Von langer Hand geplant
Von Bernhard Sauer
Adolf Hitler, der sich freiwillig zum Krieg gemeldet und ihn als Ordonnanz und Meldegänger an der Westfront mitgemacht hatte, hat sich in »Mein Kampf« ausgiebig mit dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt – mit den Fehlern und Versäumnissen, die seiner Meinung nach begangen wurden, und den Konsequenzen und Lehren, die daraus für den zukünftigen Krieg zu ziehen seien.¹ Den kommenden Krieg hielt Hitler für unvermeidlich. In »Mein Kampf« führte er dazu aus: »Daß aber diese Welt dereinst noch schwersten Kämpfen um das Dasein der Menschheit ausgesetzt sein wird, kann niemand bezweifeln. Am Ende siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unter ihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen, wie Schnee in der Märzsonne. Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß geworden – im ewigen Frieden geht sie zugrunde.«² Ein weiterer Krieg sollte nicht nur die »unerledigten« Ziele des Ersten Weltkrieges verwirklichen, sondern hatte viel weitergehende Zielsetzungen.
Tod für Deserteure
Völlig falsch war es aus der Sicht Hitlers, dass man im Ersten Weltkrieg »praktisch die Todesstrafe ausschaltete, die Kriegsartikel also in Wirklichkeit außer Kraft setzte«. Auf diese Weise sei eine ganze Armee von Deserteuren entstanden. Zehntausende Deserteure hätten ohne jedes Risiko der Front den Rücken zugekehrt. »Wenn Männer dauernd mit dem Tode ringen und durch Wochen ruhelos in schlammgefüllten Trichtern, bei manchesmal schlechtester Verpflegung auszuharren haben, kann der unsicher werdende Kantonist nicht durch Drohung mit Gefängnis oder selbst Zuchthaus bei der Stange gehalten werden, sondern allein durch rücksichtslose Anwendung der Todesstrafe. Denn er sieht erfahrungsgemäß in solcher Zeit das Gefängnis als einen immer noch tausendmal angenehmeren Ort an als das Schlachtfeld, sintemalen im Gefängnis doch wenigstens sein unschätzbares Leben nicht bedroht wird.« Weiter führte Hitler aus: »Der wirkliche Feigling scheut zu allen Zeiten natürlich nichts mehr als den Tod. Den Tod aber hatte er an der Front Tag für Tag in tausendfältigen Erscheinungen vor Augen. Will man schwache, schwankende oder gar feige Burschen nichtsdestoweniger zu ihrer Pflicht anhalten, dann gibt es von jeher nur eine Möglichkeit: Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertation gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.«
Das Naziregime etablierte während des Zweiten Weltkrieges eine Militärjustiz – in Deutschland gab es über 1.000 Gerichte und 3.000 Juristen, die in der Wehrmacht abwechselnd als Richter, Ankläger, Untersuchungsführer oder Gutachter amtierten –, mit der versucht wurde, mit allen Mitteln die Schlagkraft der Wehrmacht zu erhalten. »Deserteure« und andere Personen, die der »Wehrkraftzersetzung« bezichtigt wurden, wurden zu Zehntausenden zum Tode verurteilt, Hunderttausende kriminalisiert. »In den sechs Jahren des Zweiten Weltkrieges waren bei den Kriegsgerichten rund drei Millionen Strafverfolgungen anhängig. Mindestens 40.000-, wahrscheinlich sogar 50.000mal sprachen deutsche Militärjuristen die Todesstrafe gegen Soldaten und Wehrmachtsgefolge aus, die Kopf-ab-Verfahren der SS- und Polizeigerichte, über die Unterlagen kaum vorliegen, nicht eingerechnet.«³
Die rücksichtslose Anwendung der Todesstrafe während des Zweiten Weltkrieges war aus der Sicht Hitlers eine Konsequenz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Dass das kaiserliche Deutschland nicht rücksichtslos gegen Drückeberger und Deserteure vorgegangen sei, habe sich nach Meinung Hitlers fürchterlich gerächt: »Eine Armee von Deserteuren ergoß sich, besonders im Jahre 1918, in Etappe und Heimat und half mit, jene große, verbrecherische Organisation zu bilden, die wir dann als die Macherin der Revolution nach dem 7. November 1918 plötzlich vor uns sahen.«
Ein gravierendes Handicap sah Hitler auch darin, dass das Deutsche Kaiserreich während des Ersten Weltkrieges keine wirklich kriegsentschlossene politische Führung besaß. Den damaligen Reichskanzler Bethmann Hollweg nannte er einen »philosophierenden Schwächling«: »Es war ein Verhängnis, daß unser Volk seinen Daseinskampf ausfechten mußte unter der Reichskanzlerschaft eines philosophierenden Schwächlings. Hätten wir anstelle eines Bethmann Hollweg einen robusteren Volksmann als Führer besessen, würde das Heldenblut des gemeinen Grenadiers nicht umsonst geflossen sein.«
Vernichtung des Marxismus
Schwere Fehler habe nach Ansicht Hitlers auch Kaiser Wilhelm II. gemacht. Ihm warf er vor, sich mit den Todfeinden eingelassen zu haben. In »Mein Kampf« legte er dar, dass es ein schwerer Fehler von Kaiser Wilhelm II. gewesen sei, sich mit marxistischen Organisationen, deren Führer in Hitlers Augen allesamt Juden waren, zu verständigen. »Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche. Mit den Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-oder.«
Die Frage der Zukunft der deutschen Nation sei die Frage der Vernichtung des Marxismus, erklärte Hitler. Seiner Meinung nach hätte der Kaiser im August 1914 die Gunst der Stunde nutzen müssen. »Nun wäre aber der Zeitpunkt gekommen gewesen, gegen die ganze betrügerische Genossenschaft dieser jüdischen Volksvergifter vorzugehen. Jetzt mußte ihnen kurzerhand der Prozeß gemacht werden, ohne die geringste Rücksicht auf etwa einsetzendes Geschrei oder Gejammer. Im August des Jahres 1914 war das Gekungel der internationalen Solidarität mit einem Schlage aus den Köpfen der deutschen Arbeiterschaft verschwunden (…). Es wäre die Pflicht einer besorgten Staatsregierung gewesen, nun, da der deutsche Arbeiter wieder den Weg zum Volkstum gefunden hatte, die Verhetzer dieses Volkstums unbarmherzig auszurotten.«
Dieses »Ungeziefer« – so Hitler wörtlich – hätte vertilgt werden müssen. »Stattdessen aber streckte seine Majestät der Kaiser selber den alten Verbrechern die Hand entgegen und gab den hinterlistigen Meuchelmördern der Nation damit Schonung und Möglichkeit der inneren Fassung. Nun konnte also die «Schlange» wieder weiterarbeiten, vorsichtiger als früher, doch nur desto gefährlicher. Während die Ehrlichen vom Burgfrieden träumten, organisierten die meineidigen Verbrecher die Revolution.« Was Kaiser Wilhelm II. in den Augen Hitlers versäumt hatte, wurde 1933, gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, nachgeholt. Das Regime ging mit einem beispiellosen Terror gegen Oppositionelle vor. Zehntausende Intellektuelle, Juden, Pazifisten, Gewerkschaftler, Kommunisten und Sozialdemokraten wurden verhaftet und umgebracht.
Antisemitische Hetze
Hitler fand keineswegs alles im Kaiserreich kritikwürdig, das Heer stellte er stets als vorbildlich dar. Das Heer der Kaiserzeit bezeichnete Hitler als die »gewaltigste Schule der deutschen Nation«. »Was das deutsche Volk dem Heere verdankt, läßt sich kurz zusammenfassen in ein einziges Wort, nämlich: Alles.« Vor allem im Weltkrieg habe sich das Heer bewährt. »Mögen Jahrtausende vergehen, so wird man nie von Heldentum reden und sagen dürfen, ohne des deutschen Heeres des Weltkrieges zu gedenken.«
Nicht das Heer sei schuld an der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg. »Es gehört schon«, so Hitler, »eine wahrhaft jüdische Frechheit dazu, nun der militärischen Niederlage die Schuld am Zusammenbruch beizumessen (…).« »Die Niederlagen auf dem Schlachtfelde im August 1918«, so fuhr Hitler fort, »wären spielend leicht zu ertragen gewesen. Sie standen in keinem Verhältnis zu den Siegen unseres Volkes. Nicht sie haben uns gestürzt, sondern gestürzt wurden wir von jener Macht, die diese Niederlagen vorbereitete (…)«. »Während die Front«, so Hitler weiter, »die letzten Vorbereitungen zur endlichen Beendigung des ewigen Kampfes vornahm (…), brach in Deutschland das größte Gaunerstück des ganzen Krieges aus. Deutschland sollte nicht siegen: In letzter Stunde, da der Sieg sich schon an die deutschen Fahnen zu heften drohte, griff man zu einem Mittel, das geeignet erschien, mit einem Schlage den deutschen Angriff des Frühjahrs im Keime zu ersticken, den Sieg unmöglich zu machen: Man organisierte den Munitionsstreik.«
Das deutsche Volk habe jedoch in jenen Schicksalstagen »den inneren Feind« nicht erkannt. »Ein einziger focht in diesen langen Jahren mit unerschütterlicher Gleichmäßigkeit, und dies war der Jude. Der Davidstern stieg im selben Maße immer höher, in dem der Wille zur Selbsterhaltung unseres Volkes schwand.«
In den Augen Hitlers hatte »der Jude« während des Ersten Weltkrieges eine besondere Schuld auf sich geladen. Der verlorene Krieg sei »nur die Folge« seines Wirkens gewesen. »Hätte man zu Kriegsbeginn einmal zwölf oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen erdulden mußten, wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutscher das Leben gerettet.« Auch der 9. November 1918 sei das Werk der Juden gewesen. Für diesen Tag werde man sich an den Juden rächen.⁴ Daraus zog Hitler den Schluss: »Nur die Beseitigung der Ursachen unseres Zusammenbruchs sowie die Vernichtung der Nutznießer derselben kann die Voraussetzung zum äußeren Freiheitskampf schaffen.« Das Jahr 1918 – so Hitler – dürfe »sich in der Geschichte niemals wiederholen«.⁵
Ausbeutung der Zukunft
Inspiriert von den annexionistischen Kriegszielen des »Alldeutschen Verbandes« und der Eroberungspolitik Erich Ludendorffs im Ersten Weltkrieg entwickelte Hitler seine »Bodenpolitik«. In »Mein Kampf« hatte er dargelegt, dass es Aufgabe des »deutschen Volkes« sein müsse, neue Siedlungsgebiete im Osten zu erlangen. Es könne »nicht Absicht des Himmels sein (…), dem einen Volk fünfzigmal so viel an Grund und Boden auf dieser Welt zu geben, als dem anderen«. Solch eine »Bodenpolitik« wäre nach Hitler schon im Ersten Weltkrieg richtig und notwendig gewesen. Statt dessen habe man sich aber auf die Kolonien konzentriert und habe dann auch noch diese Kolonialpolitik halbherzig betrieben. Heute könne aber – so Hitler – zusätzlicher Siedlungsraum nicht mehr mit dem Erwerb von Kolonien gewonnen werden. »Wir Nationalsozialisten«, so betonte Hitler, ziehen »bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit (…). Wir schließen endlich die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit ab und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.«
Der in Aussicht genommene Krieg war von Anfang an als »Beutekrieg« geplant. Hitler gab die Linie vor: »Man müsse stets davon ausgehen, dass diese Völker uns gegenüber in erster Linie die Aufgabe haben, uns wirtschaftlich zu dienen. Es müsse daher unser Bestreben sein, mit allen Mitteln wirtschaftlich aus den besetzten russischen Gebieten herauszuholen, was sich herausholen lasse.«⁶ Die Bodenschätze sollten in den eroberten Gebieten ausgebeutet werden und die unterworfenen Völker den Deutschen als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. In welcher Weise das vor sich gehen sollte, erläuterte später Heinrich Himmler: »Diese Bevölkerung wird als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten) stellen (…).«⁷ Besonderen Wert wurde darauf gelegt, dass die »Unterworfenen« keine höhere Bildung bekommen sollten. »Für die nicht deutsche Bevölkerung des Ostens«, so Himmler, »darf es keine höheren Schulen geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schule geben (…).«⁸ Ähnlich äußerte sich auch Hitler: »Kenntnisse der Russen, Ukrainer, Kirgisen usw. im Lesen und Schreiben könnten uns nur schaden. Denn sie ermöglichten es helleren Köpfen, sich ein gewisses Geschichtswissen zu erarbeiten und damit zu politischen Gedankengängen zu kommen, die irgendwie immer die Spitze gegen uns haben müßten.«⁹
Kriegsvorbereitung
Hitler war sich völlig im klaren, dass solche Ziele nur gewaltsam zu erreichen sind, nur – wie er es in »Mein Kampf« formulierte – mit der »Gewalt eines siegreichen Schwertes« erkämpft werden können. Dabei ging Hitler allerdings schrittweise vor. Die Eroberung der politischen Macht in Deutschland war der erste Schritt. Nach der Ausschaltung jedweder Opposition wurde der Eroberungskrieg vorbereitet. Die Bevölkerung wurde psychologisch auf den kommenden Krieg eingestellt. In der Schule wurden Aufsätze geschrieben, die ganz im Zeichen des kommenden Krieges standen.¹⁰
Außenpolitisch ging Hitler ebenfalls schrittweise vor. Ihm ging es nicht lediglich um die Revision von Versailles, sondern jede außenpolitische Aktion war die Voraussetzung für den nächsten Schritt, war nur Etappe auf dem Weg zum eigentlichen Ziel: dem Lebensraum im Osten. Der Austritt aus dem Völkerbund, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die forcierte Aufrüstung sowie die Rheinlandbesetzung waren der Auftakt zu einer Reihe weiterer Schritte. Im August 1936 entwarf Hitler eine Denkschrift zum Vierjahresplan. In ihr hieß es: »Wir sind überbevölkert und können uns auf der eigenen Grundlage nicht ernähren (…). Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes (…). Ich stelle damit folgende Aufgabe: I. Die deutsche Armee muß in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muß in 4 Jahren kriegsfähig sein.«¹¹
Am 5. November 1937 fand in der Reichskanzlei im engeren Kreis eine Geheimkonferenz statt. Hitler hatte dazu einleitend erklärt, dass der Gegenstand der Besprechung von »derartiger Bedeutung« sei, dass er ihn nicht im großen Kreis des Reichskabinetts zum Gegenstand der Besprechung machen wolle. Was Hitler nun vortrug, war nichts anderes als das Konzept, das er in »Mein Kampf« entwickelt hatte. Die deutsche Zukunft – so legte er dar – könne nur durch die Lösung der Raumnot gesichert werden. »Daß jede Raumerweiterung nur durch Brechen von Widerstand und unter Risiko vor sich gehen könne, habe die Geschichte aller Zeiten (…) bewiesen. (…) Weder früher noch heute habe es herrenlosen Raum gegeben, der Ankäufer stoße stets auf den Besitzer.«¹² Daraus zog Hitler die Konsequenz: »Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben (…).«¹³ Wenn man sich aber erst einmal zu der Gewaltlösung entschieden habe, könne es nur noch um die Frage des »Wann« und »Wie« gehen. Sein unabänderlicher Entschluss, dass spätestens 1943/45 die deutsche Raumfrage gelöst sein muss, stehe aber fest.
Die Ausführungen Hitlers riefen bei der Mehrheit der Anwesenden Betroffenheit und Bestürzung hervor. Vor allem Konstantin von Neurath, Werner von Blomberg und Werner Freiherr von Fritsch warnten mit aller Eindringlichkeit vor dem Risiko eines Krieges mit England und Frankreich; Hitler unterschätzte deren militärische Mittel vollkommen.¹⁴ Neurath, der nach dieser Besprechung tief erschüttert war und vergebens versucht hatte, Hitler von seinem Angriffsprogramm abzubringen, bat um seine Entlassung.¹⁵ Für solch eine Politik wolle er nicht die Verantwortung mittragen. Auch die Tage von Blomberg und Fritsch waren gezählt. Mithilfe infamer Intrigen wurden beide ihrer Posten enthoben, Fritsch in den Selbstmord getrieben. Der Weg war nun frei für eine weitere Radikalisierung der deutschen Außenpolitik.
Pazifismus abgelegt
Im März 1938 erfolgte der Einmarsch in Österreich. Kaum war der Anschluss Österreichs vollzogen, da bereitete Hitler auch schon den nächsten Schlag vor. Sein Ziel war es nun, die Tschechoslowakei unter deutsche Kontrolle zu bringen. Dabei nutzte er die Nationalitätenkonflikte innerhalb der Tschechoslowakei für seine Pläne aus. Rund drei Millionen Sudetendeutsche lebten in dem am 28. Oktober 1918 neu gegründeten Staat. Hitler forderte die Abtrennung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich unter dem ständigen Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Zugleich wurde betont, dies sei die letzte deutsche territoriale Forderung. In seiner Sportpalastrede vom 26. September 1938 erklärte Hitler: »Und nun steht vor uns das letzte Problem, das gelöst werden muß und gelöst werden wird! Es ist die letzte territoriale Forderung, die ich Europa zu stellen habe, aber es ist die Forderung, von der ich nicht abgehe, und die ich so Gott will, erfüllen werde.«¹⁶ Er versicherte: Wenn dieses Problem gelöst sei, gäbe es für Deutschland in Europa keine territorialen Probleme mehr.
Das Sudetengebiet war gerade dem Reich einverleibt, da verschärfte das Regime seinen Kurs. Am 9. November 1938 brannten in der Reichspogromnacht zahlreiche jüdische Synagogen. Einen Tag später hielt Hitler eine Geheimrede vor Vertretern der deutschen Presse. Darin forderte er von den Journalisten und Funktionären des gesamten Propagandaapparates, dem deutschen Volk »langsam klar zu machen, daß es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen«. Die »pazifistische Platte« habe sich jetzt »bei uns abgespielt«. Ihr glaubte man ohnehin nicht mehr.¹⁷
Am 14. März 1939 wurde der tschechoslowakische Staatspräsident Emil Hácha zu Verhandlungen mit Hitler nach Berlin bestellt. Hitler erklärte, seine Geduld sei nun erschöpft. Es gäbe nur zwei Möglichkeiten: Kampf oder gütliche Regelung. Der Staatspräsident erlitt einen Herzanfall; der herbeigerufene Arzt konnte mit Spritzen den Zusammengebrochenen so weit wieder aufrichten, dass er noch die Unterwerfungsurkunde unterzeichnen konnte. In ihr hieß es, der tschechische Staatspräsident lege »das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches«.¹⁸ Zwei Stunden später überschritten deutsche Truppen die Grenze. England machte nun deutlich, dass die Grenzen der Zumutung und der Konzessionen erreicht seien und dass man entschlossen war, jedem weiteren Übergriff Hitlers entgegenzutreten, auch wenn dies den großen Krieg bedeuten sollte.
Am 31. März 1939 gaben England und Frankreich Polen gegenüber Garantieerklärungen ab. Sie befürchteten, dass Polen das nächste Opfer hitlerfaschistischer Aggressionspolitik werden könnte. Die Entwicklung gab ihnen recht. Hitler hatte seine weitgesteckten Lebensraumziele, wie er sie in »Mein Kampf« entwickelt hatte, nie aufgegeben. Am 1. September 1939 überfiel er Polen, und am 22. Juni 1941 begann der Krieg gegen die Sowjetunion, der als Vernichtungskrieg geplant und als solcher geführt wurde.
Anmerkungen
1 Siehe zum Thema ausführlicher: Bernhard Sauer: Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg. Berlin 2023
2 Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe, 58. Aufl. München 1933, S. 148 f. Alle Zitate, so nicht anders angegeben, sind hieraus entnommen.
3 Der Spiegel, 19.10.1987, S. 112 ff.
4 Vgl. Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 2003, S. 164
5 Zit. n. ebd., S. 64
6 Adolf Hitler am 11.4.1942. In: Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Berlin 2003, S. 101
7 Denkschrift des Reichsführers SS Heinrich Himmler vom 25.5.1940, zit. n. Weltgeschichte im Aufriss, Bd. 3, Teil 1. Vom Ersten Weltkrieg bis 1945. Hg. v. Werner Ripper in Verbindung mit Eugen Kaiser, Frankfurt am Main/Berlin/München 1976, S. 454
8 Ebd., S. 453
9 Adolf Hitler am 11.4.1942. In: Tischgespräche (Anm. 6), S. 270ff.
10 Vgl. Bernhard Sauer: »Das Leben bedeutet Kampf«. Abituraufsätze im »Dritten Reich«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. (2012)
11 Zit. n.: Adam: Judenpolitik (Anm. 4), S. 113
12 Hoßbach-Niederschrift, siehe: https://www.1000dokumente.de/Dokumente/Das_Hoßbach-Protokoll
13 Ebd.
14 Vgl. Hans-Ulrich Thamer: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–45. »Siedler Deutsche Geschichte« Bd. 3, München 2004, S. 563f.
15 Vgl. ebd., S. 564
16 Zit. n. ebd, S. 591
17 Zit. n. ebd., S. 600. Weiter führte Hitler in seiner Geheimrede aus: »Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedenswillens und der Friedensabsichten war es mir möglich, dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm die Rüstung zu geben, die immer wieder für den nächsten Schritt als Voraussetzung notwendig war. (…) Der Zwang war die Ursache, warum ich jahrelang nur vom Frieden redete.« Zit. n. Hildegard von Kotze/Helmut von Krausnick (Hg.): Es spricht der Führer. Gütersloh 1966, S. 269f.
18 Zit. n. ebd., S. 603
Bernhard Sauer ist Historiker. Zuletzt erschien von ihm 2023 das Buch »Der Erste Weltkrieg – ein Vernichtungskrieg?« im Verlag Duncker & Humblot.
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