Der Westen wackelt
Von Arnold SchölzelWill keiner mehr regieren? Die Zahl der Kabinette, die in westlichen Industrieländern fast geräuschlos auseinanderbrechen, erhöht sich in kurzen Abständen. Koalitionen platzen oder kommen nicht zustande.
Jüngste Beispiele: Österreich und Kanada. In Wien erteilte Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Montag dem Rechtsaußen und FPÖ-Parteichef Herbert Kickl den Auftrag zur Regierungsbildung. Er solle Gespräche mit der ÖVP aufnehmen. Heißt: Ein aus der Grünen-Partei stammendes Staatsoberhaupt führt eventuell einen Faschisten ins österreichische Kanzleramt ein. Zuvor waren Koalitionsgespräche im Streit um leere Staatskassen gescheitert.
Kanada: Premierminister Justin Trudeau trat am Montag die Flucht nach vorn an, bevor er gefeuert wurde. Er verkündete auf einer Pressekonferenz, als Parteichef der Liberalen zurückzutreten, als Regierungschef aber im Amt bleiben zu wollen, bis ein Nachfolger gefunden sei. Trudeau ist ähnlich unbeliebt wie Olaf Scholz in der Bundesrepublik und erlebte eine Kabinettsrevolte: Finanzministerin Christina Freeland war am 16. Dezember zurückgetreten. Sie verlangte, die Drohungen des zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump ernstzunehmen. Der will unmittelbar nach seinem Amtsantritt am 20. Januar auf Importe aus Kanada Zölle in Höhe von 25 Prozent erheben. Freeman wollte für den »kommenden Handelskrieg« Reserven bilden und lehnte von Trudeau vorgeschlagene Steuersenkungen ab. Dessen »Lösung«: Er wechselte acht Minister aus.
Personenkarussell auch in Südkorea, zumindest außerhalb des Präsidentenpalastes: Den bewohnt immer noch Yoon Suk Yeol, der am 3. Dezember einen Haushaltsstreit mit der Opposition zum Anlass genommen hatte, das Kriegsrecht aus- und nach wenigen Stunden zu widerrufen. Das Parlament will ihn seitdem des Amts entheben, setzt auch einen Gegenpräsidenten nach dem anderen ein, beeindruckt damit Yoon bislang aber nur mäßig. Stand am Montag: Am Sonntag abend bat die südkoreanische Antikorruptionsbehörde (CIO) die Polizei darum, Yoons Festnahme zu vollstrecken. Dies war der CIO in mehreren Versuchen misslungen, vor allem weil sich ihren Ermittlern Soldaten der Präsidentengarde entgegenstellten. Die Polizei prüft noch.
Von einem Militärputsch ist das Vereinigte Königreich noch etwas entfernt, dafür hat es Milliardär Elon Musk im Nacken. Das zukünftige Mitglied der Trump-Administration ließ am Montag auf der ihm gehörenden Internetplattform X darüber abstimmen, ob »Amerika das britische Volk von seiner tyrannischen Regierung« befreien sollte. Zuvor hatte er dort erklärt, der britische Labour-Premier Keir Starmer sei »zutiefst an den Massenvergewaltigungen im Austausch gegen Wählerstimmen beteiligt«. Er gehöre »ins Gefängnis«. Musk bezog sich auf mehr als tausend Vergewaltigungsfälle in Nordengland vor rund zehn Jahren, als Starmer Leiter der britischen Strafverfolgungsbehörde CPS war. Starmer sah sich genötigt zu reagieren und stammelte am Montag von »Lügen und Falschinformationen«.
Wackelnde oder nur geschäftsführend amtierende Regierungen lassen sich außerdem in Frankreich und Belgien, das seit Juni 2024 auf Ministersuche ist, und in der Bundesrepublik finden. Dort hat Musk bereits im Dezember einen »inkompetenten Trottel« an der Regierungsspitze ausgemacht und trifft sich am Donnerstag mit AfD-Kochefin Alice Weidel auf X. Er ist sich sicher: An seinen Eigentumsverhältnissen ändert sich nichts, egal, wie viele Regierungen krachen gehen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (7. Januar 2025 um 11:13 Uhr)»Der Westen wackelt« heißt es reißerisch auf der Titelseite. Im Widerspruch dazu steht Arnold Schölzels Eingeständnis zum Schluss: »An seinen Eigentumsverhältnissen ändert sich nichts, egal, wie viele Regierungen krachen gehen«.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. Januar 2025 um 12:35 Uhr)Nicht nur stirbt die Hoffnung zuletzt – oft folgt auf ein letztes Wackeln der endgültige Zusammenbruch.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. Januar 2025 um 10:27 Uhr)Der »Wertewesten«, wie wir ihn einst kannten, ist ins Wanken geraten. Die politische Landschaft, die früher durch Stabilität und das Vertrauen in den Fortschritt geprägt war, zeigt heute Risse, die tiefer gehen als bloße Regierungswechsel oder Koalitionskrisen. Der Artikel beschreibt eindrucksvoll die Symptome, doch hinter diesen politischen Erdbeben steht ein viel grundlegenderer Wandel. Wo früher die Zuversicht herrschte, dass der Fortschritt uns tragen würde, klafft heute ein Vakuum. Statt eines linearen Wegs in eine bessere Zukunft erleben wir eine Zeit, in der Gewissheiten zerbrechen und vertraute Institutionen erodieren. Die politischen Turbulenzen, die der Artikel schildert, sind nicht bloß individuelle Krisen, sondern Ausdruck einer tieferliegenden Verunsicherung, die die gesamte westliche Welt erfasst hat. Es ist ein Wandel in unserer Wahrnehmung, die Angst, das Erreichte zu verlieren, hat das Vertrauen in die Möglichkeit eines besseren Morgen abgelöst. Das heutige Zeitgefühl ist geprägt von einer seltsamen Mischung aus Unmut und Resignation. Es ist nicht nur die Unzufriedenheit mit einzelnen politischen Akteuren oder Maßnahmen, sondern eine tiefere Entfremdung von der Idee, dass Wandel und Entwicklung überhaupt noch möglich ist. Die Institutionen, einst Säulen der Stabilität, wirken zunehmend wie träge Kolosse, unfähig, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen, geschweige denn eine Vision für die Zukunft zu liefern. Die westliche Welt hat ihre Fortschrittsgewissheit verloren. Was bleibt, ist eine Gegenwart, die sich selbst genügt, und eine Zukunft, die nicht mehr lockt, sondern droht. Dieser Verlust an Orientierung ist der eigentliche Kern der Krise, die der Artikel beschreibt: Nicht die politische Instabilität allein, sondern das schleichende Schwinden des Glaubens an die Kraft von Veränderung und Fortschritt.
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Leserbrief von Frank Lukaszewski aus Oberhausen (7. Januar 2025 um 09:11 Uhr)So, zu wählen ist zeitnah in der BRD angesagt. Mann als auch Frau werden aktuell mehrere Optionen haben. Na ja, nun beginnt das systemimmanente (!) Schauspiel des schlechteren Übels. Die Glaskugel meint, ohne SPD wird es mit dem Finanzkapitalisten Merz noch weniger optimal. Diese richtige FDP und die faschistische Kapitalistenpartei, jene verkleidete FDP in braun, AfD? Wie kann eine Thyssen-Arbeiterin, ein Krankenpfleger, eine Fleischfachverkäuferin usw. AfD nur in Erwägung ziehen? Die Linke. Tja, es bedarf offenbar der drei Direktmandate. Bin ich nicht zuständig. Sahra? In meinem Leben tendiere ich erneut zu Sahra. Diesmal mit h. Wer hätte das gedacht …
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