Vor Gericht
Von Reinhard Lauterbach
Wir waren spät dran zum Konzert im Nationalen Musikforum in Wrocław am vergangenen Sonntag. Als wir in den Saal kamen, war es schon dunkel, das Orchester stimmte sich ein. Als Dirigent Mark Minkowski – bekannt von den Musiciens du Louvre – und die Solisten die Bühne betreten, bleiben die Chorbänke hinter dem Orchester leer. Nanu? Was wird denn das?
Es wurde eine im Klangbild sehr ungewohnte Johannespassion, zumal das Breslauer Barockorchester (Wrocławska Orkiestra Barokowa) durchaus nicht spärlich besetzt war. Minkowski nimmt die Tempi schnell, und dann stimmen neun Sänger das »Herr, unser Herrscher« an – je zwei für jede Solostimme, dazu der Evangelist. Der Höreindruck ist: sehr hineinziehend, die Sprachverständlichkeit hervorragend, die Worte haben gar keine Gelegenheit, im opulenten Chorklang unterzugehen. In dieser Hinsicht eine sehr protestantische Interpretation, weil sie ganz wie die Vorlage mit dem Satz »Am Anfang war das Wort« beginnt und eben den Inhalt in den Mittelpunkt stellt. Nicht genug loben konnte man Sebastian Kohlhepp als Evangelisten, sehr stark auch der grabestiefe Bass von James Platt, der später den Part des Pilatus sang, und die Sopranistin Hannah de Priest wie auch Nina van Essen im Mezzosopran.
Ein großer Vorteil der knappen Besetzung ist, dass die Feinheit der Stimmführung auch in den Choralsätzen deutlich hörbar wird: Die ganze Kunst, die Bach in die Vertonung der aus dem gottesdienstlichen Alltag bekannten Kirchenlieder gelegt hat, ist zu hören. Dabei ist es durchaus nicht so, dass die acht Sängerinnen und Sänger schwächlich klingen würden. Das »Christus, der uns selig macht« zu Beginn des zweiten Teils kommt so monumental daher, wie es an dieser Stelle sein muss, und was Minkowski im Schlusschor machte, war im wirklichen Sinne unerhört: vom zartesten Pianissimo beim »O Herr, lass dein lieb Engelein« – da sangen die Solisten noch im Sitzen, fast vor sich hin, irgendwann standen sie dann auf und steigerten sich bis zum triumphalen »Dich will ich preisen E-WIG-LICH« am Schluss des Chorsatzes und der ganzen Passion. Bei den Turbae, für die die Johannespassion berühmt ist, gehen die Meinungen auseinander: Eine erfahrene Chorsängerin mit reicher Passionspraxis meinte auf Nachfrage, für die Illustration der Situation des »Allein gegen alle« in Verhör und Prozess Jesu sei ihr ein größerer Chor lieber. Die knappe Besetzung bringt jedoch auch die satztechnische Finesse der Turbae heraus, etwa die chromatischen Dissonanzen des »Lass ihn kreuzigen«.
Die Johannespassion ist von den beiden erhaltenen Passionsmusiken Bachs vermutlich diejenige, die für den nichtgläubigen Zuhörer die einfacher zu rezipierende ist. Wir erleben einen politischen Schauprozess – Intrigen, auch Prozessstrategien, etwa wenn Christus gegenüber dem Diener des Hohepriesters, der ihn für eine zu selbstbewusste Antwort schlägt, antwortet: »Habe ich übel geredt, so beweise es, dass es böse sei – hab ich aber recht geredt, was schlägest du mich?« Damit fordert er die Unschuldsvermutung ein, die wir heute als normal ansehen. Die Spannungen zwischen Pilatus, der auf seinem Gouverneursposten einfach seine Ruhe haben will und Jesus im Grunde für einen harmlosen Spinner hält, und der jüdischen Priesterschaft, die droht, ihn als illoyal zu denunzieren, wenn er ihrer Intrige nicht nachgibt – das ist noch immer spannendste Handlung und ebensolche Musik.
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