Touristen als Zielscheiben
Von Jörg Tiedjen
Zwischen Indien und Pakistan ist noch keine Entspannung in Sicht. Auch in der Nacht vom Sonntag auf Montag soll es nach indischen Militärangaben an den Landesgrenzen zu Schusswechseln gekommen sein. Der alte Konflikt zwischen den beiden Atommächten hat sich bedrohlich zugespitzt, seit am Dienstag vergangener Woche Bewaffnete in dem Ferienort Pahalgam 25 Urlaubsgäste und einen Touristenführer massakrierten. Die Angreifer reklamierten, einer bisher unbekannten islamistischen Gruppe anzugehören, die sich gegen die Kolonisierung Kaschmirs durch Indien zur Wehr setze. Neu-Delhi behauptet, sie stünden mit Pakistan in Verbindung, und hat einen 1960 geschlossenen Vertrag über die gemeinsame Nutzung des Induswassers mit der Ankündigung ausgesetzt, keinen Tropfen mehr ins Nachbarland gelangen zu lassen – was Islamabad als kriegerischen Akt wertet. Zugleich hat Indien eine regelrechte Menschenjagd gestartet, Hunderte »Verdächtige« festgenommen und Häuser zerstört, die angeblichen Attentätern gehören.
Allerdings lenken die Racherufe aus Neu-Delhi von einem entscheidenden Punkt ab: der Frage, wie es überhaupt sein kann, dass sich Touristen ohne erkennbare Schutzmaßnahmen in Jammu und Kaschmir aufhalten. Zwar ist der Landesteil für seine Schönheit berühmt. Zugleich ist er aber seit langem von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt. Nach der Teilung Britisch-Indiens 1947 wurde auch das überwiegend muslimische Kaschmir zwischen den beiden neugegründeten Staaten aufgespalten. Das mehrheitlich hinduistische Indien bekam seinen Teil unter der Bedingung zugesprochen, dass ihm Autonomie gewährt werde. Diese wurde jedoch 2019 von der hindunationalistischen Regierung unter Premierminister Narendra Modi widerrufen. Seitdem hat Jammu und Kaschmir den Rang eines Unionsterritoriums.
Begründet wurde der Schritt mit der Behauptung, dass die Autonomie eine Integration in den Bundesverband verhindert habe. Doch mit der Umwandlung des Rechtsstatus werde Jammu und Kaschmir zur »Normalität« zurückkehren. Verbunden wurde dieses Wunschdenken mit einer bewussten Ankurbelung des Tourismus. Am Sonntag erinnerte die Webseite The Wire daran, dass die Bergwiesen bei Pahalgam früher lediglich zweieinhalb Monate im Jahr Urlaubern zugänglich waren. Das sei 2020 geändert worden. »Seit einigen Jahren besteht die Regierung darauf, dass alle Orte für Touristen geöffnet und zugänglich bleiben, da die Absperrung eines Ortes ein ›falsches Signal‹ aussenden würde. Dazu gehören auch Orte, die nicht über die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen für einen großen Touristenansturm verfügen«, führt The Wire eine Quelle aus dem Sicherheitsapparat an.
Noch im September verteidigte Premierminister Modi seine Vision von einem »neuen Jammu und Kaschmir«, »das nicht nur frei von Terror, sondern auch ein Paradies für Touristen sein wird«, wie ihn am Montag der Sender Al-Dschasira zitierte. Dabei habe der derzeitige Chefminister Jammu und Kaschmirs und damalige Oppositionsführer Omar Abdullah im Mai vergangenen Jahres Modi gewarnt: »Die Situation ist nicht normal, und Tourismus als Indikator für Normalität zu betrachten ist nicht normal. Wenn Sie Normalität mit Tourismus verknüpfen, gefährden Sie Touristen. Sie machen die Touristen zur Zielscheibe.« Modis Ultrarechtsregierung muss sich also vorhalten lassen, dass sie nicht nur das Risiko eines Anschlags allen Warnungen zum Trotz ignoriert hat. Mehr noch tut sie weiterhin alles, um den Konflikt in Kaschmir anzuheizen – bis hin zur Gefahr eines Atomkriegs mit Pakistan.
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