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Aus: Ausgabe vom 05.02.2025, Seite 12 / Thema
Geschichte Südkoreas

Hilfe aus der Vergangenheit

Die Literaturnobelpreisträgerin Han Kang erzählt von der Diktatur und der Geschichte des Widerstands in Südkorea
Von Erhard Korn
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Verzögerte Aufarbeitung: Picassos Gemälde »Massaker in Korea« von 1951 konnte erst 2021 in Seoul gezeigt werden (Seoul Arts Center, 29.5.2021)

Mit der Begründung, man müsse sich gegen Bedrohungen durch angeblich kommunistische Kräfte schützen, verhängte Südkoreas rechter Präsident Yoon Suk Yeol am 3. Dezember 2024 das Kriegsrecht in der angeblichen »Musterdemokratie«. Er wies Geheimdienst und Spezialeinheiten an, oppositionelle Politiker aus dem Parlament zu zerren und zu verhaften – ganz wie 1980, als das Militär den Versuch des Parlaments zur Aufhebung des Kriegsrechts verhinderte, indem es das Parlament ebenso wie Hochschulen und Parteibüros schloss, politische Betätigung verbot und Hunderte Oppositionelle verhaftete. Den Protest der Bevölkerung, der sich vor allem auf die südliche Großstadt Gwangju konzentrierte, hatte das Militär damals in einem beispiellosen Blutbad erstickt.

Die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 2024 rief daher bei vielen Südkoreanern traumatische Erinnerungen wach. Die Demonstranten und Abgeordneten, die das Parlament vor den anrückenden Spezialeinheiten schützten, wollten verhindern, »dass sich die Geschichte wiederholt«. Auch die neue Literaturnobelpreisträgerin Han Kang hatte den Blick auf diese lange tabuisierte Geschichte gerichtet. Ihr Roman »Menschenwerk« (2017), der den Widerstand der Großstadt Gwangju gegen Armeeterror und Kriegsrecht behandelt, war 2024 das meistverkaufte Buch Südkoreas – wurde aber zugleich aus vielen Bibliotheken verbannt.

Neuer Roman

Han Kangs jüngstes Werk »Unmöglicher Abschied« erschien im Dezember 2024 auf Deutsch und blickt noch weiter zurück, auf die Massaker auf der Insel Jeju (Cheju Do) im Jahre 1948. Behutsam nähert sich die Nobelpreisträgerin den kaum erträglichen Ereignissen, die noch die Enkelgeneration der Opfer traumatisieren. Bei der winterlichen Reise der Hauptfigur Gyeongha zum einsamen Haus einer Freundin entsteht ein »Zusammensein von Lebenden und Toten«, wie es Anna Seghers 1948 bei ihrer Reise nach Polen empfand, wo ihre Mutter 1942 im KZ ermordet worden war.¹ In ihrer großen Erzählung vom »Ausflug der toten Mädchen« hat auch Seghers das Nebeneinander von Jung-, Alt- und Totsein, von Unschuld und Schuld, Alptraum und Realität zu gestalten versucht.

Es ist ein Gespensterdorf, zu dem Gyeongha reist, »1948 wurden alle Häuser niedergebrannt, die Bewohner niedergemetzelt und die Ortschaft dem Erdboden gleichgemacht«. Dort lebt die frühere Dokumentarfilmerin Inseon weit oben in einem entlegenen Waldgebiet als Schreinerin in dem einzigen Haus, das nach der Auslöschung des Dorfes wiederaufgebaut wurde. Die Freundinnen Inseon und Gyeongha wollten gemeinsam ein Erinnerungsprojekt entwickeln. Das Foto eines Massengrabes unter der Flugbahn von Jeju hatte Inseon nicht mehr losgelassen, besonders das offenbar lebendig begrabene Kind, mit dem sich Inseon schließlich regelrecht identifiziert. Für einen Dokumentarfilm recherchiert sie und interviewt Zeitzeugen, auch die eigene Mutter, die die Ermordung der Dorfbewohner überlebte und die schneebedeckten toten Eltern identifizieren musste. Inseons Vater, aus dem gleichen Dorf stammend, war nach 15 Jahren Folter und nervenkrank aus einer Zelle ohne Licht entlassen worden: »›Ihr Roten, ich werde euch ausmerzen, diese roten Ratten, so dass kein Tropfen mehr von euch übrigbleibt.‹ Der Mann legte meinem Vater ein Handtuch aufs Gesicht und schüttete Wasser darüber. Er befestigte Kabel an seiner Brust, um ihm Stromschläge zu verpassen.«

Sensible Selbstreflexionen stehen neben Naturbeobachtungen, Traumbildern und Albträumen. Immer wieder werden kursiv gesetzte Ausschnitte aus Interviews einbezogen, so dass man sich dem eigentlich Unfassbaren auch sachlich-distanziert nähert. Erst seit den 1980er Jahren war es erlaubt, nach den Vermissten zu forschen. Inseons Mutter musste das noch heimlich tun, und der erste Vorsitzende des Opferverbands, in dem sie sich betätigte, wurde 1960 hingerichtet.

Krieg gegen Kommunisten

Die politischen Hintergründe der Ereignisse deutet Han Kang nur an. Als der US-amerikanische Militärgouverneur General John Reed Hodge 1945 in Korea eintraf, wusste er nichts über die tausendjährige Geschichte des koreanischen Staates, nichts über den schon ein halbes Jahrhundert andauernden Widerstand gegen die japanische Besatzung und nichts über die inzwischen erfolgte Bildung einer koreanischen Selbstverwaltung. Er wusste nichts über den Hass der Bevölkerung auf die japanischen Besatzer, die Millionen Koreaner versklavt und ihre Mädchen als »Trostfrauen« (so der euphemistische Ausdruck für Zwangsprostituierte in japanischen Bordellen) missbraucht hatten.

Dagegen schien es Hodge am zweckmäßigsten, die Strukturen und Personen der japanischen Militärverwaltung für den von ihm schon am 12. Dezember 1945 erklärten »Krieg gegen die Kommunisten« zu nutzen, womit er umgehend Proteste und Widerstand provozierte.² Politisch stützte sich die Militärverwaltung »einseitig auf die Oberschicht von Landbesitzern und Unternehmern, die in der Regel nicht frei vom Odium der Kollaboration mit Japan waren.«³

Die Volkskomitees im sowjetischen Einflussbereich oberhalb des 38. Breitengrads führten eine Landreform durch und entmachteten die Kollaborateure, was den linken Kräften für längere Zeit eine breite Popularität verschaffte. Die Besitzenden und Kollaborateure wanderten nach Süden ab, wo die Selbstverwaltung der Fabriken durch die Arbeiter beendet und der japanische Besitz unter den nun herrschenden Familiencliquen aufgeteilt wurde. Die extrem armen Kleinbauern mussten hier weiterhin 50 bis 70 Prozent der Ernte abliefern und rebellierten in einer Vielzahl von kleinen Bauernkriegen.⁴

Die Selbstverwaltungsstrukturen und die von ihnen getragene provisorische Regierung in Seoul verbot Hodge. Die Unzufriedenheit über die »Vormundschaft« stieg, da sie an die Demütigung durch Japan 1910 erinnerte. Schon im Mai 1946 begann im Süden die Verfolgung der vielschichtigen Opposition mit dem Verbot ihrer Zeitungen und der Verhaftung von Führern der Gewerkschaften und Bauernvereinigungen. Bei einer Hungerdemonstration am 6. Oktober 1946 erschoss die Polizei 60 Menschen. Ein zunächst rein ökonomisch begründeter Generalstreik im Herbst 1946 nahm zunehmend politischen Charakter an und wurde durch Massenverhaftungen und brutalen Terror gebrochen.⁵

Durch die Übernahme der Methoden der durch die japanische Besatzungsmacht geschulten Kräfte entwickelte sich unter dem von den USA installierten Rhee Syngman ein extrem brutales, korruptes und unbeliebtes System. 1948 bat der neue Präsident nicht nur um das Eingreifen der US-Armee, sondern schuf im Dezember mit dem »National Security Law« ein Ausnahmerecht, auf das sich Präsident Yoon Suk Yeol noch im Dezember 2024 stützte.

Die rote Insel

Die Bewohner der weit im Süden gelegenen Vulkaninsel Jeju standen, verbunden durch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, in einer langen Tradition des Widerstands gegen Fremdherrschaft. Es waren zunächst Arbeitsmigranten, die im nahegelegenen Japan politisiert wurden und schon 1924 eigene Gewerkschaften bildeten, aus denen viele der Kader stammten, die im Widerstand gegen die japanische Besatzung aktiv waren. Ab 1931 konzentrierten sich die Kommunisten auf die Arbeit unter den Kleinbauern, Fischern und Muscheltaucherinnen und bildeten Zellen in den Dörfern. 1945 bestand daher auf der Insel ein Netz erfahrener Aktivisten, die »Volkskomitees« gründeten und die Selbstverwaltung in Gemeinden und Unternehmen dominierten, aber nicht monopolisierten – ausgeschlossen waren nur Kollaborateure. Ende 1945 wurde US-amerikanisches Militär auf der Insel stationiert, das zunächst mit den Volkskomitees zusammenarbeitete. Ende 1946 verweigerten die Kommunisten der Insel die Parteianweisung der »Südkoreanischen Arbeiterpartei« SKLP, die Separatwahlen zu boykottieren, und schickten die zwei Vertreter der Insel ins Vorparlament – die einzigen Linken.⁶

Um diesen Einfluss der Roten zu brechen, setzte die Zentralregierung in Seoul eine ihr unterstehende Verwaltung aus extrem rechten Politikern vom Festland ein und baute die Polizei stark aus. Die Konflikte eskalierten, als die »Democratic National Fighting Front (DNFF)« am 1. März 1947 eine Massendemonstration in Erinnerung an die große Unabhängigkeitsbewegung vom März 1919 durchführte. Vom Dach einer Polizeiwache wurden sechs friedliche Demonstranten erschossen und der als Antwort ausgerufene und auf der ganzen Insel befolgte Generalstreik brutal niedergeschlagen. Der südkoreanische Polizeichef Byongok Cho flog nach Jeju und verkündete, »dass er die Subversiven ausrotten würde«.

Während US-Präsident Harry Truman am 10. März 1947 im Kongress die nach ihm benannte Doktrin verkündete, nämlich »freie Menschen, die sich der versuchten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder Druck von außen widersetzen«, zu unterstützen, sahen sich die Bewohner durch die mit den Methoden der japanischen Besatzer agierenden Festlandspolizei einer neuen Besatzungsherrschaft ausgesetzt. Mit der von Truman unterstellten sowjetischen Ausdehnungspolitik hatte der Widerstand in Südkorea jedoch nichts zu tun.

Der Gouverneur holte rechte Milizen wie die extrem antikommunistische »Northwest Young Men’s Association« auf die Insel, die Familienangehörige mit »pathologischer Grausamkeit« folterten, um Angaben über Aktivisten zu erpressen. Selbst die US-amerikanischen Beobachter nannten die Milizen unter der Hand »faschistisch«.⁷

Während erfahrene Kader durch Haft, Folter, Erschießungen und Flucht ausfielen, radikalisierten sich die in Führungspositionen nachrückenden Mitglieder der linken Jugendorganisation. Sie beschlossen Anfang 1948, aktiven Widerstand zu leisten und bildeten Selbstverteidigungskräfte, die allerdings bald ins Gebirge ausweichen mussten und von dort als Guerillagruppen agierten, Polizeistationen und Militärtransporte überfielen.

Den Soldaten wurde beigebracht, dass Kommunisten als Abschaum zu töten seien – und alle Inselbewohner als »Rote« zu betrachten. Waren die Getöteten zunächst noch Familienangehörige von Verdächtigen, so schossen die Soldaten bald um sich, wenn sie ein Dorf besetzten. Durch die Verhängung des Kriegsrechts wurde das brutale Vorgehen legalisiert: »Nach Veröffentlichung des Befehls rückten die Truppen in die Dörfer ein, brannten alle Häuser nieder und töteten ohne zu zögern Zivilisten.«⁸ Junge Männer wurden stets umgebracht und konnten nicht mehr in den Dörfern leben, gezielt erschossen wurden bald sogar Grundschüler als potentielle zukünftige Rebellen. In den Berichten der US-Berater, die die Aktivitäten koordinierten, wurden sie als »Aufständische« gezählt.

Im Oktober 1948 verbot eine Anordnung der Militärregierung das Betreten der Bergregion jenseits von sechs Kilometern ab der Küste und erklärte sie zur Todeszone: »Die Dorfbewohner würden sofort getötet, wenn sie die Befehle nicht befolgten.«⁹ An der Küste schuf die Armee »Auffanglager«, in die die überlebenden Bewohner der Bergdörfer getrieben wurden, so dass es gelang, die Guerilla entscheidend zu schwächen. Am 9. April 1949 besuchte Rhee Syngman die Insel und gratulierte zur erfolgreichen »Pazifizierung«, die heute als »der schlimmste Völkermord in der modernen koreanischen Geschichte« gilt.¹⁰ 400 Dörfer wurden zerstört, 30.000 bis 60.000 der 300.000 Bewohner ermordet. 40.000 Menschen flohen nach Japan.

Neoliberale Industrialisierung

Doch im Oktober 1948 meuterten in Suncheon Soldaten, die in Jehu eingesetzt werden sollten, und lösten einen regionalen Aufstand aus, dem sich ein großer Teil der Bevölkerung anschloss. Die Armee »säuberte« daraufhin mühevoll die Städte, aber die Rebellen führten in den Bergen der südlichen Region nun ebenfalls einen Guerillakrieg nach dem Vorbild der chinesischen Kommunisten, an dem Tausende Koreaner teilnahmen. Die SKLP setzte fortan auf eine Politik des bewaffneten Widerstands gegen die Bildung eines Separatstaates im Süden – ein Vorspiel zum Koreakrieg (1950–1953), der als Klassenkampf begann, sich dann zum Bürgerkrieg und schließlich zum internationalen Konflikt ausweitete.¹¹

Rhee Syngman nutzte den Krieg zur physischen Ausrottung nicht nur der linken Opposition und errichtete ein System der politischen Repression und Korruption. Nach Studentenprotesten wegen gefälschter Wahlen mit 130 Toten und Tausenden Verletzten musste er 1960 unter offenem Druck der USA zurücktreten, seine Denkmäler wurden geschleift. Die kurze Phase des Aufatmens endete aber schon 1961 mit dem Militärputsch durch Park Chung Hee, der als allmächtiger Präsident weiter mit Gewalt herrschte und ein Programm der neoliberalen Industrialisierung einleitete. Ein koreanischer militärisch-industrieller Komplex kontrollierte das Finanzwesen und baute mit US-amerikanischer und japanischer Hilfe Südkorea innerhalb weniger Jahrzehnte zum Industrieland aus, gestützt auf niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und eine rigorose Unterdrückung von Gewerkschaften und Arbeitskämpfen. Landesweite Proteste für verbesserte Arbeitsbedingungen und Demokratisierung im Jahre 1979 versuchte Park vergeblich zu unterdrücken. Als das Parlament nach Parks Ermordung durch den Geheimdienstchef über eine Aufhebung des Kriegsrechts abstimmen wollte, verhängte General Chun Doo-hwan ein verschärftes Kriegsrecht, verbot jegliche politische Betätigung und erstickte 1980 die Proteste in einem Blutbad.

Kein Opfer sein

Dies ist der Hintergrund des Romans »Menschenwerk«. Im Epilog spricht die Autorin Han Kang selbst. Vor dem Massaker waren ihre Eltern aus Gwangju weggezogen und hatten ihr Haus an die Eltern von Dong Ho, der Hauptfigur des Buchs, verkauft – es ist also eine reale Person, deren Spuren Han Kangs Roman folgt. Am Schluss steht die Autorin selbst an Dong Hos Grab, der auf dem örtlichen Friedhof neben anderen Schülern liegt, die zusammen mit ihm erschossen wurden, als sie sich ergeben wollten.

Der 15jährige Schüler Ho demonstriert mit seinem Freund Jeon-Dae. Als der Demonstrationszug von Scharfschützen beschossen wird, flieht er. Der Roman beschreibt seine vergebliche Suche nach dem angeschossenen Freund. In der Turnhalle hilft er, die vielen Leichen aufzubahren. Hier trifft er auch auf andere Akteure: die gewerkschaftlich engagierte Schneiderin Seon-Ju, die achtzehnjährige Schülerin Eon-Suk, die sich beide ebenfalls um die Toten kümmern, den Studenten Jin Su, einen der Organisatoren der Proteste. Jeder erzählt aus einer anderen Perspektive und in unterschiedlichem zeitlichen Abstand. Aus diesen Rückblicken entsteht ein Mosaik aus Qual und Hoffnung, Folter und Depression. Die Toten lassen die Überlebenden nicht los, ja nicht einmal sich selbst. Denn im Kapitel über Hos Freund Jeon-Dae ist es der Tote selbst, der von Abtransport, Lagerung und Verbrennung der Leichen berichtet, der Schmerz empfindet, als er spürt, dass nun auch sein Freund stirbt. Dieser hatte sich an der Verteidigung gegen die stürmenden Soldaten beteiligen wollen. Ein Zellengenosse berichtet Jin Su von der Ermordung der Schüler und zitiert den Mörder:

»›Scheiße! Ich war in Vietnam. Ich habe eigenhändig mehr als dreißig Vietkong getötet. Dreckige rote Hunde!‹ In diesem Moment kamen fünf Schüler mit erhobenen Händen die Treppe herunter. Ich hatte sie im Wandschrank des Versammlungssaals versteckt, als die Soldaten anfingen, auf uns zu schießen. ›Rote Scheißkerle! Ihr wollt euch ergeben? Ihr habt Angst um euer Leben?‹ Ohne sich vom Fleck zu rühren, erhob er sein Maschinengewehr und eröffnete sofort das Feuer auf die Schüler.«

Der Mithäftling erzählt von der täglichen Folter, dem Hunger und Durst im Gefängnis, den perversen Foltermethoden, um Scheingeständnisse zu erpressen, den Depressionen nach der Haftentlassung, schließlich von Jin Sus Selbstmord.

Von Alpträumen verfolgt wird noch nach 20 Jahren Seon-Ju, die Näherin, als sie für eine Dokumentation um einen Bericht über die Ereignisse von 1980 gebeten wird und Zeugenaussagen liest. Während einer schlaflosen Nacht ringt sie mit sich und den Erinnerungen. »Die Opfer vergangener Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten tragen Erinnerungen mit sich, die sie nie ganz loswerden, sühnen oder anderen erklären können«, schreibt der Historiker Bruce Cumings. Han Kangs »Geister« entspringen also nicht literarischer Erfindungskraft, sie beruhen auf Sichtweisen von Zeitzeugen, die glaubten, aufflatternde »honbuls«, Fackeln der Seele, gesehen zu haben. Ohne Begräbnis an einem heiligen Platz, so der Volksglaube, könnten die Toten keinen Frieden in der Erinnerung finden.¹²

Seon-Ju zögert, ob sie den Aufnahmeknopf drücken soll, spricht mit sich in der dritten Person, was sich anhört wie ein Selbstgespräch. Sie hatte einen Kurs der Gewerkschaft besucht, wo sie etwas über bescheidene Arbeiterrechte lernte, »für die viele gestorben sind«, und über Würde und Menschenrechte. Die werden bedeutungslos, wenn die streikenden Textilarbeiterinnen abgeführt, von den allgegenwärtigen Schlägerbanden von Werkschutz und Polizei mit Holzlatten verprügelt, an den Haaren weggeschleift und in den Bauch getreten werden. Sie habe »nie vergessen, dass an der Spitze dieser Pyramide der Gewalt der Präsident stand«, sagt Ju zu sich. Daher folgt sie den Arbeiterinnen, die sich 1980 dem Demonstrationszug anschließen, dessen Spitze ein Karren mit zwei erschossenen Jugendlichen bildet. Als »dreckige rote Hure« wird sie nach der Verhaftung täglich gefoltert. »Wie können Sie davon berichten«, fragt sie sich 2002, »von dem dreißig Zentimeter langen Holzlineal, das Ihnen dutzende Male bis in den Gebärmutterhals in die Scheide gestoßen wird? Von den Gewehrkolben, der Ihnen die Scheide dehnt und zerreißt? Von den Blutungen, von dem Eileiterverschluss? Von der Tatsache, dass Sie keine Berührung mehr ertragen, schon gar nicht von einem Mann?« Ju kehrt zurück an die Orte des Massakers, um zu sterben. Doch ihr toter Bruder, den Ho gesucht hatte, erscheint ihr: »Stirb nicht. Du darfst nicht sterben.«

Kampf um die Erinnerung

Warum war Ho mit den anderen im Regierungsgebäude geblieben, fragt sich seine Mutter. Han Kang schreibt: »Ich hatte mich getäuscht, sie als Opfer zu betrachten. Sie sind genau deswegen geblieben, damit sie nicht zu Opfern werden.« Waren nicht die Überlebenden durch Folter gebrochen, die Toten zum Schweigen verurteilt? Doch wie in Anna Seghers großem Nachkriegsroman »Die Toten bleiben jung« mahnen sie mit einer geradezu mythischen Kraft. »Kann die Vergangenheit der Gegenwart helfen?«, fragte Han Kang in ihrer Nobelpreisrede im Dezember 2024. »Während ich dieses Buch schrieb, gab es Momente, in denen ich tatsächlich das Gefühl hatte, dass die Vergangenheit der Gegenwart hilft und die Toten die Lebenden retten.« Sie könnten helfen, jene unmögliche Brücke zwischen Gewalt und Elend und der Würde des Menschen zu überqueren.

Dong Hos Mutter kann schließlich ihr totes Kind begraben, spricht im Jahr 2010, als würde sie mit ihm sprechen. Sie erzählt Dong Ho vom Versuch einer Kundgebung anlässlich des Besuchs des Präsidenten, bei der die Mitglieder der Opferorganisation verhaftet wurden. Sie repräsentiert den jahrzehntelangen Kampf um Erinnerung und Demokratisierung, dessen Zersplitterung vor den Olympischen Sommerspielen in Seoul 1988 in einem Zusammengehen von Arbeiter- und Studentenbewegung überwindbar schien. Ausgerechnet General Roh Tae-Won, der den Gwangju-Aufstand niedergeschlagen hatte, verpasste aber dem Land nun eine »demokratische Fassade«, wurde dank der gespaltenen Opposition mit 35 Prozent zum Präsidenten gewählt und durfte im Oktober 1988 die Olympischen Spiele eröffnen.¹³

Am Schluss des Romans stellt Han Kang eine Kerze in einem Pappbecher auf Hos Grab. Im Dezember 2024 hielten die Demonstranten gegen den Militärputsch solche Kerzen. Sie sind zum Symbol des Widerstands gegen den erneuten Staatsstreich geworden.

Anmerkungen:

1 Christiane Zehl Romero: Anna Seghers, Berlin 2003, S. 61

2 Kyengho Son: The 4.3 Incident: Background, Development, and Pacification, 1945–1949, Ohio 2008, S. 37. Auf die von Kyengho dargestellten inneren Konflikte der Linken und die Entwicklung im Norden kann hier nicht eingegangen werden.

3 Marion Eggert/Jörg Plassen: Kleine Geschichte Koreas, München 2018, S. 152

4 Bruce Cumings: The Korean War, New York 2010, S. 114. Cumings gehört zu jenen kritischen Historikern in den USA, die auf die »versteckte Geschichte« und Vorgeschichte des Koreakriegs verwiesen.

5 Ingeborg Göthel: Geschichte Südkoreas, Berlin (DDR) 1988, S. 54

6 Kyengho Son, a. a. O., S. 80

7 Cumings, a. a. O., S. 119

8 Kyengho Son, a. a. O., S. 243, Übersetzung: jW

9 Ebd., S. 230

10 Ebd., S. 264

11 Du-Yul Song/Rainer Wernig: Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land, Wien 2012, S. 68

12 Cumings, a. a. O., S. 181, Übersetzung: jW

13 Michael Denis (Hg.): Südkorea. Kein Land für friedliche Spiele, Reinbek 1988, S. 10

Erhard Korn schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. September 2024 über den deutschen Gesinnungsmilitarismus nach 1870.

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