»Netanjahu ist Feind Nummer eins der Israelis«
Von Jakob Reimann und Juliana RivasOfer Cassif ist Abgeordneter der sozialistischen Chadasch in der israelischen Knesset
Vergangene Woche hat der Ethikausschuss der Knesset einstimmig beschlossen, Sie für sechs Monate aus dem Parlament auszuschließen. Können Sie die Schritte erläutern, die zu dieser Entscheidung geführt haben?
Zunächst einmal besteht das Komitee aus vier Knesset-Mitgliedern, die alle dem rechten politischen Spektrum angehören. Die Botschaft ist klar: Wer sich gegen den Völkermord im Gazastreifen, die ethnischen Säuberungen, die Kriegsverbrechen und Greueltaten ausspricht oder sich für die Freilassung der Geiseln einsetzt, wird politisch verfolgt. Und das macht auch vor uns Abgeordneten nicht halt. Zusätzlich habe ich eine Petition unterschrieben, die die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof unterstützt. Aber das ist nur ein Vorwand. Wir sollen mundtot gemacht werden. So sieht Faschismus aus.
Die Entscheidung des Ausschusses ist also politisch motiviert und ein klarer Versuch, friedensbewegte, propalästinensische und linke Stimmen zum Schweigen zu bringen. Wie würden Sie diesen immer weiter schrumpfenden demokratischen Raum beschreiben?
Israel war nie eine echte Demokratie, weil es von Tag eins an im politischen Sinne die jüdische Vorherrschaft betrieben hat. Ich spreche hier nicht nur von rassistischen Aspekten, auch wenn der Rassismus auf dem Vormarsch ist und zunehmend die Gesellschaft dominiert. Es stimmt, dass die politische Verfolgung, insbesondere gegen palästinensische Bürger Israels, deutlich zunimmt – oft sogar gewaltsam. Beispiele dafür gibt es reichlich: Schauen Sie sich nur die geplanten und die bereits verabschiedeten Gesetze an, die die Bürgerrechte aller, insbesondere jedoch die der Palästinenser und der Linken, drastisch einschränken. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit werden mit Füßen getreten und brutal unterdrückt. Menschen wurden verhaftet, nicht weil sie die Hamas unterstützten, sondern weil sie Mitgefühl für die Kinder in Gaza äußerten oder sich gegen die anhaltenden Angriffe aussprachen. Doch auch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Menschen haben ihre Arbeit oder ihren Studienplatz an der Universität verloren und wurden grundlos inhaftiert. Erst im November wurden weitere Gesetze verabschiedet, die klar diktatorischer Natur sind. Besonders besorgniserregend ist die Absicht der Knesset – unterstützt von Teilen der Opposition –, uns von den nächsten Wahlen auszuschließen.
Wie will man Sie an der Wahlteilnahme hindern?
Schon 1985 hat die Knesset ein Gesetz verabschiedet, mit dem Wahllisten, die den Staat Israel nicht als Staat des jüdischen Volkes anerkennen oder Terror, Terrorismus oder Gewalt gegen Israel unterstützen, von den Wahlen ausgeschlossen werden können. Seitdem gab es bei jeder einzelnen Wahl Versuche der Rechten, bestimmte Listen oder Kandidaten auszuschließen. Als ich 2019 erstmals kandidierte, entschied der Wahlausschuss, dass ich nicht teilnehmen dürfe, weil ich die Definition des Staates als jüdisch ablehnte und angeblich Terror unterstützte – eine blanke Lüge. Der Oberste Gerichtshof hob diese Entscheidung damals auf. Doch jetzt soll die Regelung verschärft werden. Das Ziel ist klar: Sie wollen Chadasch, eine jüdisch-arabische Partei, und auch die anderen arabischen Parteien verbieten. Das ist der nächste Schritt. Wir befinden uns tief im faschistischen Abgrund.
Kürzlich bezeichneten Sie Netanjahu gegenüber The New Arab als »Psychopathen, Faschisten und Diktator«. Wohin steuert diese Regierung, und was ist deren Vision für den israelischen Staat?
Alles, was ich gesagt habe, ist korrekt. Die Regierung und insbesondere Netanjahu selbst kümmern sich nicht um andere. Sie zeigen weder Mitgefühl noch Reue – es ist ihnen schlicht egal. Das gilt für das Leben der Palästinenser, die zu Tausenden abgeschlachtet werden, doch auch für das Leben der Israelis. Sie schicken Soldaten ohne Grund als Kanonenfutter nach Gaza und in den Libanon, nur um als Regierung zu überleben und ihren kriminellen Plan zur Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete fortzusetzen. Die Geiseln lassen sie seit mehr als 400 Tagen im Stich.
Diese Regierung verhält sich wie ein Psychopath, weil sie aus messianischen Fanatikern, Faschisten und Rassisten besteht. Diese Faschisten haben mich als antiisraelisch und sogar als »Autoantisemiten« bezeichnet, was natürlich völliger Blödsinn ist. Solche Begriffe werden von Diktatoren benutzt, um Widerstand oder Opposition zu delegitimieren. Sie schreiben ihren Feinden solche Attribute zu, was mich in dem Sinne fast schon etwas stolz macht. Ich bin jedoch nicht antiisraelisch, geschweige denn antisemitisch. Im Gegenteil, denn gemeinsam mit meinen Kameradinnen und Kameraden dient unser Kampf den tatsächlichen Interessen der israelischen Gesellschaft. Es geht um Gerechtigkeit, und die ist universell. Netanjahus Regierung handelt nicht im Interesse des israelischen Volkes. Sie ist der Feind Nummer eins der Israelis und führt die Gesellschaft in die totale Zerstörung. Dies zu sagen bedeutet, proisraelisch zu sein, nicht antiisraelisch.
Ein UN-Sonderbericht kam kürzlich zu dem Schluss, dass die israelischen Praktiken im Gazastreifen »Merkmale eines Völkermords« aufweisen. Wie sehen Sie das?
Ich habe in der Vergangenheit mehrfach gesagt, dass die israelische Regierung für einen Völkermord verantwortlich ist – das ist einer der Hauptgründe für meine Suspendierung. Diese Regierung und ein großer Teil der Opposition sind illegitim. Lügen sind die Grundlage für die derzeitige Situation in der israelischen Politik und Gesellschaft. Wer lügt und die Greueltaten der israelischen Regierung ignoriert, kann offen und frei seine Meinung äußern. Wer aber die Wahrheit aufdecken will, um ein Ende dieser Greuel und Missstände herbeizuführen, wird suspendiert und verfolgt.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass im Gazastreifen ein Genozid stattfindet. Ich sage dies nicht, um die israelische Regierung zu diskreditieren, sondern weil es entscheidend ist, die Situation klar zu benennen – wie ein Arzt, der nur mit einer korrekten Diagnose die richtige Behandlung finden kann. Und die Diagnose ist eindeutig: Es handelt sich um Völkermord. Vor einigen Monaten haben 45 Ärzte und Pflegekräfte aus den USA, die in Gaza tätig waren, einen Brief an Präsident Biden geschickt. Darin schrieben sie über die vielen Leichen von Kindern, die von Scharfschützen durch Kopfschüsse oder Schüsse in die Brust getötet worden waren. Menschen werden in Zelten und Notunterkünften angegriffen, humanitäre Hilfe blockiert. Auch wenn sie uns wieder und wieder sanktionieren und verfolgen – dazu dürfen wir nicht schweigen.
Wie reagieren die israelische Politik und die politische Klasse des Landes auf Vorwürfe des Völkermordes, wie sie beispielsweise von der UNO oder NGOs wie Amnesty International erhoben werden?
Es gibt in Israel Hunderttausende Menschen, die sich gegen die anhaltenden Greueltaten und den Genozid aussprechen, die Freilassung der Geiseln fordern und sich gegen die Regierung und deren Politik stellen. Doch wenn man den hegemonialen öffentlichen Diskurs betrachtet, zeigt sich eine Kombination aus Selbstmitleid und Einschüchterung. Einerseits prägt das Gejammer den Diskurs: »Wir sind Opfer, wir waren immer Opfer, wir sind die Leidtragenden, die Verfolgten.« Natürlich stimmt es, dass am 7. Oktober 2023 ein schreckliches Massaker durch die Hamas stattfand – ein krimineller und verabscheuungswürdiger Akt, den wir klar verurteilen. Aber nach über einem Jahr, nach mehr als 50.000 Toten, von denen die überwiegende Mehrheit Zivilisten sind, nach der totalen Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen und Unterkünften, nach einer Hungerkatastrophe und der unfassbaren Zahl toter Kinder und Frauen, kann man sich nicht weiterhin als Opfer darstellen. Andererseits gibt es viele, die stolz auf diese Zerstörung und die Totenzahlen sind. Einige Soldaten veröffentlichen Fotos und Videos ihrer Kriegsverbrechen auf Plattformen wie Tiktok. Diese krankhafte Kombination aus Einschüchterung, Töten und Selbstviktimisierung muss aufhören. Und viele Regierungen unterstützen dieses Massaker sogar indirekt, wobei allen klar sein muss: Wer die israelische Regierung unterstützt, unterstützt nicht die Israelis – ganz im Gegenteil: Die israelische Regierung ist der größte Feind der Israelis.
Die einzige Institution, die der Bevölkerung in Gaza umfassend Hilfe leisten könnte, ist die UNRWA. Doch die Knesset hat wiederholt versucht, diese UN-Organisation als terroristisch einzustufen. Kürzlich wurden zwei Gesetze verabschiedet, die die künftige Arbeit der UNRWA de facto unmöglich machen. Was wird das für die Menschen in Gaza bedeuten?
Das wäre eine absolute Katastrophe! Neben den fortgesetzten Greueltaten und Massakern in Gaza sowie der tödlichen ethnischen Säuberung im Westjordanland würde das Ende der UNRWA die Situation der Palästinenser noch weiter verschärfen. Doch erneut schweigt die Welt, schaut tatenlos zu und unternimmt nichts.
Was würden Sie der deutschen Regierung, Annalena Baerbock und Olaf Scholz, angesichts ihrer Verantwortung und Verstrickung in all diese Verbrechen gern sagen?
Wenn Sie den Israelis und der israelischen Gesellschaft wirklich helfen wollen, müssen Sie alles tun, um gegen die israelische Regierung vorzugehen. Diese Regierung ist der Feind der israelischen Bevölkerung, nicht »nur« der Palästinenser. Sie hat Israel in eine faschistische Diktatur verwandelt, und das liegt gewiss nicht im Interesse der Israelis. Wenn Sie diese Regierung unterstützen, unterstützen Sie ein faschistisches Regime – und damit schaden Sie dem israelischen Volk, anstatt ihm zu helfen.
Hintergrund: Chadasch
Die sozialistische Chadasch bildet mit fünf von 120 Sitzen den linken Flügel in der israelischen Knesset. Chadasch wurde 1977 als Zusammenschluss arabischer und jüdischer Kommunisten und den Black Panthers gegründet und ist seitdem in verschiedenen Konstellationen Teil linker Wahllisten. Ihre Wurzeln liegen im anhaltenden Kampf der palästinensischen Bürger Israels, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, jedoch oft systematischer Diskriminierung, wirtschaftlicher Marginalisierung und eingeschränkter politischer Vertretung ausgesetzt sind. Chadasch kämpft für die Rechte der arabischen Bevölkerung und gegen die Hegemonie der rechten bis extrem rechten Vertreter im israelischen Parteienspektrum.
Neben innenpolitischen Forderungen rund um soziale Gerechtigkeit positioniert sich die Partei als starke Verfechterin einer progressiven Besteuerung, von Arbeiterrechten und ökologischer Nachhaltigkeit. Vor allem der Ruf nach einem Ende der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete, die Unterstützung einer Zweistaatenlösung sowie der Versuch, die arabisch-jüdische Kluft zu überbrücken und den extremen Rassismus im Land zu bekämpfen, verschaffen der Partei eine Plattform für den Aufbau von Koalitionen mit anderen progressiven Kräften in Israel. Trotz des geringen Stimmanteils, der gewöhnlich bei wenigen Prozent liegt, bildet Chadasch im öffentlichen Diskurs weiterhin einen wichtigen Gegenpol zu den dominanten Narrativen von Nationalismus, Besatzung, Segregation und gegen Konzepte von nationaler Sicherheit, die auf extremer Gewalt und Unterdrückung gründen. (jr/jur)
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