Lange Matte, Stirnband
Von André Dahlmeyer
Einen wunderschönen guten Morgen! Am 20. April starb in Buenos Aires eines der größten Fußballidole Lateinamerikas, der ehemalige argentinische Tormann der Boca Juniors, Hugo Orlando »el Loco« (der Verrückte) Gatti. Er wurde 80 Jahre alt. Zwei Monate zuvor war er beim Gassigehen mit dem Hund gestürzt, hatte sich die Hüfte gebrochen. Im Hospital gab es Komplikationen, Lungen- und Nierenentzündungen etc. Gatti wurde künstlich beatmet. Die Verwandten entschieden sich, seinem Leiden ein Ende zu machen.
Gatti war wahrscheinlich der erste Tormann, der auch als Libero agierte. Ausflüge in die Hälfte des Gegners inklusive Torvorlagen waren eher die Regel. Den argentinischen Fußball prägte er ein Vierteljahrhundert lang. Er machte das Balltreten der Silberländer bunt, interpretierte den damals undankbarsten Posten des Spiels neu, alles Konventionelle ging ihm ab.
1962 debütierte er bei Atlético Atlanta in Buenos Aires. Als er 1988 bei Boca Juniors 44jährig seine Karriere beendete, hatte er 765 Erstligamatches in 26 Spielzeiten hinter sich, einsamer Rekord. Sensationell auch seine 26 gehaltenen Elfmeter in der Primera División – ebenso viele wie sein ewiger Konkurrent und Freund Ubaldo Matildo »Pato« (Erpel) Fillol. Den wichtigsten Strafstoß seines Lebens parierte Gatti indes nicht in Argentinien, sondern im September 1977 im vermatschten Centenario von Montevideo im Endspiel der Copa Libertadores gegen Cruzeiro Belo Horizonte. Das Match hatte nach 120 Minuten 0:0 geendet. Cruzeiros Linksverteidiger, Kapitän Vanderlei, trat zum letzten Strafstoß für die Brasilianer an. Ein Linksfuß. Gatti spekulierte darauf, dass er diagonal abschließen würde. So war es. El Loco wehrte den Ball ab, schenkte den Xeneizes den ersten internationalen Pott ihrer Vereinsgeschichte.
Mit Boca Juniors gewann Gatti die sechs Titel seiner Karriere: drei Meisterschaften (die letzte, 1981, zusammen mit Maradona), zwei Libertadores und im August 1978 in Karlsruhe den Weltpokal gegen das mit Fußballmonstern gespickte Borussia Mönchengladbach (0:3-Klatsche der Fohlen) von Udo Lattek. Boca Juniors war damals definitiv das beste Team der Welt. Der FC Liverpool weigerte sich zweimal hintereinander, gegen die Argentinier um den Weltpokal zu kicken. Die Spieler wussten, weshalb.
Bei Gatti sah man schon in seiner Anfangszeit bei Atlanta, dass er sich zwischen den Pfosten langweilte. Torrumsteher war nichts für ihn, sollten andere machen. Gatti zog es in die weite Welt, das Feld des Gegners, Freunde treffen, Feinde foppen. Gatti sah Spielzüge voraus, wie es nur die Großen können. Wie Andre Agassi im Tennis revolutionierte er die Tormannklamotten, es wurde farbig. Dazu lange Matte und Stirnband. 1966 zitierte ihn Nationaltrainer »Toto« Lorenzo zur WM 1966, als Ersatz für den großen Antonio Roma. 1976 holte Lorenzo ihn zu Boca. Die Fans der Xeneizes verliebten sich augenblicklich in den Showman.
Im Grunde wäre Gatti Argentiniens Tormann für die Heim-WM 1978 gewesen. Bei der Europatournee Menottis Anfang 1976 hielt er sensationell, war der Held beim 1:0 im Schneetreiben Kiews gegen die Sowjetunion und beim Sieg gegen den WM-Dritten Polen. Von einem fiesen Unterkieferbruch im selben Jahr erholte er sich rasch, spielte bei den WM-Tests 1977 in der Bombonera gegen Polen und die BRD. Gegen die DDR war er schon nicht mehr dabei, er entschied sich für eine Knieoperation, Menotti entschied sich für Fillol, sehr gut auf der Linie, ansonsten eher bieder, das Gegenteil des genialen Egozentrikers und Nonkonformisten Gatti, dessen Vorbild kein Geringerer als Muhammad Ali war.
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