Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
Gegründet 1947 Dienstag, 3. Dezember 2024, Nr. 282
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
Aus: Ausgabe vom 30.11.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Antiglobalisierung

Ra(s)tlos in Seattle

Vor 25 Jahren kam die WTO in den USA zu einer Tagung zusammen. Die Proteste dagegen waren das Fanal der Antiglobalisierungsbewegung
Von Daniel Bratanovic
3.JPG
»Battle of Seattle«, 30. November 1999. Mythos und Katalysator der Antiglobalisierungsbewegung

Im Abstand eines Vierteljahrhunderts lässt sich ungefähr ermessen, in welcher Weise sich seither die Welt politisch und ökonomisch verändert hat und wie sie sich zugleich gleich geblieben ist. Im Frühjahr 1999 überzog die NATO Jugoslawien mit einem Luftkrieg, im Herbst brandete in Russland der Tschetschenien-Konflikt erneut auf, und ein gewisser Wladimir Putin schickte sich an, im Riesenland die Strippen zu ziehen. Vor 25 Jahren produzierten die Lohnabhängigen in den G7-Staaten noch ungefähr die Hälfte des globalen Bruttoinlandsprodukts, heute nicht einmal mehr ein Drittel. Nur wenig deutete damals, knapp zehn Jahre nach dem Untergang der Gesellschaften des Sozialismus, auf die teils dramatischen Verschiebungen im Weltkoordinatensystem hin. Die Welt schien unipolar, und die Industrienationen des Nordens, allen voran die USA, waren bestrebt, zwecks Absatz- und Profitmehrung ihrer Kapitale gleichsam allen Staaten allgemeingültige Regeln aufzuerlegen. Das Stichwort lautete Liberalisierung des globalen Handels.

Diesem Ziel verpflichtet war damals vor allem die 1994 gegründete Welthandelsorganisation (WTO), deren 135 Mitgliedstaaten ab dem 30. November 1999 zu ihrem dritten Ministertreffen im US-amerikanischen Seattle zusammenkommen sollten. Gegen solche Pläne mobilisierten unterschiedlichste Organisationen, deren jeweilige Anliegen einander – objektiv betrachtet – teils schroff widersprachen. Bauernverbände aus der Europäischen Union fürchteten im Falle einer Liberalisierung des Agrarmarktes um ihre Subventionen und damit um ihre Konkurrenzfähigkeit, westeuropäische und US-amerikanische Gewerkschaften forderten in Sorge um Industriearbeitsplätze, den entfesselten Handel an soziale Mindeststandards in den jeweiligen Herstellerländern zu knüpfen, Umweltorganisationen wiederum an ökologische.

Während dieses Ensemble der Partikularinteressen auf der WTO-Tagung selbst Einfluss zu nehmen suchte, organisierten radikaler globalisierungskritische Gruppen in ihrer grundsätzlichen Ablehnung der multilateralen Organisation und deren Ziele den Protest auf der Straße. Zum Widerstand gegen das Treffen in Seattle hatte zuerst das Netzwerk Peoples Global Action aufgerufen. Unterstützung signalisierten Gewerkschaften und etliche internationale Organisationen, die in einer gemeinsamen Erklärung einen sofortigen Stopp der weiteren Liberalisierung des Welthandels verlangten. Die WTO habe »in den fünf Jahren ihrer Existenz zur Konzen­tration des Reichtums in den Händen weniger beigetragen« und »für die Mehrheit der Weltbevölkerung wachsende Armut gebracht«.

Den Protest in Seattle selbst hatte insbesondere das Direct Action Network, ein Zusammenschluss antikapitalistischer und anarchistischer Gruppen, monatelang vorbereitet. Vor Beginn der Tagung am 30. November besetzten Aktivisten in der Nähe des Tagungszentrums die wichtigsten Kreuzungen, einige errichteten später aus Zeitungskästen Barrikaden. Aus unterschiedlichen Vierteln der Stadt strömten immer mehr Demonstranten vom Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO angeführt in Richtung Kongresshalle. Eine von der schieren Masse – rund 50.000 Teilnehmer – und den Blockaden überforderte Polizei setzte Pfefferspray, Tränengas und Blendgranaten ein, konnte aber nicht verhindern, dass etlichen WTO-Delegierten der Zugang zum Convention Center verwehrt blieb. Gegen Mittag schließlich wurde die Eröffnungszeremonie der WTO-Tagung abgesagt.

Paul Schell, Bürgermeister von ­Seattle, erklärte den Ausnahmezustand, erließ eine Ausgangssperre und bestimmte eine »protestfreie Zone«, Gary Locke, Gouverneur des Staates Washington forderte zwei Bataillone Nationalgarde an. In den folgenden beiden Tagen hielten die Scharmützel zwischen Demonstranten und Repressionskräften an. Die Staatsgewalt inhaftierte gut 500 vermeintliche WTO-Gegner, darunter einige unbeteiligte Anwohner.

Auf der Tagung selbst stritten derweil EU und USA um Agrarsubventionen. Vor allem die USA rangen wiederum mit den ärmeren Nationen um – wie US-Präsident Bill Clinton (da schon im Wahlkampfmodus und in Sorge um seine gewerkschaftliche Klientel) in seiner Rede verlangte – sanktionsfähige Sozialklauseln, gegen die Repräsentanten der »Dritten Welt« vorbrachten, dass dadurch die heimischen Produktionskosten zum eigenen Schaden heraufgesetzt würden. Ein Vertreter der EU nannte diese US-Forderung reichlich wohlfeil »wirtschaftlichen Imperialismus«. Am Ende gab es keine gemeinsame Abschlusserklärung der Teilnehmer und nicht einmal einen Fahrplan für künftige Verhandlungen. Der Seattle Post Intelligencer schrieb: »Ein hässliches Ende einer hässlichen Woche«, die NZZ: »Eine multilaterale Totgeburt in Seattle«.

Dass die Proteste – für Zeit und Ort zweifellos groß und heftig – maßgeblich für das Scheitern der WTO-Tagung verantwortlich waren, dürfte ein Mythos sein. Zu groß waren einfach die Interessendivergenzen der beteiligten Staaten – der großen kapitalistischen untereinander wie auch die gegenüber den globalen Habenichtsen. Bis zum heutigen Tag existieren keine allgemein anerkannten, global gültigen Handelsbestimmungen. Und von der WTO, wenn auch nicht aufgelöst, war schon lange nichts mehr zu hören. Gleichwohl – Ironie der Geschichte – haben nicht zuletzt Freihandelsregeln einigen Staaten den ökonomischen Aufstieg beschert. Der in Seattle abwesende Elefant hieß schon damals China.

Einer zum damaligen Zeitpunkt arg gerupften und desorientierten Linken schien der Protest indes wieder Leben einzuhauchen. Die »Schlacht von Seattle« war ihr Fanal, der Kampf gegen die »Globalisierung« für einige Jahre ihr zentrales Thema.

Hintergrund: WTO

Die Ursprünge der Welthandelsorganisation (WTO) reichen bis in die unmittelbare Nachkriegszeit. Vorläufer war das 1947 von den USA initiierte GATT (Allgemeines Abkommen über Zölle und Handel), dem ursprünglich 23 Staaten angehörten. Es wurde geschaffen, um einen allmählich einheitlichen Handelsraum zu schaffen. Sein Hauptzweck bestand darin, »diskriminierende Handelspraktiken« (Protektionismus) zu vermeiden, die für die Fragmentierung des Weltmarkts und die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre verantwortlich gemacht wurden. Die Gründung der WTO 1994, der sofort 123 Staaten beitraten (derzeit sind es 166), war das Ergebnis der 1986 begonnenen Uruguay-Runde des GATT. Die WTO ging – begleitet von starker Lobbytätigkeit seitens der Großkonzerne und ihrer Thinktanks – allerdings weit über das GATT hinaus. Beansprucht wurde, den Welthandel allgemein zu regeln: nicht mehr nur den Abbau von Zöllen auf Handelsgüter, sondern auch ausländische Direktinvestitionen, den Handel mit Dienstleistungen und geistige Eigentumsrechte. Ein entsprechendes Regelwerk sollte automatisch Sanktionen nach sich ziehen können. Die WTO zwingt die Nationalstaaten, gleiche Kapitalverwertungsbedingungen weltweit zu garantieren. Dazu gehört die Gleichbehandlung von Auslands- und Inlandskapital. Das liegt im Interesse des weltweit agierenden Kapitals und schränkt ärmere Mitgliedstaaten in ihrer Möglichkeit ein, eigenständige Entwicklungsstrategien (etwa Modernisierung durch Importsubstitution) zu verfolgen. Die vollständige Entfesselung der Marktkräfte stieß letztlich an Grenzen. Anders als bei IWF und Weltbank haben die Mitgliedsstaaten gleiche Stimmrechte. Diesem Umstand verdankt sich, dass bei den Ministerkonferenzen der WTO die »Agenda des Nordens« am Widerstand der Entwicklungsländer scheiterte. 2019 endete die Amtszeit von zwei Schiedsrichtern der Rechtsmittelinstanz der WTO. Eine Neubesetzung scheiterte am Widerstand der USA. Die WTO ist seither handlungsunfähig, vermutlich sogar tot. (brat)

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

Regio:

Mehr aus: Schwerpunkt