Lieder gegen die Bombe
Von Ursula Trüper
Als die 18jährige Elli Jansen ihre erste Stelle antritt, denkt sie vermutlich, sie hätte das große Los gezogen. Im vornehmen Stadtteil Harvestehude in der Hamburger Johnsallee 22 im Haus des Generalkonsuls von Liberia, Momolu Massaquoi, herrscht eine freundliche, weltoffene und großzügige Atmosphäre. Eine Menge Dienstboten sind da. Zu ihnen gehört Elli, die für die beiden kleinen Söhne und den Enkel des Hausherrn¹ als Kindermädchen eingestellt ist. Geld scheint keine Rolle zu spielen. Und dann der Hausherr selbst: ein charmanter, gutaussehender, eleganter Mann … Elli ist hin und weg.²
Momolu Massaquoi ist generell ein interessanter Mann. Der gebürtige Liberianer stammt aus einem reichen Elternhaus, war in den USA zur Schule gegangen und hatte dort studiert. Bevor er seinen Dienst in Hamburg antrat, hatte er in Liberia als Momolu IV. zehn Jahre lang als König über das Volk der Vai geherrscht, das im Grenzgebiet zwischen Liberia und der britischen Kolonie Sierra Leone lebt. Als er aufgrund einer Stammesfehde gezwungen war, auf die Krone zu verzichten, engagierte er sich in der Politik Liberias. Er machte eine steile Karriere und wurde bald eine ernstzunehmende Konkurrenz für den amtierenden Präsidenten Charles Dunbar King. Dieser entledigte sich seines Nebenbuhlers schließlich auf elegante Weise: Er besetzte das Amt des liberianischen Generalkonsuls mit seinem Konkurrenten.
1922 trifft Massaquoi mit Frau und einigen seiner Kinder in Hamburg ein. Er ist der erste offizielle Repräsentant eines unabhängigen afrikanischen Staates und führt ein offenes Haus: nicht nur Regierungsvertreter und europäische Kapitalisten gehen in seiner luxuriösen Villa aus und ein. Auch Schwarze Künstler³ wie der Jazzstar Louis Armstrong, Bürgerrechtler wie W. E. B. Du Bois, Sportler wie der erste Schwarze Schwergewichtsmeister Jack Johnson oder antikoloniale Kämpfer wie Jomo Kenyatta aus Kenia genießen die Gastfreundschaft der Familie Massaquoi.⁴ Sogar Schwarze Kommunisten aus den USA und aus Afrika, die an der »Universität der Werktätigen des Ostens« in Moskau studieren wollen, machen auf ihrem Weg dorthin bei den Massaquois solange Station, bis sich eine Gelegenheit findet, sie in die Sowjetunion weiterzuschleusen.⁵
Als Elli von dem Hausherrn schwanger wird, scheint dies kein Problem zu sein. Der Generalkonsul verspricht, für sie und das Kind ein kleines Häuschen zu kaufen. Als die Wehen einsetzen, bringt er sie in eine teure Privatklinik. Am 20. Juni 1929 kommt seine Tochter zur Welt, der er den Namen Fasia gibt.
Nach zwei Wochen Klinik kehrt Elli mit ihrem Kind ins Haus ihrer Mutter zurück – wohin sonst? Der Generalkonsul ist mit seiner Familie inzwischen nach Liberia zurückgekehrt. Seine Anhänger wollen ihn zum Präsidenten machen. Wie das Leben mit einem Schwarzen Kind weitergehen wird, kann Elli bereits erahnen, als sie an der Haustür klingelt. »Die kommt mir mit das Negergör nicht in mein Haus!« brüllt der Stiefvater.
Elli muss mit ihrem Kind schleunigst eine eigene Wohnung finden. Und nach vielen vergeblichen Versuchen und oft fadenscheinigen Absagen hat sie Glück. Sie findet nicht nur eine Wohnung, »separat, Zimmer und Küche«, am Röhrendamm im Arbeiterviertel Rothenburgsort. Sie findet auch einen Mann, Albert, einen Witwer, der einen Sohn in die Beziehung einbringt. Albert ist Schlosser und Kommunist. Und er liebt Fasia. Später erinnert sie sich an ihn: »Er war ein einfacher Mensch, aber von ihm habe ich unheimlich Kraft gekriegt. Der mochte mich, ist wahnsinnig nett zu mir gewesen, hat mich behandelt, wie sein eigenes Kind. Wenn wir mal zusammen in der Straßenbahn waren und die Leute machten so höhnische Bemerkungen – das hör’ ich wie heute – da ging es Owamba, Owamba, das Negerweib, und dann Hu-hu-hu-hu – Kinder sind ja furchtbar blöde –, dann hat mein Vater mich angeguckt und gesagt: Alles geistig Minderbemittelte, Fasia!«
Aus Liberia kommen keine Nachrichten, geschweige denn Geld. Was die enttäuschte Elli und ihre Mutter nicht wissen: Massaquoi steckt selbst in erheblichen Schwierigkeiten. Es ist ihm nicht gelungen, in Liberia Präsident zu werden. Statt dessen fällt er einer politischen Intrige zum Opfer und kommt ins Gefängnis. Ohne Amt und politisch in Ungnade gefallen, ist er auch finanziell ruiniert. 1938 stirbt er.
Nazizeit überleben
Unterdessen sind in Deutschland die Nazis an die Macht gekommen. Fasias Vater wird zweimal von der Gestapo verhaftet und misshandelt. 1940 wird Fasia auf das Gesundheitsamt bestellt. Dort bekommt sie eine Spritze, eine Impfung, wie die Mutter glaubt. Danach wird sie schwer krank. Vergeblich versucht der Hausarzt herauszubekommen, was genau man ihr injiziert hat. Hatte man etwa versucht, das »nichtarische« Kind zu sterilisieren? Fasia jedenfalls wird nie Mutter werden. Und ein weiteres Andenken an diese Spritze bleibt ihr: Immer wieder erkrankt sie seit dieser Zeit an Herzinnenhautzündung.
Als Fasia zwölf Jahre alt ist, wird sie in die private Tanzschule Sauer aufgenommen. Ihr Vater ist ein großer Fan von Josefine Baker. Zwei Jahre ist Fasia an dieser Schule. Sie erweist sich als begabte Tänzerin und die ganze Familie bemüht sich, diese – vermutlich nicht billige – Ausbildung möglich zu machen. Der Vater baut sogar einen doppelten Fußboden in ein Zimmer, so dass sie einen Proberaum hat. Doch dann wird sie aus der Schule entlassen. »Fräulein Jansen musste aus Gründen ihrer Rasse aus der Schule ausscheiden«, wird die Schulleiterin später schreiben.
Fasia ist wütend und verzweifelt. Um sie zu trösten, macht der Vater Überstunden, um ihr ein Schifferklavier zu kaufen. Wenigstens weiterhin Musik. Fasia lernt die Griffe leicht und kann bald viele Melodien aus dem Gedächtnis spielen.
Im Sommer 1943 findet über Hamburg die berüchtigte Operation »Gomorrha« statt, ein enormer Bombenangriff der britischen Royal Airforce und der US-Streitkräfte. Zusätzlich zu den Zerstörungen durch die Bomben kommt es zu einem Feuersturm bisher unbekannten Ausmaßes. 41.000 Menschen kommen damals im Bombenhagel und in den Flammen um. Fasias Familie überlebt, aber der Röhrendamm ist hinfort unbewohnbar. Der Vater findet einen Platz in einem sogenannten Behelfsheim am Elbdeich. Hier baut er für Fasia einen Unterstand, denn im letzten Kriegsjahr verweigert ihr der Bunkerwart den Zugang zum nahegelegenen Hochbunker. »In den Flugzeugen würden Schwarze Piloten sitzen, schrie er und schüttete seinen Hass über dem Schwarzen Mädchen aus.«⁶
1944 endet Fasias Grundschulzeit. Danach müssen alle Mädchen ihres Jahrgangs ein Pflichtjahr machen. Man teilt sie verschiedenen Familien zu. Fasia glaubt man einer »arischen« Familie nicht zumuten zu können. Sie soll zunächst in der unterirdischen Munitionsfabrik Dünen arbeiten. Ihre Großmutter erreicht dann, dass sie statt dessen in der Küche des Außenlagers Neuengamme arbeiten »darf«. Den grauenhaften Alltag im KZ wird sie ihr Leben lang nicht vergessen. Mit einem »Fremdarbeiter«, dem Ukrainer Nikolai, freundet sie sich an. Ihm erzählt sie jeden Morgen, was ihr Vater verbotenerweise im Radio gehört hat: Wo die Rote Armee grade steht. Dann strahlt Nikolai, fährt mit dem Zeigefinger über seine Kehle und sagt: »Gitler kaputt.« Aber eines Tages kommt Nikolai nicht mehr. Er ist in ein anderes Lager verlegt worden. »Bald darauf,« erzählt sie später in einem Interview, »bin ich bei der Arbeit zusammengebrochen. Das Herz, hohes Fieber … Ich bin ins Krankenhaus eingeliefert worden.« Fasia muss für viele Monate in der Klinik bleiben. Nikolai sieht sie nie wieder. Später, als sie Tourneen durch die Sowjetunion macht, sagt sie vor jedem Auftritt und auch im Rundfunk: »Nikolai, lebst du noch? Bitte melde dich.« Vergeblich.
Und dann ist die Nazizeit endlich zu Ende. Fasia wird aus dem Krankenhaus entlassen und kehrt, abgemagert und schwach, zu ihrer Familie zurück. Alle sind mit dem Kampf gegen Hunger beschäftigt.
Weltfestspiele
Fasia erinnert sich an ihr Schifferklavier. Sie singt auf Ausflugsbooten Seemannslieder und kann damit ein wenig Geld verdienen. Freunde ihres Vaters empfehlen ihr, ihr musikalisches Talent nicht im lokalen Kirchenchor zu verschwenden (wo plötzlich die übelsten Nazis wieder auftauchen, als wäre nichts geschehen), sondern lieber in den Chor der FDJ zu gehen (die gab es 1947 auch in Westdeutschland noch). Fasia lernt Lieder von Brecht und die »Warschawjanka«, und sie merkt, dass sie schon einige kennt. Nikolai und der französische »Fremdarbeiter« Jean hatten damals, in der Küche des KZ Neuengamme, gemeinsam die Internationale gesungen – der eine französisch, der andere russisch.
Von nun an tritt Fasia gemeinsam mit diesem Chor, genannt »Kulturgruppe Dreiklang«, an den Wochenenden auf den Straßen und Plätzen Hamburgs auf. Allerdings muss sie wegen Herzentzündungen fast jedes Vierteljahr ins Krankenhaus. Die Mutter fürchtet, dass ihr all diese Aktionen zuviel werden, und stellt ihr Bett vor Fasias Schlafzimmer. Doch die steigt durchs Fenster.
1951 schickt die Hamburger FDJ Fasia zu einem Kurs in die DDR – bei Nacht und Nebel muss sie die innerdeutsche Grenze überschreiten. Nach dem Ende des Kurses wird sie im Auto an die Grenze gefahren, um genauso konspirativ zurückzukehren. Doch unterwegs verunglückt der Wagen, und Fasia kommt mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Nach ihrer Entlassung bleibt sie vorerst in der DDR. Sie arbeitet in einer Bibliothek, was ihr viel Freude macht. Der Bibliotheksleiter hört sie bei der Arbeit singen und komponiert ein Lied für sie – ein Lied auf Stalin. Er studiert es mit ihr ein. Bald darauf finden die »III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten für den Frieden« in Ostberlin statt. Ungefähr 30.000 Leute drängen sich auf dem Alexanderplatz. Und Fasia tritt erstmalig vor einem riesigen Publikum auf – mit dem Stalin-Lied, aber auch mit dem US-amerikanischen Song: »Schwarz und Weiß bauen neu die Welt«. Dieses Lied wird sie auch später immer wieder singen, es bleibt ihr Lied.
Bei den Weltfestspielen lernt sie noch andere Westdeutsche kennen, beispielsweise die »Niederrheinische Tanz- und Trachtengruppe«. Die sind genauso konspirativ wie sie in die DDR eingereist – die Regierung der BRD hatte versucht, die Grenzen dichtzumachen, um ihre Jugendlichen vor kommunistischen Einflüssen zu schützen – und nehmen Fasia mit ihrem Akkordeon in ihr Programm auf. Damals lernt sie eine wichtige Freundin kennen – Anna aus Oberhausen. Dann sind die Weltjugendfestspiele zu Ende, und Fasia kehrt wieder zurück nach Hamburg. Bald darauf erkrankt sie wieder einmal schwer. Dieses Mal lebensbedrohlich. Als Anna davon hört, kommt sie kurzentschlossen nach Hamburg, wohnt bei Fasias Eltern und besucht ihre Freundin täglich. In Ellis winziger Küche kocht sie jeden Tag Fasias Leibgerichte und bringt sie ihr ins Krankenhaus. Und tatsächlich, Fasia fängt wieder an zu essen und erholt sich langsam.
Eine Ärztin rät Anna, Fasia nach Oberhausen zu holen. Das Hamburger Klima könne auf die Dauer tödlich für sie sein. Anna und ihre Eltern überlegen nicht lange und sagen ja. Und so zieht Fasia bald darauf in deren gastliche Wohnung in Oberhausen-Styrum ein. Wie ihr eigener Vater ist auch Annas Vater Kommunist. Anna ist Mitglied der FDJ. Fasia fühlt sich in Oberhausen bald zu Hause.⁷
Wider die Remilitarisierung
In dieser Zeit ist die Wiederbewaffnungsdebatte in der BRD voll im Gange. Damals wird die Grundlage gelegt für die »Westintegration der Bundesrepublik«: 1949 wird die NATO zum Zwecke der »Eindämmung« der Sowjetunion gegründet. Seither bemüht sich die Regierung Adenauer, Teil dieses westlichen Bündnisses zu werden. Dazu gehört auch ein eigenes westdeutsches Heer.
Doch die meisten Bundesbürger haben den Krieg noch frisch in Erinnerung. Es formiert sich eine breite Gegenbewegung. Intellektuelle, Gewerkschafter, christliche Gruppen, Frauengruppen, die SPD und natürlich auch die FDJ und die westdeutsche KPD organisieren verschiedene Protestaktionen.⁸ Aus den Kreisen der evangelischen Kirche kommt die naheliegende Idee, das deutsche Volk doch selbst zu befragen, ob es wieder eine Armee haben will.⁹ In der Folgezeit formiert sich die sogenannte Volksbefragungsbewegung. In kurzer Zeit beantworten fast sechs Millionen Deutsche die Frage: »Sind Sie gegen die Remilitarisierung Deutschlands und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland im Jahre 1951?« mit Ja.¹⁰ Wäre diese Volksbefragung ordnungsgemäß durchgeführt worden, dann hätte die Mehrheit der Deutschen nach allen Erkenntnissen wohl gegen die Remilitarisierung Deutschlands gestimmt.
Angesichts dieser Stimmung reagiert die Regierung Adenauer mit verschärften Repressionen. Ein bewährtes Mittel ist der Antikommunismus. Jegliche Friedensaktivität gilt als »kommunistisch unterwandert«, eine Behauptung, die man später generell der westdeutschen Friedensbewegung unterstellt.¹¹ Sogar in der evangelischen Kirche sieht Adenauer eine »Spielart der kommunistischen Westinfiltration«. 1951 werden die FDJ und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wegen ihres Engagements in der angeblich von »der SED, dem Gewalthaber der Sowjetzone«, betriebenen »Volksbefragungsbewegung« verboten. Trotz Verbots sammelt die FDJ weiter Unterschriften und stößt auf große Zustimmung.
1952 schlägt die Sowjetunion einen gesamtdeutschen Friedensvertrag vor – unter der Bedingung der Neutralität. Dieser Vorschlag wird von der BRD und den Westmächten abgelehnt. Er wird nicht einmal ernsthaft geprüft. Daraufhin mobilisiert die FDJ zu einer »Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung« in Essen. 30.000 Jugendliche folgen dem Aufruf. Bei dieser Demonstration wird der 21jährige Münchener Jungarbeiter Philipp Müller durch die Polizei erschossen, zwei weitere Demonstranten werden durch Schüsse schwer verletzt. »Notwehr«, befindet das Landgericht Dortmund und spricht die Todesschützen frei.
Nicht so milde gehen die Richter, unter denen sich noch viele Altnazis befinden, mit der FDJ um. Fasias Freundin Anna beispielsweise wird wegen Aktivitäten in dieser – mittlerweile verbotenen – Organisation zu sieben Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Begründung: »Das tragende Motiv ihrer Handlungsweise bestand darin, auch in der Bundesrepublik die kommunistische Gewaltherrschaft zu errichten …«¹²
1955 tritt die Bundesrepublik der NATO bei. Im selben Jahr wird die Bundeswehr gegründet. 1956 wird die KPD verboten und die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Ebenfalls 1956 erklärt der Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, die Atombewaffnung der Bundeswehr sei bereits beschlossene Sache.¹³ Damit will die Bundesregierung sowjetischen Vorschlägen zu einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa zuvorkommen.¹⁴
Wieder bildet sich ein breites Bündnis von SPD, DGB, FDP, evangelischer Kirche, des Linkskatholizismus, von Wissenschaftlern und Schriftstellern gegen die Atombewaffnung. Unter dem Schlagwort »Kampf dem Atomtod« finden zahlreiche Kampagnen und Massenkundgebungen statt. Im Frühjahr 1958 erreichen sie insgesamt etwa 1,5 Millionen Teilnehmer.
Star der Friedensbewegung
1960 wird in Westdeutschland der erste »Ostermarsch« durchgeführt, ein mehrtägiger Schweigemarsch gegen Atomraketen, der an einem Truppenübungsplatz in der Lüneburger Heide endet. In den folgenden Jahren gehen an den Osterfeiertagen immer mehr Menschen an immer mehr Orten auf die Straße, um für ein Ende der atomaren Bewaffnung und des nuklearen Wettrüstens zu demonstrieren. Längst handelt es sich nicht mehr um Schweigemärsche. Vielmehr entsteht ein neues Genre: die »Ostersongs«. Neue Lieder werden gedichtet und vertont, revolutionäre Lieder aus aller Welt ins Deutsche übersetzt, aufsässige Volkslieder aus früheren Zeiten neu entdeckt.
Und Fasia immer mittendrin. Sie spielt nicht mehr Akkordeon, sondern Gitarre, mit der sie ihre Lieder begleitet. Bei der Vorbereitung des Ostermarsches 1962 erkennt man ihr Talent als Solosängerin. Liedermacher wie Dieter Süverkrüp, Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader werden damals gemeinsam mit ihr bekannt. Im selben Jahr erscheinen ihre Lieder erstmalig auf Platte: »Lieder gegen die Bombe«.¹⁵
Fasia wird einer der Stars der westdeutschen Friedensbewegung. Sie tritt überall auf: auf Ostermärschen und Kirchentagen, auf der Burg Waldeck, wo sich linke Liedermacher regelmäßig treffen, auf der UN-Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi (Fasias Kommentar als sie aus dem Flugzeug steigt: »Die sind ja alle Schwarz hier!«). Sie wird nach England, Italien, Frankreich und in die USA eingeladen, sie tritt an der Seite von Angela Davis und Joan Baez auf. Und natürlich nimmt sie weiterhin regelmäßig an den Weltfestspielen der Jugend teil: in der DDR, Österreich, in der Sowjetunion, in Finnland. Später engagiert sie sich bei Arbeitskämpfen und gegen Zechenstilllegungen im Ruhrgebiet, in der Frauenbewegung, in der neu sich bildenden Umweltbewegung, für internationale Solidarität, für Flüchtlingskinder. Und natürlich immer für den Frieden: gegen den Vietnamkrieg, gegen die Stationierung der US-amerikanischen Mittelstreckenraketen »Pershing II«. Sie erhält zahlreiche Strafbefehle wegen Volksverhetzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt.
Durch all ihre Auftritte wird Fasia nicht reich. Die Höhe ihres Honorars ist immer das letzte, was sie interessiert. Gegen Ende ihres Lebens muss sie sogar von Sozialhilfe leben. 1991 soll ihr auf Vorschlag vieler Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen, deren Kämpfe sie mit ihren Liedern unterstützt hat, das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland verliehen werden. Fasia zögert lange, es anzunehmen. Schließlich werden immer wieder sehr eigenartige Typen mit dieser Auszeichnung geehrt. Doch die afrodeutschen Frauen, die sich damals gerade zusammenfinden, bitten sie: »Fasia, du bist die erste von uns, die eine solche Auszeichnung bekommt. Nimm sie für uns alle an.« Okay, aber wenn schon Verdienstkreuz, dann nur mit einem Fest. Ungerührt beantragt sie – zur großen Verwirrung des entsprechenden Mitarbeiters – beim Sozialamt eine Sonderzuwendung für ein riesiges Friedensfest. Später bekommt sie einen »Ehrensold« des Landes Nordrhein-Westfalen.
Doch die alte Herzkrankheit, die man ihr als Kind zugefügt hat, fordert ihren Tribut. In den 1990er Jahren muss sie immer häufiger ins Krankenhaus. Dort ist sie nie allein. Immer ist sie von einem großen Kreis von Freundinnen umgeben, die sich um sie kümmern. Im Oktober 1997 wird ihr die Ehrennadel der Stadt Oberhausen verliehen. Da ist sie schon schwer krank. Kurz nach Weihnachten, am 29. Dezember 1997, stirbt sie im Krankenhaus Oberhausen.
Anmerkungen
1 Dieser Enkel, Hans-Jürgen Massaquoi, hat später ein ganz ähnliches Schicksal erlitten, wie Fasia, worüber er ein Buch geschrieben hat mit dem deutschen Titel: »›Neger, Neger, Schornsteinfeger!‹ Meine Kindheit in Deutschland«. Wer sich für die Situation von Schwarzen in Nazideutschland interessiert, sollte sich nicht von dem blödsinnigen Titel abhalten lassen, dieses Buch zu lesen.Das Buch ist zunächst in den USA erschienen, wo es den Titel hatte: »Destined to Witness«.
2 Die Informationen über Fasia Jansen beruhen im wesentlichen auf: Marina Achenbach: Fasia, geliebte Rebellin. Oberhausen 2004
3 Um anzudeuten, dass die Hautfarben »Schwarz« und »Weiß« keine biologischen Tatsachen sind, sondern ein soziales Konstrukt, schreibe ich sie im Folgenden mit großen Anfangsbuchstaben.
4 Vgl. Hans-Jürgen Massaquoi: »Neger, Neger, Schornsteinfeger!« Meine Kindheit in Deutschland. Bern/München/Wien 1999, S. S.17–19 und 22–25
5 Vgl. Peter Martin: »Der Kuss des Judas«. Die Befreiungsbewegung schwarzer Arbeiter und die »Afrikanisierung« der sowjetischen Außenpolitik (1919-1933). Leipzig 2024, S. 109 und 446–453
6 Achenbach, S. 24
7 Fasia selbst war, bei aller Sympathie, weder in der KPD organisiert noch in der später gegründeten DKP.
8 Auch in der CDU selbst gibt es Widerstand: 1950 tritt beispielsweise der CDU-Innenminister Gustav Heinemann aus Protest gegen diese Politik seiner Partei zurück und aus der CDU aus.
9 Es war der Theologe Martin Niemöller, der diese Bewegung anregte.
10 Vgl. Unsere Zeit, 25. Juni 2021
11 Vgl. Holger Nehring/Benjamin Ziemann: Der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung. Eine Kritik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 1, 2011, S. 81–100 sowie Franziska Augstein: Keine fünfte Kolonne. Die deutsche Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre. In: Süddeutsche Zeitung, 8./9. Januar 2011, S. 15
12 Achenbach, S. 54. Anna blieb dann aber das Gefängnis erspart. Der Justizminister von NRW Rudolf Amelunxen wandelte die Haftstrafe in eine sechsjährige Bewährungsstrafe um.
13 Doch dagegen wehren sich die anderen Westalliierten, insbesondere Frankreich. Schließlich entscheidet der NATO-Rat, dass nur die USA Zugriff auf die in Deutschland stationierten Atomwaffen haben sollen.
14 Vgl. Hans Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Köln 1980, S. 30–39
15 Herausgegeben vom Pläne-Verlag, der sich damals gründet.
Ursula Trüper schrieb an dieser Stelle zuletzt in drei Teilen am 23., 24. und 27. Dezember 2024 über Namibia gestern und heute: »Ottos Krönung«, »Aufarbeitung Fehlanzeige« und »Das Blaue vom Himmel«
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