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Aus: Ausgabe vom 23.04.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Wohnungsnot

Hunderttausende ohne Bleibe

Brasilien: Mehr als 300.000 Wohnungslose trotz freier Wohnungen: Die Löhne sind zu niedrig und die Mieten zu hoch
Von Volker Hermsdorf
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Zeltstädte offenbaren das Ausmaß von Obdachlosigkeit und Armut in Brasilien (São Paulo, 4.12.2023)

Mehr als 300.000 Brasilianer haben keine Wohnung. Im ersten Quartal 2025 ist die Zahl der Obdachlosen erneut gestiegen. Dafür sind vor allem dramatische ansteigende Mieten verantwortlich, die immer mehr Familien finanziell überfordern. Erwerbslose, Menschen mit geringer Bildung und Drogenabhängige betrifft das besonders. Experten werfen der Regierung das Fehlen effizienter Programme zur Armutsbekämpfung vor und fordern schleunigst Maßnahmen, die speziell auf die obdachlose Bevölkerung ausgerichtet sind.

Ende März erfasste das Register der Bundesregierung für Sozialprogramme (CadÚnico) 335.151 Wohnungslose, 0,37 Prozent mehr als im Dezember 2024 (327.925). Die Daten stammen aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der brasilianischen Beobachtungsstelle für Obdachlose an der Bundesuniversität von Minas Gerais, der sich wiederum auf Daten des Ministeriums für Entwicklung und Sozialhilfe, Familie und Hungerbekämpfung (MDS) stützt. Trotz der relativ geringen Zunahme wird der Anstieg darin als besorgniserregend bezeichnet. Denn die im März verzeichnete Zahl ist 14,6 Mal höher als im Dezember 2013. Damals hatten nach offiziellen Angaben nur 22.900 Menschen auf der Straße gelebt.

Zur Einordnung der älteren Daten wies das MDS allerdings auf die unzureichende Berichterstattung hin, insbesondere auf die mangelhaften Registrierungen während der Regierungszeit des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro (2019–2022). Erst im Jahr 2023 sei die Ausbildung von Interviewern und Betreibern des einheitlichen Registers wieder aufgenommen und die Rolle der Gemeinden bei der Datenerhebung gestärkt worden, berichtete die staatliche Agentur Agência Brasil. Der Koordinator der Beobachtungsstelle für Obdachlose, Andre Luiz Freitas Dias, bestätigte, dass die Zunahme auf eine verbesserte Erfassung durch staatliche Institutionen zurückzuführen sei. Da aber selbst die aktuelle Erhebung nicht das ganze Bild abdeckt, gehen Experten von einer wesentlich höheren Dunkelziffer aus.

Die sozialdemokratische Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva hat offenbar keine schlüssigen Konzepte, um die prekäre Situation nachhaltig zu verändern. Dem aktuellen Bericht zufolge sind 88 Prozent der offiziell registrierten Obdachlosen zwischen 18 und 59 Jahre alt, neun Prozent sind älter und drei Prozent sind Jugendliche oder Kinder. Mehr als die Hälfte (52 Prozent) der Wohnungslosen hat die Grundschule nicht abgeschlossen oder verfügt über keine Ausbildung. Laut amtlicher Statistik wohnt jeder fünfte Brasilianer zur Miete. Darum landen Ärmere, aber auch Beschäftigte mit niedrigen Einkommen auf der Straße, wenn Spekulanten die Preise in die Höhe treiben. Vergangenes Jahr seien die Mieten in Brasilien um 13,5 Prozent gestiegen, berichtete die Rio Times im Januar. 2023 und 2022 habe der Anstieg jeweils mehr als 16 Prozent betragen.

Geographischer Schwerpunkt ist dabei São Paulo, wo 40 Prozent der Obdachlosen leben. Robson César Correia de Mendonça von der Obdachlosenbewegung des Bundesstaates wies in einem Interview mit Agência Brasil darauf hin, dass in der Stadt 590.000 Wohnungen leerstehen. Eine um das Sechsfache höhere Zahl, als die von der Beobachtungsstelle dort im März registrierten 96.220 Obdachlosen. Laut Mendonça belege der Missstand den Mangel an politischem Interesse an der Lösung des Problems. Neben Maßnahmen gegen Mietwucher fehle es vor allem auch an effizienten Programmen zur Armutsbekämpfung. Laut dem CadÚnico-Bericht verfügten 81 Prozent (272.069) der Obdachlosen maximal über 109 Brasilianische Real (rund 16 Euro) pro Monat, was etwa sieben Prozent des Mindestlohns von derzeit 1.518 Real (226 Euro) entspreche.

Angesichts des Anstiegs der Obdachlosenzahlen verwies das MDS zwar auf Investitionen in die Ausbildung und den Ausbau von Betreuungszentren, räumte aber ein, dass es noch »Herausforderungen« gäbe. Die Regierung kann immerhin zu Recht behaupten, dass Not und Elend in Brasilien seit Amtsantritt von Lula da Silva auf ein historisches Niveau gedrückt wurden. Das Land schloss 2023 mit dem niedrigsten Stand bei Armut und extremer Armut in der seit 2012 dazu geführten Statistik ab.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (23. April 2025 um 07:35 Uhr)
    Es gab einst in NL und GB die rechtliche Möglichkeit, leerstehenden Wohnraum durch spontane Aneignung durch Privatpersonen wieder der Nutzung zuzuführen. Das heute auch durch die Linke diese Gesetzeslage aus den 1970ern so vehement »vergessen« wird, ist bezeichnend für den Zustand derselben.

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