete von ihrem Territorium fernzuhalten. Seit 2016 unterstützt die EU im Rahmen mehrerer millionenschwerer Programme den Aufbau und Unterhalt der sogenannten libyschen Küstenwache, einer Ansammlung halbstaatlicher Milizen. Auch die tunesische Küstenwache erhält seit 2015 finanzielle Mittel von der EU – insgesamt mehr als 242 Millionen Euro in zehn Jahren, während das Betreiben des Seenotrettungsschiffs »Humanity 1« im selben Zeitraum nur 42 Millionen kostete.

Unter dem Vorwand, Menschenleben zu retten, wurden die Such- und Rettungszonen der beiden nordafrikanischen Staaten ausgebaut, so dass Flüchtende dorthin verschleppt wurden, anstatt in die EU gebracht zu werden. Die europäischen Behörden sind so nicht nur an den großen Schiffsunglücken mit Dutzenden Toten wie in Cutro und Pylos 2023 beteiligt, sondern auch an der Koordination illegaler »Pullbacks« durch tunesische und libysche Einsatzkräfte. In der zurückliegenden Dekade wurden mehr als 161.000 Geflüchtete allein nach Libyen verschleppt.

»In Libyen ist nicht einmal dein toter Körper sicher«, so einer der 64 Überlebenden, dessen Geschichte in dem Bericht dokumentiert wird. Flüchtende erlebten dort außergerichtliche Verhaftungen, moderne und sexuelle Sklaverei, Menschenhandel und »Wüstendumping« – also das Aussetzen von Menschen in den Weiten der Sahara. »Um uns zu zeigen, dass sie keine Scherze machten, führten sie uns in die Wüste. Und jeder, der nicht zustimmt, Geld zu geben, muss sterben«, heißt es in einem anderen Erfahrungsbericht. Eine flüchtende Frau schildert: »Sie schlugen mich, berührten mich und vergewaltigten mich. Und dann haben sie auf mich ejakuliert, während ich mein Baby hielt.« Ähnliches berichten Überlebende aus Tunesien.

Knapp 200.000 Menschen erreichten laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR die EU im vergangenen Jahr auf dem Seeweg über das Mittelmeer und die Kanaren. Mindestens 3.530 Menschen starben oder verschwanden dabei. 2024 verabschiedete die EU-Kommission eine »Reform« des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), das ab kommendem Jahr umgesetzt werden soll. Es sieht die Inhaftierung von Asylsuchenden an den Außengrenzen vor sowie beschleunigte Asylverfahren und erleichterte Abschiebungen in vermeintlich sichere Drittstaaten.

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