Nicht gegen das Protokoll
Von Philip Tassev
Am 25. April 1945 reichten sich Soldaten der sowjetischen und der US-Armee auf den Trümmern der Elbbrücke bei Torgau die Hände. 80 Jahre später, bei der Gedenkveranstaltung am Freitag, hat Torgaus Oberbürgermeister, der parteilose Henrik Simon, diesen historischen Moment als einen »symbolischen Akt« und »kraftvollen Ausdruck des Willens zur Verständigung und zum Frieden« bezeichnet. Das Gedenken an diesen Tag sei »mehr als ein Rückblick«, nämlich ein »Zeichen der Verantwortung, gerade in einer Zeit, in der Frieden keine Selbstverständlichkeit mehr ist«. Angesichts »neuer Krisen, Kriege und Spaltung, die unsere Welt erschüttern«, sei die »Botschaft von 1945 aktueller denn je«. Diese Botschaft sei laut Simon: »Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur! Nie wieder Unmenschlichkeit!« Er beendete seine Rede mit den Worten: »Möge heute von diesem Ort ein klares Zeichen ausgehen für den Frieden, für das Erinnern und für eine gemeinsame Zukunft im Geist der Begegnung, den wir seit 80 Jahren wahren.«
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der nach Simon das Wort ergriff, stieß zunächst in dasselbe Horn: »Torgau, eine Stadt des Friedens«. Er lobte eine Initiative der Linkspartei, die im sächsischen Landtag eine »heilsame Diskussion« über die Bedeutung des 8. Mai angestoßen habe: War das Ende des Hitlerfaschismus nun eine Kapitulation oder eine Befreiung? Zumindest für den östlichen Teil Deutschlands scheint Kretschmer eine klare Antwort zu haben, wenn er anschließend die DDR als »zweite deutsche Diktatur« denunziert. Anders als die SED seien die Nazis durch eine »demokratische Wahl an die Macht gekommen«, und anders als die »zweite deutsche Diktatur« hätten es die Deutschen nicht geschafft, das Greuel der Naziherrschaft zu beenden.
Anschließend nahm Kretschmer Bezug auf die Anwesenheit des russischen Botschafters in der BRD, Sergej Netschajew, bei der Veranstaltung. Der ging die nächste Runde in der Debatte um die Teilnahme von offiziellen Vertretern des russischen Staates am Weltkriegsgedenken voraus. Der ukrainische Botschafter Botschafter Oleksij Makejew hatte noch kurz zuvor am Freitag eine »Ausladung« und ein »Teilnahmeverbot« für den russischen Botschafter gefordert.
Das Außenministerium hatte in einer Handreichung an Länder, Kommunen und Gedenkstätten davon abgeraten, die Teilnahme von russischen und belarussischen Vertretern bei Gedenkveranstaltungen zuzulassen, da Russland diese Veranstaltungen »instrumentalisieren und mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine missbräuchlich in Verbindung bringen« könnte. Auch der Linke-Politiker Wulf Gallert, Mitglied im Vorstand seiner Partei, sprach sich gegen die Teilnahme von russischen Vertretern aus. »Wer heute einen Angriffskrieg führt und diesen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, sollte im Namen dieses Staates nicht an Gedenkfeiern für den Frieden teilnehmen«, sagte er der dpa, fügte aber hinzu, dass nicht alle russischen Staatsbürger pauschal ausgeladen werden sollten. »Gerade russischen Veteranen und Opfern des faschistischen Angriffskrieges muss es möglich sein, an den Gedenkfeiern teilzunehmen. Wir dürfen nicht jene ausschließen, die einst gegen Hitler kämpften oder zu Opfern seines Krieges wurden.«
Auch Kretschmer erinnerte am Freitag an die Millionen von russischen, belarussischen, ukrainischen und georgischen Rotarmisten, die ihr Leben gaben, um Deutschland zu befreien. Das sei »geschichtliche Realität«. Es sei daher »absolut richtig, dass wir diesen Tag begehen« – trotz der Anwesenheit des russischen Botschafters. Er hätte sich aber auch die Teilnahme von Vertretern der US-Botschaft, der Ukraine, Georgiens, aus Belarus oder aus Polen gewünscht – »dass sie nicht kommen, hat vermutlich mit der Anwesenheit des russischen Kollegen zu tun«.
Der russische »Kollege«, Botschafter Netschajew, durfte beim Gedenken in Torgau keine Rede halten. Von einem Reporter darauf angesprochen, sagte er, mit dem diplomatischen Protokoll diskutiere man nicht, ebensowenig »wie mit Terroristen«. Er bedankte sich aber insbesondere beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die Pflege der Denkmäler und Kriegsgräber der sowjetischen Soldaten.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (27. April 2025 um 15:18 Uhr)Wenn jemand die DDR als »zweite deutsche Diktatur« denunziert, dann ist dies Propaganda der untersten Schublade. Herr Kretschmer kann nicht zählen, da er mehr als 1000 Jahre Feudalismus einschließlich Leibeigenschaft vergisst. Eines der für mich berührendsten Bücher schrieb Franz Rehbein (er starb 1909): »Das Leben eines Landarbeiters«. Die Diktatur, ja Sklaverei, der er sich beugen musste, ging keineswegs nur von Großgrundbesitzern oder Adligen aus, sondern auch von vielen Bauern, die einen Hof besaßen und ihre Knechte so behandelten. Die sozialistische Umgestaltung war eine dringende Notwendigkeit, die aber ihrerseits allein auf der Grundlage von Freiwilligkeit nicht durchzusetzen war. Für die einen war es dann weniger Diktatur, für die anderen mehr – es kommt auf das Verhältnis an. Seit der Urgesellschaft wurden die Gegner des jeweils herrschenden Systems in allen (!) Gesellschaftsordnungen entweder mit dem Tode, mit Körperstrafen, Haft, dann dadurch auch Verlust ihrer Gesundheit oder mindestens gesellschaftlicher Stigmatisierung (Ächtung der geäußerten Meinung und im sozialen Umfeld, Verlust des Arbeitsplatzes, Berufsverbote etc.) sanktioniert. Ausnahmslos gab es in Jahrtausenden stets die Gruppe A, einen Personenkreis, der ein gutes Auskommen zum Leben hatte und weitgehende Freiheiten genoss, dann den Personenkreis B, bei dem das weniger oder gar nicht der Fall war, für den mehr Zwang herrschte. Die Demokratien im alten Griechenland oder bei Gründung der USA beinhalteten für einige Bevölkerungsgruppen sogar die Sklaverei. Wie ist das Verhältnis zwischen Zwang und Freiheiten bei allen (!) Beteiligten? Wie groß ist tatsächlich ihr Mitspracherecht? Darauf kommt es an, nicht darauf, ob man es Demokratie nennt. Die Lebensbedingungen der Zuarbeiter in den Kolonien moderner Prägung gehören immer mit auf die Waagschale Diktatur/Demokratie. Dazu gehören dann auch die Arbeitsbedingungen in Staaten der Dritten Welt, wo Menschen nach wie vor ausgepresst werden, nur um den erschwinglichen Konsum und die relativen Freiheiten eines großen Teils der Bevölkerung der BRD mit zu erwirtschaften. Wenn in Deutschland jemand zwei Jobs haben muss, um über die Runden zu kommen, oder Fahrzeiten von 3 bis 4 Stunden täglich, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, dann ist das eben eine Form von Zwang, der in der DDR nicht üblich war. In allen (!) Systemen überlegt sich jeder Bürger, wie und worüber er sich in der Öffentlichkeit äußert, z. B. bald am 8. Mai am sowjetischen Ehrenmal. Einige unerwünschte Einschätzungen zum Ukraine-Krieg – und du kannst vor Gericht landen. Wenn ich mir den freien Meinungsaustausch zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber anschaue, das Arbeitsrecht, das Mietrecht und viele der andere Punkte, dann schneidet die DDR beim Vergleich mit der BRD recht gut ab. Bestimmte Freiheiten, die jetzt größer sind, werden groß herausgestellt. Dort aber, wo mehr Zwang herrscht, ist es dann eben vollkommen natürlich und von Gott gegeben. Die Reisefreiheit kann nicht nur durch eine Mauer eingeschränkt werden, sondern ebenso durch die soziale Situation oder Auflagen des Arbeitsamtes. Der systemische Zwang zu maximalem Profit ist so umfassend und überall, wie in der DDR kein Politbüro in das tägliche Leben jedes Menschen eingreifen konnte.
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Leserbrief von Raimon Brete aus Chemnitz (26. April 2025 um 21:30 Uhr)Der Tag von Torgau – eine beschämende Offenbarung! Mit den Handschlägen und Umarmungen von sowjetischen und amerikanischen Soldaten in Torgau an der Elbe war einst eine große Hoffnung verbunden. Die Menschen wünschten nichts sehnlichster, als dass es nie wieder Krieg und Faschismus geben werde, dafür aber Völkerverständigung geben werde. Ernüchternd muss man heute feststellen, dass eine Art politische Amnesie zum Verlauf, zu den Ergebnissen und Lehren des Zweiten Weltkrieges im Westen um sich greift. Dieser Krieg gilt als der ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs-und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt. Zum 80. Jahrestag des Gedenkens an die Millionen Opfer der Faschisten und ihrer Kollaborateure bildete sich eine Koalition von Politikern und Beamten, beginnend beim Außenministerium über Ministerpräsidenten, Partei- und Gewerkschaftsobere und Gedenkstättenvorsitzende, die in unheiliger Allianz darüber bestimmen wollen, wer von den ehemaligen siegreichen Alliierten offiziell an den Feierlichkeiten teilnehmen darf. Sachsens Ministerpräsident schießt dabei mit seinen geschichtsvergessenen Behauptungen und »diplomatischen« Deutungen unrühmlich den Vogel ab. Das Mitglied des Bundesvorstandes der Partei Die Linke, Wulf Gallert, drängt sich mit ahistorischen Betrachtungen vorwitzig in diese Gesellschaft. Enttäuschend, aber bezeichnend, dass westliche Diplomaten und deren östliche Verbündeten den toten Kriegsopfern die Ehrerbietung durch Abwesenheit verweigerten. Angemessen und wohltuend der Auftritt des russischen Botschafters, eingedenk der geschichtlichen Verantwortung am historischen Ort. (…) Für uns ist und bleibt der 8. Mai der Tag der Befreiung vom Faschismus. Nie wieder Faschismus – Nie wieder Krieg! Raimon Brete, Matthias Schwander und Dietmar Lehmann
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (28. April 2025 um 12:29 Uhr)»Mit den Handschlägen und Umarmungen von sowjetischen und amerikanischen Soldaten in Torgau an der Elbe war einst eine große Hoffnung verbunden.« Das war sicher der Wunsch vieler aufrechter Antifaschisten. Doch als dieses Treffen erfolgte, waren die Weichen für den Kalten Krieg bereits gestellt. Nachdem sich seit der Schlacht bei Stalingrad eine Niederlage Deutschlands mehr und mehr abgezeichnet hatte, unterstützten die USA unter Präsident Roosevelt zwar die UdSSR (die übrigens dieses »Geschenk« in Devisen, Gold und der Lieferung bestimmter Bodenschätze selbst bezahlte). Doch zuvor gehörten die USA zu den führenden Ausrüstern der Wehrmacht, halfen Nazideutschland auf vielen Gebieten, diesen Krieg zu führen. In der gestrigen Ausgabe der Nachdenkseiten erschien ein sehr aufschlussreicher und ausführlicher Artikel unter dem Titel: »Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion: Zugleich ein US-Stellvertreterkrieg«. Sehr lesenswert! Dass die Unterstützung Hitlers und die Ausrüstung der Wehrmacht durch die USA einen solchen Umfang hatten, war mir nicht bekannt und legt natürlich sofort Parallelen zum Stellvertreterkrieg in der Ukraine nahe. Damals wie heute: Sobald klar wurde, dass es die Russen schaffen, änderten die USA (vorübergehend) ihre Taktik.
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