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Künstliche Natur

Von Helmut Höge
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Für den Philosophen Vilém Flusser (1920–1991) ist alle bisherige Kunst nur Vorkunst: »Die wahre Kunst ist erst mit der Gentechnik möglich, mit der man selbstreproduktive Werke schaffen kann«, meinte er. Also dass man die Natur, das Leben, nicht nur nachahmt, sondern neu – künstlich – herstellt.

Bisher war man vor allem daran interessiert, die Natur/das Leben in Kunst/Kultur umzuwandeln. Egal, ob Künstler, Handwerker, Ingenieure, Bauern, Schlachter oder Köche – sie bearbeiteten, transformierten Naturprodukte (Holz, Eisen, Erdöl etc.) in den Menschen dienliche Objekte wie Bilder, Brücken, Raketen, Heizungen, Tische, Steaks, Beton, Bohnensuppen … Im Endeffekt und mit bald neun Milliarden unermüdlichen Konsumenten bleibt in absehbarer Zeit nichts Natürliches mehr erhalten. Alles Natürliche wird verstoffwechselt.

Für Marx ist laut dem Essay »Karl Marx und das Klima« auf oxiblog.de die äußere Natur der Gegenstand, »der durch Arbeit verändert wird, um Dinge herzustellen, die Menschen zum Überleben brauchen. Die menschliche Arbeit vermittelt das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und ist als solche Bedingung der menschlichen Reproduktion.«

Demnach muss alles nach und nach Kunst/Kultur werden. Das macht auch beim Menschen, der ja ebenfalls ein Naturprodukt ist, nicht Halt. Wie die Philosophin Donna Haraway 1985 in ihrem »Cyborg Manifesto« konstatierte: Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion. Haraway meint: »Die Grenze, die die gesellschaftliche Realität von Science-Fiction trennt«, entpuppe sich zusehends als »eine optische Täuschung«.

Aber nun reden die Geisteswissenschaftler plötzlich vom »Abschied von der Künstlichkeit«. So jedenfalls heißt das Jahresthema 2025/26 des Berliner Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung. Im Editorial behauptet die Germanistin Eva Geulen zwar: »Ob KI menschliche Intelligenz überholt oder die Natur noch zu retten ist, das scheinen auf den ersten Blick dringlichere Fragen zu sein als ein mögliches Ende der Künstlichkeit.«

In dieser Perspektive erweisen sich für Claude Haas »Künstlichkeit und Natürlichkeit als äußerst variable Zuschreibungen«. Für Herder und Goethe z. B. galten Shakespeares Dramen als »Natur«, heute wird dagegen ihre »weltliterarische Geltung in ihrer Theatralität und Künstlichkeit erblickt«. Es ging eine Weile hin und her, jüngeren Autoren scheint es inzwischen »mehr um eine Umdeutung des alten Gegensatzes zu gehen«. Angesichts der industriellen Zerstörung der Natur seien »kaum noch ›natürliche‹ oder gesellschaftliche Bereiche identifizierbar, die sich der Künstlichkeit verlässlich entziehen oder sich gar als deren Widerpart ins Feld führen lassen könnten«, schreibt Haas. Das mag noch übertrieben klingen, aber für einen Literaturwissenschaftler, der sich vor allem mit avantgardistischer Literatur befasst, ist es vielleicht sehr plausibel.

Noch gibt es jedoch genügend »jüngere Autoren« und auch »jüngere Aktivisten«, die als »deren Widerpart« gelten können, und auch die »Natur« ist noch nicht gänzlich verschwunden. Ihre Reste machen dem Zoologen Josef Reichholf sogar noch Hoffnung, denn es gibt auch Erfolge, z. B. bei Pflanzen- und Tierarten, die sich in ihren Habitaten ausbreiten oder neue besetzen konnten. Beispielsweise Wölfe, Füchse, Biber und Waldrappe. Hoffnung gibt es aber auch dort, wo das Zusammenleben von Menschen, Pflanzen und Tieren weniger konflikthaltig geworden ist. Reichholf sagt es so: »Die Dörfer verschließen sich der Natur, die Städte öffnen sich ihr.«

Ein Philosoph wie Baptiste Morizot sieht sogar schon die Möglichkeit einer anderen Art des Zusammenlebens von Menschen, Pflanzen und Tieren am Horizont (in: »Philosophie der Wildnis«, 2022). Eigentlich kein »Zusammenleben« (so wie Mensch und Hund oder Mensch und Geranie), sondern ein mit diplomatischem Geschick auf beiden Seiten hergestelltes tolerantes Nebeneinander. An einer Stelle erwähnt Morizot das hinduistische Indien. Nirgendwo sonst gibt es ein solch tolerantes Nebeneinander von Menschen, Nutztieren und Raubtieren, auf die viele Inder auch stolz sind. So haben z. B. um Bombay herum rund 40 Leoparden ihren Lebensraum. Nachts streifen sie durch die Stadt.

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