Theremins Stimmen
Von Barbara Eder
Im Jahr 1910 gründete sich in Sankt Petersburg die Künstlergruppe »Gileja«. Die Autoren und Poeten Welimir Chlebnikow, Alexej Krutschonych und Dawid Burljuk zählten von Beginn an zu ihren zentralen Akteuren. 1912 veröffentlichten sie ein Manifest mit dem Titel »Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack«¹, es gilt heute als programmatischer Text der russischen Futuristen. Die Mitglieder der Bewegung veranstalteten Performances und Lesungen quer durch das gesamte Land; gemeinsam mit dem Komponisten Michail Matjuschin entwickelten Krutschonych, Chlebnikow und Kasimir Malewitsch die experimentelle Oper »Sieg über die Sonne«. Oft arbeiteten die Autoren im Kollektiv, wachsende Differenzen führten aber zu Spaltungen: Während die Strömung der »Kubofuturisten« etwa die Verbindung von futuristischen und kubistischen Elementen hervorhob, entstand mit den »Egofuturisten« eine rivalisierende Gruppe um den Dichter Igor Sewerjanin, der mehr Wert auf individualisierte Ästhetiken legte.²
»Wir haben unsere Zufallsnamen Ego und Kubo weggeworfen und uns zu einer eigenen Literaturkompanie zusammengeschlossen«³, verkünden die Futuristen Dawid Burljuk, Alexej Krutschonych, Benedikt Liwschiz, Wladimir Majakowski, Igor Severjanin und Welimir Chlebnikow gegen Ende von »Der brüllende Parnass«. Der aus der griechischen Mythologie bekannte Berg, Sitz der Musen und Symbol für Kunst und Dichtung, wird im Titel mit einem Schrei verbunden, seine Bedeutung also konterkariert. Den Regeln der traditionellen Kunstproduktion diametral entgegengesetzt, arbeitete Chlebnikow an einem eigenen sprachlichen Universum. Er löste sämtliche auf Konventionalität beruhende Verbindungen zwischen Zeichen und Ding auf und überführte diesen Zusammenhang somit der vollkommenen Arbitrarität.
Mathematik statt Semantik
Im Rahmen von Chlebnikows Experimenten folgen Worte den Gesetzmäßigkeiten eigentümlicher Flexionen, die Mathematik wurde zu ihrer neuen Wirbelsäule. Gleichklingendes hatte Chlebnikow zu ersten Additionen von Silben veranlasst, er trennt ab und setzt neu zusammen. Zudem kombiniert er immer wieder Teile der ihn faszinierenden Homonyme, macht aus ihnen im Klang nunmehr von einander Unterschiedenes. In seiner Schrift »Bund der Erfinder« erhob er den Herzschlag zur neuen Universaleinheit, in der sich fortan alle menschlichen Tätigkeiten bemessen lassen sollten.⁴ Er versah geflügelte Worte der Weltgeschichte mit Nummern und vermaß die Reden großer Männer auf diese Weise neu. Auch die Sprache der Universitäten sollte abbreviieren, von den Ziffern und Siglen der Gerichte und Bürokratien sei sie dann nicht länger verschieden.
Chlebnikow erfindet neue Wörter und fragt schon lange nicht mehr nach ihrem semantischen Sinn. Statt dessen beginnt er, Vokale mit numerischen Werten zu belegen. Das Ergebnis ist ein Ziffernalphabet aus fünf Buchstaben: a = 1, u = 2, o = 3, e = 4, i = 5.⁵ Gemeinsam mit Krutschonych greift er im Zusammenhang ihrer Lautgedichte auf mathematische Methoden der Kombinatorik zurück und intendiert damit doch anderes als die Unterwerfung der Sprache unter das Gesetz der Großen Zahl. Ihre diskreten Mengen beinhalten zwar eine begrenzte Anzahl von Buchstaben, wollen aber nichts bedeuten. Vielmehr ist es ein unerhörter Rhythmus, der diese Abfolgen bestimmt. Im Dezember 1912 spannt Alexej Krutschonych einen Bogen ein und beginnt zu tippen. Der Takt der Anschläge bestimmt den weiteren Verlauf des Textes: »Дыр бул щыл убеш щур скум вы со бу р л эз« (Dyr bul schtschyl ubesch schtschur skum wy so bu r l es).⁶
Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eröffnete das sprachliche Universum der russischen Futuristen einen Raum für Experimente, der auch benachbarte Disziplinen berührte. Anders als Filippo Tommaso Marinetti, der in seinem protofaschistischen »Manifesto del Futurismo« von 1909 die Verschmelzung von Politik, Ästhetik, Geschwindigkeit und Technik beschworen hatte, sinnierten die Vertreter der russischen Avantgarde nicht über mögliche Neuordnungen im Straßenverkehr. Statt dessen komponierten sie kakophone Sinfonien. In ihren Partituren heulen Fabriksirenen auf, bewegen Bahnschranken sich simultan im Takt der Verse. 1923 erscheint die erste Ausgabe von Majakowskis Zeitschrift Linke Front in Moskau, in ihr schreibt man vor allem in Skizzen: Schienen werden verlegt und Waggons in Beschlag genommen, die Rennbahn für weitere poetische Experimente ist bereits elektrifiziert. Die Neue Ökonomische Politik (NEP) orientierte sich an einem Maß, das Raum für Inkommensurables ließ – und auch im Feld der Musikproduktion entstehen dazumal Töne und Instrumente, die sich den Konventionen des Hörens radikal widersetzen.
Mal klang das wie eine ätherische Geige, dann wieder wie ein jaulendes Tier, dem jemand auf die Pfoten getreten hatte. Die Geräusche, die im Oktober 1920 aus einem der Labors des Physikalisch-Technischen Instituts der Sankt Petersburger Universität kamen, schienen nicht von dieser Welt zu sein. Pathetisch und grotesk zugleich, standen sie nicht am Ende, sondern am Beginn einer bahnbrechenden Entdeckung. Der Physiker Lew Sergejewitsch Termen, der am neu gegründeten Petrograder Institut eben erst eine Forschungsstelle angetreten hatte, war ursprünglich mit anderem als Klangerzeugung beschäftigt. Durch Zufall entdeckte er, dass Frequenz und Tonhöhe einer Elektronenröhre abhängig vom Abstand des menschlichen Körpers modifizierbar sind. Darauf aufmerksam wurde er, als er anstelle der Messanzeige einen Kopfhörer an einen Apparat anschloss, der ihm Aufschluss über das Verhalten von Gasen in Relation zu Druck und Temperatur hätte geben sollen. Damit, dass auf diese Weise Veränderungen in einem elektromagnetischen Feld hörbar gemacht werden können, hatte er nicht gerechnet.⁷
Die Forschung zu akustischen Bewegungsdetektoren war kriegswichtig, im Auftrag vom Militär des russischen Zarenreichs. Termen hatte bezüglich des Auftraggebers keine Berührungsängste. Die Militäringenieurschule hatte er – nebst Diplom in Rundfunktechnik – mit einem militärischen Dienstgrad verlassen. Die Ausbildung bewahrte ihn nicht nur vor den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, sie verhalf ihm 1916 auch zu einem angesehenen Posten beim mächtigsten Sender Russlands. 1918 wurde er stellvertretender Leiter des neuen radiotechnischen Labors in Moskau. Zum Sender hatte Termen zeitlebens eine besondere Beziehung. Als die Weiße Armee im Oktober 1919 kurz davor stand, den Funkturm der Rotarmisten zu erobern, kehrte Termen nach Detskoje Selo (heute Puschkin) zurück, er evakuierte den Bahnhof des Petersburger Vororts und veranlasste wenig später die Sprengung des 120 Meter hohen Antennenmastes.⁸
Ein plumper Holzkasten
Was der Öffentlichkeit im Jahr 1921 als jüngste Erfindung aus Petrograd präsentiert wurde, entpuppte sich entgegen aller Erwartungen nicht als Kriegsgerät oder Wunderwaffe. Es war keine panakustische Vorrichtung und auch kein elektronischer Agent. Vielmehr wirkte das Ding, das anlässlich des Allrussischen Elektrotechnischen Kongresses enthüllt wurde, in seiner Aufmachung höchst bescheiden. Aus der Entfernung sah es aus wie ein zu groß geratener Buchstabe mit Metallaufsatz, in unmittelbarer Nähe wie ein plumper Holzkasten mit asymmetrischem Grundriss. Heraus ragten zwei Antennen, die eine vertikal, die andere horizontal. Das Innere des Apparats übertrifft sein Äußeres noch an Einfachheit. Im Gehäuse finden sich zwei unterschiedlich stark geladene Elektronenröhren inmitten von mehreren Oszillatorschaltungen. Töne werden durch die Differenz von Ladungsmengen erzeugt und über den Umweg zweier Verstärker durch einen Lautsprecher ausgegeben. Konkreter: Wenn sich die Hand des Spielers der vertikalen Antenne annähert, nimmt die Tonfrequenz zu, entfernt sie sich, tritt das Gegenteil ein. Mit der linken Hand wird während dessen die Lautstärke gesteuert. Termen durfte das auf dem Kongress eigenhändig demonstrieren. Dieser endete mit dem einhelligen Beschluss zur Elektrifizierung eines politisch noch jungen Territoriums: der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.
In der Föderation, Vorläufer der Sowjetunion, wurde Termens Erfindung schnell Programm. Lenin, der mit der Formel »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung« die Industrialisierung des Agrarstaates vorantreiben wollte, zeigte sich vom elektronischen Klangerzeuger aus dem Petersburger Institut begeistert. Die dahinter stehende Idee fügte sich einer politischen Obsession, die bald das ganze Land erfasste. Mit Anbruch der Neuen Ökonomischen Politik, die auf die Ära des Kriegskommunismus folgte, sollte ein profanes Ding an die Stelle religiöser Devotionalien treten. Lenin hatte es sich zum Ziel gesetzt, in jeden Haushalt eine Glühbirne zu bringen – genau dorthin, wo bis vor kurzem noch die Ikone hing. Als Symbol für Fortschritt durch Wissenschaft und Technologie leuchtete sie der Zukunft hell voraus. Die Erzählung vom »Ingenieur Elektron«, der auszog, selbst die entlegensten Gegenden Russlands mit Strom zu versorgen, wurde zum Volksmythos. In einem der ersten sowjetischen Tonfilme erklingt im Off ein Theremin. Der Klang des Instruments soll die Komsomolzen bei ihrer Arbeit unterstützen. In »Komsomol – Führer der Elektrifizierung«⁹ verlegen sie rote Drähte quer durchs ganze Land.
Im Spiel hingebungsvoll, zugleich konzentriert, nie ekstatisch und mit ruhiger Hand auf die Form bedacht – so zeigen frühe Filmaufnahmen den jungen, sowjetischen Physiker an seinem Instrument, das in der russischsprachigen Welt unter dem Namen Termenvox bekannt wurde. Beim Betrachten fragt man sich nicht nur, wie das berührungslose Spiel, das zeitweise den Charakter einer Beschwörung anzunehmen scheint, zustande kommt. Man fragt sich auch, woher Termens musikalisches Geschick kommt. Keineswegs wirkt es so, als sei da bloß instrumentelles Verständnis am Werk. Hier versteht einer von seinem Instrument viel mehr als nur den technischen Aufbau. Lew Termen machte Musik ohne Zittern. Wer aber war dieser Lew Sergejewitsch? Wo ist sein Platz in der Geschichte?
Eine Ausnahmeerscheinung
Wer von verschwundenen Staaten schreibt, muss sich dem Verdacht ausgesetzt sehen, Gespenstergeschichte zu schreiben. Die Gefahr, Phantomen nachzujagen, ist von vornherein groß. Ähnlich verhält es sich mit dem Versuch, Termens Position im nachhinein zu bestimmen. Zeitlebens war er einer, der Grenzen auch dann überschritt, wenn das Feld dahinter vermint war. Jemand, der komplexe elektrotechnische Systeme nicht nur berechnen, sondern sie ebenso erfinden kann, ist aufgrund der hohen Arbeitsteiligkeit in den Ingenieurberufen eine Seltenheit. Jemand, der diesen das ästhetische Surplus eines Klangereignisses abringen kann, ist eine Ausnahmeerscheinung.
Einerseits ist da der ambitionierte Wissenschaftler Lew Termen, der als kleiner Junge im Physiklabor des Petersburger Gymnasiums erste Experimente macht und feststellt, dass er den Summton einer Teslaspule mit Hilfe von Handbewegungen manipulieren kann. Zum anderen ist da der spätere Bolschewik aus wohlhabender Familie, der am Petersburger Konservatorium Violoncello studiert und dessen Interesse an den Naturwissenschaften von seiner Begeisterung für Musik noch übertroffen wird – eine Faszination, die selbst dann nicht zum Erliegen kommen sollte, als kein geringerer als Lenin selbst Termen aufgrund seiner Leistungen auf elektrotechnischem Gebiet zu umwerben beginnt.
Die staatliche Führung der mittlerweile um einige Teilrepubliken erweiterten Union gewährte Termen einige Freiheiten. Sein revolutionärer Tongenerator verhalf ihm zu neuen Forschungsaufträgen und kostenlosen Bahnreisen quer durchs Land.¹⁰ Zehn Jahre später strapazierten die Autoritäten im Kreml jedoch eine andere Dimension seiner Erfindung. Die aufkommende Elektronikindustrie machte sich den zugrunde liegenden physikalischen Mechanismus zunutze. Ein akustischer Sensor, der Eindringlinge bereits in nächster Nähe orten kann, sollte nicht nur die Kosten für allfällige Wachtposten dezimieren – in der eben erst gegründeten Zentralbank der Sowjetunion wurde der Apparat auch zur Absicherung des Volksvermögens eingesetzt. Alle sonstige Arbeit Termens schien zum Beiwerk zu verkommen.
Jener Wissenschaftler, auf dessen Erkenntnissen neben dem Theremin auch ein vom sowjetischen Geheimdienst in Auftrag gegebenes Abhörsystem basiert, befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht länger auf dem Boden der UdSSR. Im Dezember 1927 emigrierte Lew Termen in die USA. Auf seine Initiative hin etabliert man 1931 in New York das weltweit erste Thereminstudio, das von Ingenieuren und Komponisten gleichermaßen frequentiert wurde. Parallel dazu gründete er eine Firma für Sicherheitssysteme, über die er optische und akustische Bewegungsmelder verkaufte. Die Ideen der sowjetischen Avantgarde verfolgte er aus sicherer Entfernung. Parallel zu seiner Beziehung mit der aus Litauen in die USA emigrierten Thereminvirtuosin Clara Rockmore, der er entscheidende Impulse bei der Weiterentwicklung seines Instruments verdankt, heiratet er die afroamerikanische Tänzerin Lavinia Williams und erfindet in Zusammenarbeit mit ihr das »Terpsiton« – eine interaktive Tanzbühne, durch die menschliche Bewegungen ins akustische Register übersetzt werden können.¹¹ Auch dabei machte er sich die ungleiche Ladung von Schwingkreisen zunutze. Durch die gezielte Bewegung von Armen und Beinen auf einer isolierten Metallplatte können die Tonhöhen verändert werden. Parallel zu Termen arbeitete der Filmemacher Dsiga Wertow an der Umsetzung eines ähnlichen Entwurfs. Wertow wollte jedoch nicht menschliche Bewegungen, sondern filmische Bilder mittels neuer Methoden der Montage hörbar machen – von Moskau aus.
Aus Termen wird Theremin
Auch in den USA blieb Lew Sergejewitsch Termen ein Grenzgänger zwischen Physik und Musik, ein Erfinder mit außergewöhnlich gutem akustischen Sensorium und fehlendem Geschäftssinn. Das Patent auf sein Instrument, das er an die Firma RCA verkaufte, wurde im Exil nur vorübergehend zum Existenz sichernden Papier. In Amerika offenbart sich eine andere Seite des jüdischen Pioniers, der sämtliche metaphysische Restbestände seiner Herkunft mit der Entscheidung für die wissenschaftliche Welt der Physik hinter sich gelassen zu haben schien.
Aus Lew Sergejewitsch Termen wird Leon Theremin, Experimentalmusiker, Dandy und Stammgast in den Salons der musikalischen Avantgarde. Seine Fernwirkung war den sowjetischen Behörden nicht entgangen: Unter ungeklärten Umständen verließ Theremin die USA im Herbst 1938. Es ist nicht bekannt, ob seine Remigration erzwungen war oder aus Geldnot erfolgte. In Leningrad, so scheint es, war er nur deshalb für ein halbes Jahr aufgetaucht, um so bald wie möglich wieder von dort zu verschwinden. Nach einem misslungenen Fluchtversuch gen Schweden im März 1939 kommt er für acht Jahre in ein Arbeitslager in der sowjetischen Hafenstadt Magadan.¹² Nach seiner Entlassung im Jahr 1947 erhält er den Stalin-Preis und vertieft sich in abwegige Gebiete. Er beschäftigt sich unter anderem mit musikalischer Psychotechnik und folgt Anfang der Achtziger dem Ruf an das eben gegründete Institut für Elektronische Musik in Moskau.
Leon Theremin hatte viele Namen, lang war auch die Liste seiner Erfindungen. Sein Leben gleicht in seinem Schwanken zwischen den politischen Polen des 20. Jahrhunderts der Bewegung der Elektronenladungen, wie sie im Inneren eines Theremins stattfinden. Ohne damit in unmittelbarem Kontakt zu stehen, reagiert dieses Instrument auch in seiner heutigen Bauweise eminent auf Veränderungen in der Außenwelt. Theremins Großnichte, die Moskauer Thereministin Lidija Kawina, behauptet sogar, dass es besonders sensibel sei. Aus diesem Grund gelinge ihr nicht immer, die Töne auf ihm zu erzeugen, die ihr gerade vorschweben.¹³ Im Wissen um dieses Problem arbeitete Leon Theremin bis zu seinem Tod im Jahr 1993 unerbittlich an der Verbesserung seiner Erfindung. Entgegen ursprünglicher Intention entlasten die minimalistischen, doch äußerst rigiden Handbewegungen beim Spielen den Spieler nur bedingt, und auch die exakte Gestaltung der jeweiligen Klangfarbe ist nur beschränkt möglich.
Theremins Name scheint heute in Vergessenheit geraten, nicht aber sein Instrument. Robert K. L. Wheeler von der Postpunk-Band Pere Ubu setzt das Theremin bei seinen Liveauftritten in ganz ähnlicher Weise ein wie Leon Theremin einst sein »Terpsiton«: als Erweiterung des Körpers, der infolge von Schwingungsdifferenzen selbst zum Klingen gebracht werden kann. Die Soapstars der Gegenwart vertrauen auf einen konventionelleren Gebrauch: In einer Folge der amerikanischen Sitcom »The Big Bang Theory« übt sich Sheldon in der einfachen Wiedergabe des Star-Trek-Themes auf einem selbstgebauten Instrument, das seine Freunde nicht zu kennen scheinen. Jedem Geräuschemacher sei dieses noch aus frühen Science-Fiction-Filmen bekannt, die dem Theremin auch das Image als »official Hollywood mouthpiece of mental disorders«¹⁴ einbrachten. Ideengeschichtlich ist das Instrument jedoch im geistigen Umfeld der futuristischen Avantgarde zu verorten. Sein Erfinder starb einsam. Die letzte Aufnahme, in der Lew Termen vor seinem Tod zu sehen ist, war ein Zufallsfund. Die VHS-Kassette befand sich in einem Karton unter dem Bett eines Moskauer Filmemachers.¹⁵
Anmerkungen
1 Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Russische Futuristen. Hamburg 2001, S. 55–57
2 Vgl. Katia Baudin/Elina Knorpp (Hrsg.): Der Kubofuturismus und der Aufbruch der Moderne in Russland, Köln 2010
3 Welimir Chlebnikow: Werke 2. Prosa – Schriften – Briefe. Hrsg. v. Peter Urban, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 119
4 In Chlebnikows »Bund der Erfinder« heißt es dazu: »Irgendwann einmal wird die Menschheit ihre Arbeit aus Herzschlägen aufbauen, wobei ein Herzschlag zur Arbeitseinheit wird. Dann werden Lachen und Lächeln, Fröhlichkeit und Kummer, Faulheit und Lastentragen gleichwertig sein, denn sie alle erfordern die Energie von Herzschlägen.« (S. 266)
5 Chlebnikow: Werke 2, S. 227
6 Alexej Krutschonychs Gedicht »Dyr bul schtschyl« erschien erstmals im Band »Pomade« von 1913.
7 Vgl. Albert Glinsky: Theremin. Ether Music and Espionage. Urbana 2000, S. 23 f.
8 Vgl. Matthias Sauer: Die Thereminvox. Konstruktion, Geschichte, Werke. Osnabrück 2008, S. 5
9 Vgl. Gawriil Popow: Комсомол — шеф электрфикации. UdSSR 1932, 56 Min., Mosfilm
10 Vgl. Sauer: Thereminvox, S. 6
11 Ebd., S. 43 f.
12 Vgl. Bulat M. Galeev: Der sowjetische Faust. Lev Termen – ein Pionier der Elektrokunst. In: Kazan (Sonderheft), 9–12/1994, S. 57
13 Vgl. Sophie Hardie: The Instrument That Feels Like Singing. Lydia Kavina on the Theremin, 22. Januar 2020 (pushkin-house.squarespace.com/blog/2020/1/22/lydia-kavina-on-the-theremin-the-instrument-that-feels-like-singing)
14 Der österreichisch-ungarische Komponist Miklós Rózsa integrierte das Theremin in die Filmpartitur zur Hollywoodproduktion »Sundown« von Henry Hathaway, die 1942 eine Nominierung bei den Academy Awards für die beste Filmmusik erhielt. Rózsa brachte den Thereminklang in Zusammenhang mit der psychischen Instabilität eines Filmcharakters. Obige Formulierung stammt von ihm und ist zu finden in Christopher Palmer: Miklós Rózsa. A Sketch of His Life and Work, London 1975, S. 31 f.
15 Vgl. Elena Tikhonova/Dominik Spritzendorfer: Elektro Moskva. Österreich 2013, 89 Min., Rotor-Film/Sixpackfilm
Barbara Eder schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. Februar 2024 über Sigmund Freuds erste und einzige lesbische Analysandin
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- PEMAX/imago14.11.2024
Einsatz, Operation oder Krieg?
- Werner Schulze/imago08.11.2024
Verpasste Alternativen
- Wikimedia Commons02.11.2024
Weltenbrandstifter