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Aus: Ausgabe vom 23.04.2025, Seite 12 / Thema
Malerei

Die Position des Polyphem

Der Begründer des Plebejisch-Erhabenen: Vor 250 Jahren wurde der Maler William Turner geboren
Von Stefan Ripplinger
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William Turner, »Sklavenhändler werfen Tote und Sterbende über Bord – ein Taifun zieht auf« (1840), Öl auf Leinwand, 90,8 × 122,6cm, Museum of Fine Arts, Boston

Wer ruhig betrachten kann, hat einen Gegenstand vor sich. Selbst zu Gegenständen werden diejenigen, denen das Unglück ruhiges Betrachten unmöglich macht. Darin, all die zu betrachten, die nicht mehr betrachten können, liegt die Meisterschaft des Malers Joseph Mallord William – meistens kurz J. M. W. oder William – Turner, der vor 250 Jahren geboren wurde. Ab der Mitte seines Lebens hat er sich fast ausschließlich mit Unglück befasst, mit Stürmen, Bränden, Kriegen und »ägyptischen Plagen«. Doch gibt sich sein Interesse an den Schattenseiten der Existenz schon früh zu erkennen.

Turner, der Sohn eines Londoner Barbiers, malt schon als 17jähriger ein virtuoses Aquarell, das das Londoner Pantheon »am Morgen nach dem Brand« (1792) zeigt. Wie später noch oft, ist er selbst vor Ort und gibt eigene Beobachtungen wieder. Noch lehnt er sich stilistisch an seinen Lehrer Thomas Malton an, aber besticht bereits mit einem feinen Sinn für Details. Das Äußere des Gebäudes – eine 1772 errichtete Vergnügungsstätte – scheint nahezu unbeschädigt, doch ist das Löschwasser über Nacht zu langen Zungen von Eiszapfen gefroren, die überall von der Fassade lappen, während einzelne Fenster offenstehen und die Glasfront über dem Portal ganz eingestürzt ist. Mehr noch als die Menge der Schaulustigen, die sich vor dem Pantheon versammelt hat, mehr noch als der Blick in das verwüstete Innere, zeugt dieses Eis davon, dass etwas Schlimmes geschehen ist. Das Eis zeugt vom Feuer.

Es mag verblüffen, dass ein Mann, der mit Vorliebe als stark sinnlicher Grobian vorgestellt wird (etwa in Mike Leighs sehenswertem Spielfilm »Mr. Turner«; 2014), zu einer so subtilen Antithese in der Lage gewesen sein soll. Und doch gehören Antithesen und bis zu Paradoxien gesteigerte Widersprüche zu seinen bevorzugten Denkfiguren. Das ist – wenn der unbequeme Sprung erlaubt ist – unter anderem auf einem seiner bekanntesten Gemälde zu erkennen, »Odysseus verhöhnt Polyphem« (1829).

Der Blinde im Licht

Der Kunsthistoriker John Ruskin (1819–1900), der Turner lange verteidigt und gefördert hat, hielt »Odysseus verhöhnt Polyphem« für des Künstlers Meisterwerk. Gewöhnlich gilt es als dasjenige seiner insgesamt hundert vollendeten Ölgemälde, das den frühen, noch stark erzählerischen Künstler von dem späten scheidet, der allein an Farbe und Licht interessiert gewesen sei und dem die Erzählung nur mehr als Vehikel gedient habe. Das Gemälde selbst straft diese Auffassung Lügen.

Zwar sticht die zugleich dramatische und komplexe Gestaltung des Lichtes sofort ins Auge. Doch auf den zweiten Blick ist zu erkennen, wie viel Aufwand auf die Ausgestaltung der Geschichte verwendet worden ist. Die Szene zeigt, wie Odysseus, nachdem er den Zyklopen Polyphem geblendet hat, mit seinen Gefährten per Schiff fliehen will, aber unbedingt noch den von ihm schwer Verletzten mit Spottreden reizen muss. Darauf, erzählt Homer, tobte der blinde Zyklop, »riss herunter und warf den Gipfel des hohen Gebirges. / Aber er fiel jenseits des blaugeschnäbelten Schiffes / nieder« (»Odyssee«, IX, 480–483; Übersetzung von Johann Heinrich Voß).

Ganz diskret sind ins Meer vor dem Schiffsbug Nereiden oder Nixen und ist ins vom Himmel strömende Licht der Sonnenwagen des Helios eingewirkt. Mit großer Genauigkeit führt Turner die auf Deck und Takelage verteilte Schiffsbesatzung und, die Fackel in der ausgestreckten Hand, den dem Unhold drohenden Schlaumeier Odysseus aus. Der Schiffsmast am Heck weist auf den Zyklopen und erinnert an den brennenden Pfahl, mit dem dieser geblendet worden ist. Doch das Erstaunlichste an dem Bild ist der Zyklop selbst, der, obwohl riesengroß, zunächst kaum zu entdecken ist, weil er sich in Felsen und Nebel einschmiegt und zu einem organischen Teil des dunklen Hintergrunds geworden ist.

Wie Graham Reynolds (»Turner«; 1969) geschrieben hat, zeigt das Gemälde eher den Polyphem, wie er »seinem Peiniger trotzt«, als die Verhöhnung selbst. Ist es eine Feier des Sichtbaren, des leuchtenden, zwischen den Felsen spielenden Lichts, der kecken Vernunft? Gewiss, das alles ist es, aber das Gemälde formuliert sich selbst aus der Perspektive des Blinden, der unbelebten, tumben, dunklen Materie, aus der Sicht des Verstümmelten und Unterworfenen. Es betrachtet an der Stelle dessen, der nicht mehr betrachten kann.

Abstraktion vollzieht sich bei Turner nie allein in den Parametern der Malerei – Format, Farbe, Figur –, sondern auch, ja vor allem in der Erzählung oder, genauer gesagt, in deren Funktionen. Die Position des Polyphem, des Dunklen, Unsichtbaren und Blinden, ist zwingende Voraussetzung und Kontrastfolie für all die Ekstasen des Lichts und dessen, was sichtbar wird. Solche Polypheme treten später noch viele auf, allerdings meist sehr viel unauffälliger, oft sind sie von niederer Abkunft, wie auf »Hafenarbeiter laden bei Mondlicht Kohle« (1835). Die Szene spielt in Newcastle.

In der Mitte des Gemäldes breitet sich das Mondlicht in der diesigen Luft und auf dem ruhigen Wasser beschaulich aus. An den rechten Rand gedrängt sind die Arbeiter, die meist als Silhouetten, als in die Szenerie verschwindende Miniaturpolypheme dargestellt sind. Sie wenden dem silbrigen Schauspiel des weißen, leeren Mondes den Rücken zu. Beleuchtet von Fackeln, verrichten sie, wie es scheint hastig, ihre harte Arbeit. Was ist ihre Funktion auf diesem Gemälde? Warum malt der angebliche Romantiker Turner nicht einfach das Mondlicht? Wozu sollen diese schwarzen, blinden Gestalten dienen? Tatsächlich sind sie, wie schon der Polyphem, nicht nur das Andere des Lichts, sondern, ex negativo, seine Bestimmer und Begründer. Das Licht ist da, weil es sich von ihrem Dunkel abhebt. Aber es ist auch gegen diejenigen da, die es nicht sehen können. Ins Ökonomische übersetzt, ist das Licht das Surplus, das die erarbeitet haben, die es nicht genießen dürfen.

Turner bemerkt selbst zu seinem Gemälde »Der Engel steht in der Sonne« (1846): »The dazzle implies its own dark«, was frei mit »Blendendes Licht bedingt Blindheit« übersetzt werden könnte. Drastisch demonstriert er diese Lehre auf »Regulus« (1828, überarbeitet 1837). Das darauf grell einschießende Sonnenlicht verweist auf das Schicksal des aus plebejischer Familie stammenden Konsuls Marcus Atilius Regulus. Er erblindete in der Sonne, nachdem ihm die Karthager die Augenlider abgeschnitten hatten. Aber das Bild erzählt nicht nur von diesem Schicksal, es agiert es an den Betrachterinnen und Betrachtern aus, die in die Rolle des abwesenden Regulus gedrängt und vom stechenden Weiß schier geblendet werden. Turner geht über die Lehre des Philosophen Edmund Burke (»Eine philosophische Untersuchung des Erhabenen und Schönen«; 1757) hinaus, dass ein Übermaß an Licht erhabene Dunkelheit erzeuge. Bei Turner gibt es gar kein Licht ohne Dunkelheit, keine Dunkelheit ohne Licht. Sie setzen sich gegenseitig voraus und widersprechen einander. Dieser innere Widerspruch ist einer der Gründe dafür, weshalb dem Künstler sein großer Lebenswunsch versagt bleiben musste, so zu malen wie Claude Gellée, genannt Lorrain (1600–1682), der aus Frankreich stammende, in Italien wirkende Altmeister der klassisch ausbalancierten Landschaft.

Als undurchführbar erwies sich dieser Wunsch nicht etwa, weil es Turner an Fähigkeit gemangelt hätte, denn an Fähigkeit kamen ihm nur wenige gleich. Nein, es war ihm schlicht die Zeit in die Quere gekommen. Claude Lorrain besaß noch einen Rahmen, eine ausgewogene, maßvolle Komposition, ein stimmiges Schema. Er schuf in der verlogenen Ruhe des Feudalismus. Gut hundert Jahre später liefen in der Barbierstube von Turners Vater täglich die Nachrichten von einer desolaten Welt ein. Die Mühsal der Industrialisierung zeigte sich nicht nur im Hafen von Newcastle, der Sklavenhandel, den Turner so unbarmherzig einfangen sollte, wurde erst 1807 verboten, das Königreich Großbritannien führte Kriege, etwa gegen das revolutionäre Frankreich, es regierte mit eiserner Hand seine Kolonien, und nirgendwo auf der Welt war die Verelendung des Proletariats so gegenwärtig wie in den Großstädten Englands.

Brennende Kerbhölzer

All das resultierte bei Turner nicht unbedingt in neuen Bildmotiven, sondern zuerst und vor allem in einer völlig veränderten, mitunter hysterischen Lichtregie. Deutlich zeigt das unter anderem »Dido erbaut Karthago« (1815), das Ölgemälde, das Turner unter seinen eigenen das liebste war. Die Szenerie selbst, die halbfertigen, ragenden Gebäude, die anmutige Natur, die selbstbewusste Dido neben Aeneas, im Hintergrund die Bauarbeiter – all das gleicht Claude, insbesondere dessen »Hafen mit der Einschiffung der Königin von Saba« (1648). Auch bei Claude leuchtet eine Sonne über dem Hafen, aber gleichmäßig und nicht wie bei Turner in diesem üppig hereinschwappenden Gelb, das (übrigens in Übereinstimmung mit Goethes Farbenlehre, die er gründlich studierte) zu des Künstlers wichtigster Farbe werden sollte.

Die Lichtquelle besteht, wie schon auf dem Bild von den Hafenarbeitern, in einer weißen, leeren Scheibe – dort der Mond, hier die Sonne –, in einem Loch. Wenn, wie es Ruskin nahe legte, die Sonne für Turner Gott war, war Gott ein wenn auch mächtiges Nichts. »Fallacies of Hope« (Trugbilder der Hoffnung) heißt ein unveröffentlichtes Gedicht des Künstlers, eine Kontrafaktur zu den »Pleasures of Hope« (Freuden der Hoffnung; 1799) des schottischen Dichters Thomas Campbell.

In einer blasphemischen Umkehrung einer uralten sakralen Ikonografie wird bei Turner Licht zu Nichts und Vernichtung. Und wenn er zwei Jahre später (1817) das Gegenstück zu dem Dido-Bild, »Der Niedergang des Karthagischen Weltreiches«, malt, erschöpft sich der Niedergang darin, dass die Sonne nun wesentlich tiefer steht, ihr Licht krankhaft gelb geworden ist. Vordergründige Parallelen verbieten sich. Das nach der Schlacht von Waterloo erstarkte Großbritannien war noch längst nicht in einem Niedergang begriffen, aber in Turners dialektischer Sicht der Dinge nimmt gerade die Prachtentfaltung die Katastrophe vorweg.

Unfreiwillig prächtig gab sich das Empire am 16. Oktober 1834, als der Sitz des Parlaments, der Westminster-Palast, in einem grandiosen Feuer bis auf die Grundfesten niederbrannte. Turner malte das Ereignis vor Ort aus verschiedenen Perspektiven. Der Bildhauer Sven Kalden, der sich in seinen hintergründigen Arbeiten unter anderem mit Geld und Schulden beschäftigt, wies mich in einem Gespräch (abgedruckt in seinem Band »LBBMADXXL«; 2023) darauf hin, dass das, was an diesem Tag zuerst gebrannt hat, die lange als Zahlungsmittel dienenden Kerbhölzer gewesen seien: »Damals war das Kerbholzsystem an sein Ende gekommen, die Hölzer wurden verbrannt, die Flammen griffen auf andere Gebäude über.« Mit dem von Turner festgehaltenen Fanal kündigte sich also auch die Herrschaft des Geldes an.

Das Plebejisch-Erhabene

Die winzigen Hafenarbeiter bei Nacht, die ebenfalls winzige Dido im mächtigen Karthago, die Betrachterinnen und Betrachter, die von dem schockierenden Licht auf »Regulus« geblendet werden, aber auch die Augenzeugen des Brandes von London stellen allesamt ein Verhältnis her, das nach dem bereits erwähnten Burke und nach Immanuel Kant »das Erhabene« genannt wird.

Das Erhabene bezieht ein schwaches Einzelnes auf ein mächtiges Ganzes. Dieses Ganze kann erstaunen (so die Dido), es kann demütigen (so die Hafenarbeiter), es kann aber auch überwältigen und vernichten wie auf »Schneesturm: Hannibal und seine Truppen überqueren die Alpen« (1812). Gerade dieses letzte Werk führt vor Augen, wie sehr sich Turners Auffassung des Erhabenen etwa von dem Caspar David Friedrichs unterscheidet. Friedrich zeigt seinen Einzelnen, etwa den »Wanderer über dem Nebelmeer« (1818), zwar vor einem mächtigen Ganzen, aber der Einzelne selbst steht im Zentrum, er bietet den Elementen stolz die Stirn. Als Rückenfigur ist er Stellvertreter aller, die wie er den Naturgewalten ihr aufgeklärtes Bewusstsein entgegenrecken. Nennen wir dies das Bürgerlich-Erhabene.

Das Plebejisch-Erhabene findet sich auf vielen Gemälden Turners, die die von der Natur Bedrohten, Überschwemmten, Überrollten stets als Winzlinge vor einer tausendfach größeren Landschaft anordnen. Dabei steht die Gewalt der Natur vielfach, wenn nicht sogar immer für die Gewalt der Gesellschaft und des Staates. Eindeutig verhält es sich so auf »Schneesturm«: Der kleine Soldat, der auf Hannibals Expedition krepieren muss, ist kein herrschaftlich auf dem Gipfel posierender und sich ruhig die Bescherung betrachtender Bonhomme wie bei Friedrich, sondern nur mehr ein dunkles, blindes Detail in einem über ihn, seine Gefährten und die Tiere hinwegfegenden Verhängnis.

Im Jahr 218 vor unserer Zeitrechnung zog der Karthager Hannibal mit einer Infanterie von 50.000, einer Kavallerie von 9.000 Mann, begleitet von 37 Kriegselefanten, über die Alpen, um die Römer zu überfallen. Das Überqueren der unwegsamen Berge forderte enorme Verluste. Turner hält im Bildvordergrund alle Schrecken fest, denen Hannibals Armee ausgeliefert war: die erbitterten Gefechte mit dem Bergvolk der Salasser, eine niedergehende Schneelawine, der Sturm, vor dem kein Entkommen ist. Aber der auf seinem Elefanten reitende Hannibal ist zu einer Miniatur in der Ferne geschrumpft. Es dürfte sich um eines der unheroischsten Schlachtengemälde der Kunstgeschichte handeln.

Entscheidend ist der enorme Größenunterschied zwischen den verlorenen Einzelnen und dem drei Viertel der Bildfläche einnehmenden Ganzen – dem Sturm, der sich wie eine Blende vor die Sonne geschoben hat. Er zieht einen gigantischen Bogen auf. Der Schwung des Bogens ist bei Turner häufig anzutreffen: auf »Schneesturm, Lawine, Überschwemmung« (1837), auf »Schatten und Dunkelheit – der Abend des Untergangs« (1843), aber auch auf einem ansonsten friedlichen Bild wie »Rom, vom Vatikan aus gesehen« (1820). Die mit großer Geste gegebene Dynamisierung zeigt an, dass die in sich ruhende Landschaft Raffaels oder Claudes für immer verloren ist. Wir befinden uns in einer sich selbst zerreißenden Welt.

Die Ästhetik des Erhabenen hält die auf den Einzelnen eindringenden zerstörerischen Mächte nicht nur fest, sondern zeigt sich auch von ihnen erschüttert. Die Sicht wird unklar, die Perspektiven verschwimmen, unter der Wucht der Zerstörung zergehen Gestalten und Formen. Matthew Brennan (»Wordsworth, Turner, and Romantic Landscape«; 1987) stellt fest, wo Künstler wie Philipp Jakob Loutherbourg oder David Martin »jede Einzelheit ihrer verwüsteten Landschaften ausformulieren, verwendet Turner eine Bildsprache der offenen Unbestimmtheit, um damit die apokalyptische Versenkung des Denkens in den erhabenen ›Abgrund des Idealismus‹ nachzuvollziehen«. Was sich in »Schneesturm« erst andeutet, vollendet sich in Aquarellen der späten Schaffenszeit, die in Seenot geratene Schiffe nur mehr mit wenigen Pinselhieben hinhauen (ein Extrem ist »Schiffe auf See«, 1830, das aus drei Strichen besteht). Man hat das für impressionistisch gehalten, aber es ist vor allem verletzt, verstört. Hier trudeln keine hübschen Rosen auf dem Teich.

Trugbilder der Hoffnung

Am Ende erweist sich die Apokalypse selbst als ein Trugbild der Hoffnung. Sie weissagt ein schreckliches Ende, aber damit auch ein Ende der Schrecken. Die historische Erfahrung sagt uns jedoch, dass auf jeden Weltuntergang eine Weltauferstehung folgt, die allein dazu dient, einem neuen Weltuntergang den Boden zu bereiten. Turner reflektiert das auf seinem wohl grausamsten Bild, »Sklavenhändler werfen Tote und Sterbende über Bord – ein Taifun zieht auf« (1840). In Thomas Clarksons Geschichte des Sklavenhandels (1808) las der Künstler von dem britischen Schiff »Zong«, dessen Kapitän Luke Collingwood 1781 über 130 Sklaven, teils tot, teils lebendig, über Bord werfen ließ, weil ihm die Versicherung 30 Pfund pro Kopf auszahlte. Dass gerade ein Sturm aufzog, war ihm Entschuldigung genug.

Auf diesem Gemälde ist aus den schon bekannten dynamischen Bögen ein gewaltiger Wirbel aus Formen und Farben geworden. Doch sind die wesentlichen Gegenstände allzu klar zu erkennen: Das Schiff wird von schäumenden Wellen überschwemmt, im Bildvordergrund treiben die noch mit Fußketten gefesselten Leichen und Leichenteile. Hungrige Fische und Vögel machen sich über sie her. Das Furchtbarste an der Szene ist der grässlich schöne Sonnenaufgang, ein blutiges Schauspiel in Orange, Gelb und Rot, durchschnitten von einem leeren Weiß. Mögen wir hier vor einem Weltuntergang stehen, so kündigt sich bereits ein neuer Tag an.

Das Entsetzliche an Turners Gemälde ist also nicht das im Bildervordergrund aufgezeichnete Verbrechen, sondern das mit dem diffusen Sonnenaufgang des Bildhintergrunds festgehaltene Bewusstsein, dass das, was hier geschah, bald vergessen sein wird. Was als Ästhetizismus erscheinen könnte – der Mord als Farbenspiel –, ist tatsächlich die Vollendung von Turners Pessimismus: Wenn der Vorhang fällt, dann nur, um sich für eine Fortsetzung der Tragödie wieder zu heben.

Solche rauen Wahrheiten waren vom Publikum nicht mehr wohlgelitten, aber William Turner war dennoch alles andere als ein »peintre maudit«. Schon der junge Maler konnte sich vor Aufträgen kaum retten, war übrigens ein harter Verhandler und erzielte über viele Jahre Spitzenpreise. Er häufte ein großes Vermögen an, das ihm gewisse Freiheiten gestattete, die sich Ärmere nicht hätten erlauben dürfen.

Der Mann lebte nicht nur in seine Höhlen zurückgezogen, sondern war auch so unartikuliert wie ein Zyklop. John Ruskin schreibt über seine erste Begegnung mit ihm: »Jedermann hatte ihn mir als rüpelhaft, stumpf, vulgär beschrieben. Ich wusste ja, dass das nicht sein konnte. Tatsächlich traf ich einen etwas schrulligen, hellwachen, sachlichen, englisch gesinnten Gentleman, der offensichtlich gutmütig, ebenso offensichtlich schlecht gelaunt war, Unfug aller Art hasste, durchtrieben, vielleicht ein wenig selbstsüchtig, hochgradig vergeistigt war, aber nicht das geringste Vergnügen daran fand, ja nicht einmal die Absicht hatte, die Kraft seines Verstandes zur Erscheinung zu bringen, welcher sich aber immer wieder in einem Wort oder einem Blick blitzartig offenbarte.«

Nach Auskunft seines Arztes schien die Sonne William Turner ins Gesicht, als er an einem Dezembertag im Jahr 1851 starb. Er habe darüber nicht gemurrt. Doch dass er die Sonne geliebt hätte, ist eine Legende, die energisch bestritten werden muss.

Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25./26. Januar 2025 über den Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling.

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