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Aus: Ausgabe vom 14.03.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Israel

Undifferenzierte Standardformulierung

Es wird nach wie vor darüber diskutiert, wer am 7. Oktober auf israelischer Seite getötet wurde
Von Knut Mellenthin
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Demonstration in Westjerusalem für ein Ende des Krieges in Gaza und der Westbank am Mittwoch abend

Ungefähr 100 Menschen haben am Montag dieser Woche in London mit israelischen Fahnen gegen »Hamas-Propaganda« demonstriert. Die Empörung galt der Vorstellung des Buches »Understanding Hamas, and why that matters« von Helena Cobban und Rami George Khouri.

Es sei »wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass ein Großteil der Hamas-Aktionen am 7. Oktober Angriffe auf militärische Ziele waren«, erklärte Cobban während der Veranstaltung in der London School of Economics. Das sei eine »falsche Behauptung«, konterte die Times of Israel am Dienstag mit demonstrativer Gewissheit, ohne diese Aussage zu begründen. Die Onlinetageszeitung ist normalerweise nicht übermäßig parteiisch, steht der Rechts-Rechtsaußen-Regierungskoalition von Benjamin Netanjahu kritisch gegenüber, und ist oft ein nützliches Informationsmittel. Aber was nicht sein darf, wird auch schon mal geleugnet.

Wenn vom 7. Oktober 2023 die Rede ist, verwenden israelische Medien fast ausnahmslos die Stan­dard­formulierung, palästinensische Terroristen hätten an diesem Tag »rund 1.200 Menschen ermordet, die meisten von ihnen Zivilisten«. Es kann auch schon mal »massakriert« oder »abgeschlachtet« heißen, was die gewollte Tendenz noch verschärft. Dass es sich nicht zuletzt um einen erfolgreichen militärischen Überraschungsangriff handelte, der nach weltweitem Verständnis als rechtmäßiger Widerstand beurteilt werden kann, wird von der israelischen Gesellschaft kollektiv verdrängt. Getötete oder verletzte Soldaten, Polizisten, Sicherheitsleute und andere bewaffnete Israelis werden der Summe wehrloser Opfer zugerechnet. Der 7. Oktober wird zu einem »genozidalen Massaker« umgedeutet und zum Teil mit dem Holocaust auf eine Stufe gestellt. Der Angriff aus dem Gazastreifen sei »wie Babi Jar« gewesen, sagte Netanjahu am 10. Oktober 2023 in einem Telefongespräch mit dem damaligen US-Präsidenten Joe Biden. In der Schlucht bei Kiew hatten die Angehörigen eines deutschen »Sonderkommandos« unter aktiver Beteiligung ukrainischer Faschisten am 29. und 30. September 1941 annähernd 34.000 jüdische Menschen erschossen.

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Die Untersuchungsberichte der Armee zum 7. Oktober, die Ende Februar durch die israelischen Medien bruchstückhaft bekannt wurden, verzeichnen 41 bewaffnete Kämpfe (englisch »battles«), die an diesem Tag an verschiedenen Orten im südlichen Israel stattfanden. Schon diese hohe Zahl deutet darauf hin, dass Cobban mit ihrer Feststellung recht hat. Die Tageszeitung Jerusalem Post veröffentlichte am 28. Februar eine detaillierte Zeitleiste des Ablaufs der Kämpfe am 7. Oktober 2023. Demnach begann die erste Angriffswelle aus dem Gazastreifen morgens zwischen 6.29 Uhr und sieben Uhr. Es seien 1.175 »Hamas-Invasoren« beteiligt gewesen. Ziele seien »IDF-Positionen«, das vorgeschobene Hauptquartier der Gazadivision beim Kibbuz Re’im, eine Polizeistation in der Stadt Sderot und ein Stützpunkt der Armeeeinheit 8200 gewesen, die militärische Aufklärung betreibt. Die größten Verluste erlitten die israelischen Streitkräfte beim mehrstündigen Kampf um den Stützpunkt Nahal Oz beim gleichnamigen Kibbuz. 53 Angehörige der Armee wurden dort nach offiziellen Angaben getötet, von denen erstaunlicherweise viele unbewaffnet gewesen sein sollen. Darunter junge weibliche Wehrdienstleistende, die mit Hilfe von Kameras die nahen Grenzbefestigungen zu beobachten hatten.

Die meisten Todesopfer gab es am 7. Oktober bei den Teilnehmern des Open-Air-Musikfestivals Supernova. Ihre Zahl wird mit 364 angegeben, das ist fast die Hälfte aller an diesem Tag getöteten Zivilpersonen. Die israelischen Untersuchungen gehen übereinstimmend davon aus, dass die Planer und Organisatoren der Angriffsoperation vom Stattfinden dieser Großveranstaltung in Grenznähe keine Vorkenntnis hatten. Warum das Festival trotz des offensichtlichen Risikos und einiger warnender Anzeichen überhaupt genehmigt wurde, ist ein bis jetzt nicht gelöstes Rätsel.

Fotos und Filmaufnahmen zeigen, dass viele Fahrzeuge, mit denen die Festivalteilnehmer zu flüchten versuchten, äußerst schwere Beschädigungen aufweisen, die nicht plausibel auf den Einsatz von Handfeuerwaffen zurückzuführen sind, wie sie von den angreifenden Palästinensern eingesetzt wurden. Aus den Ende Februar bekanntgewordenen Untersuchungen der Armee geht – wie israelische Medien berichteten – eindeutig hervor, dass die Streitkräfte, einschließlich der Luftwaffe, am 7. Oktober angewiesen wurden, keine Fahrzeuge in den Gazastreifen entkommen zu lassen und auf alles zu schießen, was sich entlang der Grenze bewegte.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (14. März 2025 um 12:36 Uhr)
    Dass die israelischen Truppen den Befehl befolgen, alle Geiselnahmen mit aller - auch mordender - Gewalt zu unterdrücken, wissen wir. Was uns als ein Mirakel des 7.10. erzählt und halbseiden dargestellt wurde und wird: Niemand in Israel bekommt mit, wenn Tausende in hunderte Fahrzeuge steigen, diese vielen Motoren gestartet werden, alle Grenzsensoren Alarm melden? In den Kasernen wird kein Alarm ausgelöst? Niemand ist binnen 30 Sekunden in Uniform und hat seine Waffe samt Munition und Granaten? - Das wurde bisher noch nicht untersucht? Wohl kaum.

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