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Aus: Ausgabe vom 05.10.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Krieg in Nahost

Ohne Atempause

Die israelische Armee setzt ihre Angriffe auf den Libanon uneingeschränkt fort. Mehr als ein Drittel des Landes wurde zum Evakuierungsgebiet erklärt
Von Jakob Reimann
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Trümmerlandschaft. Der Stadtteil Dahiyeh in Beirut (4.10.2024)

Heftige Explosionen erhellen den Beiruter Nachthimmel: Erneut bombardierte die israelische Luftwaffe in der Nacht zu Freitag die südlichen Vororte der libanesischen Hauptstadt. Die insgesamt elf separaten Luftschläge gelten als die heftigsten Angriffe auf Beirut seit der Eskalation israelischer Attacken auf zivile Infrastruktur im Libanon Mitte September. Auf Videoaufnahmen waren gewaltige Flammen und Rauchschwaden zu sehen. Die Schockwellen der abgeworfenen Bomben brachten Häuser in ganz Beirut zum Zittern. Das libanesische Gesundheitsministerium meldet 37 Tote und 151 Verwundete in den vergangenen 24 Stunden. Parallel setzten israelische Truppen und Panzer ihre Offensive gegen Dörfer und Gemeinden im Südlibanon fort. Die nächtlichen Angriffe auf Beirut galten Zielen in dichtbesiedelten Wohngebieten und im Umfeld des Beiruter Flughafens, berichtet Al-Dschasira am Freitag. Das israelische Militär sprach von einem »präzisen, nachrichtendienstlich gestützten Schlag«, durch den der Leiter der Kommunikationsnetze der Hisbollah, Mohammad Rashid Sakafi, getötet worden sei.

Doch unbestätigten Berichten israelischer Medien zufolge galt der Luftangriff vorrangig Haschim Safi Al-Din, dem Chef des Exekutivrats der Hisbollah-Miliz. Safi Al-Din gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge des Ende September durch einen israelischen Luftangriff gezielt getöteten Hassan Nasrallah, der die Hisbollah über drei Jahrzehnte hinweg geführt hatte. Safi Al-Din, ein Cousin Nasrallahs, habe zusammen mit weiteren hochrangigen Hisbollah-Funktionären an einem Treffen in einem Bunker in südlichen Vorort Dahiye teilgenommen, als die Bomben auf das Wohnviertel niedergingen, berichtet die New York Times. Ob Safi Al-Din bei dem Anschlag getötet wurde, war bis jW-Redaktionsschluss unklar.

Menschen vertreiben

Bereits in der Nacht zuvor hatte das israelische Militär nach eigenen Angaben etwa 200 Ziele im Libanon angegriffen, darunter auch Büros der Lokalregierung in Bint Jbeil nahe der Grenze zu Israel, wobei 15 Personen getötet wurden. Neben den unvermindert fortgeführten Bombardements aus der Luft deutet vieles darauf hin, dass Israel seine in dieser Woche begonnene Invasion im Libanon ausweiten könnte. So erklärte das Militär, es werde eine fünfte Division in das Grenzgebiet zum Libanon entsenden. Ziel der Bodenoffensive sei die Zerstörung von Tunneln und Waffen der Hisbollah in Grenznähe, zitiert das Wall Street Journal mehrere über den Einsatz informierte israelische Beamte. Außerdem wurden am Donnerstag die Bewohner von mehr als 20 weiteren Städten im Südlibanon aufgefordert, ihre Häuser in Richtung Norden zu verlassen. Demnach sollen die Menschen einen etwa 60 Kilometer breiten Streifen hinter der Grenze räumen. Das Evakuierungsgebiet umfasst damit rund ein Drittel des Landes. Die erniedrigende Taktik, Menschen von einer Ecke des Landes in die nächste zu treiben, ist aus dem erbarmungslosen Krieg in Gaza wohlbekannt.

Nach Angaben der libanesischen Regierung und auch der staatlichen Nachrichtenagentur NNA haben israelische Kampfflugzeuge am Freitag auch die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Libanon und Syrien bombardiert. Die israelischen Bomben hätten in der Nähe des Grenzübergangs Masnaa in der Bekaa-Ebene im Osten des Landes einen vier Meter breiten Krater hinterlassen, und nunmehr sei die Zubringerstraße unpassierbar, sagte der libanesische Verkehrsminister Ali Hamieh gegenüber Reuters. Ohne entsprechende Beweise vorzulegen, behauptet wiederum die israelische Seite, die Hisbollah transportiere auf dieser Route Waffen und militärische Ausrüstung aus Syrien. »Die IDF wird den Schmuggel dieser Waffen nicht zulassen und nicht zögern zu handeln, wenn sie dazu gezwungen wird«, rechtfertigt Armeesprecher Avichay Adraee auf X die Zerstörung dieser bedeutenden zivilen und zuletzt humanitären Infrastruktur. Denn jüngst diente die Straße in erster Linie als Fluchtroute. So konnten sich nach libanesischen Angaben in den vergangenen zehn Tagen mehr als 300.000 Menschen vor den todbringenden Bomben ins kriegszerstörte Syrien fliehen, überwiegend über den Masnaa-Übergang. Viele davon sind Syrer, die seit 2011 das Land in Richtung Libanon verlassen mussten und nun erneut vertrieben werden.

Vor der Flüchtlingskrise

Eine Beamtin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sagte am Freitag, dass die meisten der fast 900 Sammelunterkünfte für Geflüchtete im Libanon mittlerweile vollkommen ausgelastet seien und die Menschen, die vor den israelischen Angriffen fliehen, mehr und mehr im Freien schlafen müssen. »Das UNHCR ist besorgt, dass sich mit Einbruch des Winters die Bedingungen für die Menschen, die von dem eskalierenden Konflikt betroffen sind, weiter verschlechtern werden«, so Rula Amin laut Al-Dschasira bei einer Pressekonferenz in Genf. Viele würden in die syrische Heimat zurückkehren, auch weil die Behörden dort die bürokratischen Hürden für die Rückkehr abgesenkt hatten, erklärt Ivo Freijsen, UNHCR-Vertreter im Libanon, im Interview mit Euronews. Zwar sei die Flucht übers Mittelmeer mittlerweile oft nur noch zu »unverschämt hohen Preisen« zu haben, so Freijsen weiter, doch werden sich viele Vertriebene wohl auch per Boot auf den Weg nach Europa machen. Und auch wenn die Bundesregierung die deutschen Grenzen dichtmacht, könnte sie bald bemerken, dass Waffenlieferungen an kriegführende Länder Konsequenzen haben können, die nicht so leicht zu ignorieren sind wie ein Trümmerfeld irgendwo in Nahost.

Krise des Gesundheitssystems

Der seit Mitte September von Israel eskalierte Krieg gegen den nördlichen Nachbarn hat zu einer präzedenzlosen Krise des Gesundheitssystems im Libanon geführt. Bedingt unter anderem durch die extreme Finanzkrise seit 2019 haben libanesische Forscher in einem Aufsatz im Health Economics Review bereits im April 2023 vor einem »möglichen Kollaps« des libanesischen Gesundheitssystems gewarnt. Nach Angaben von Tedros Adhanom Ghebreyesus, Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), vom Donnerstag wurden innerhalb von 24 Stunden 28 Pflegekräfte im Libanon getötet, berichtet die türkische Agentur Anadolu. Zusätzlich waren durch die anhaltenden Angriffe der israelischen Armee viele weitere Krankenhausangestellte zur Flucht gezwungen, was das libanesische Gesundheitssystem erheblich belastet. Insgesamt wurden in den vergangenen zwei Wochen mindestens 50 Sanitäter getötet, berichtet der Guardian. Am Donnerstag bombardierte Israel ein medizinisches Zentrum mitten in Beirut und tötete dabei neun Angestellte. Auch bei den Pager-Anschlägen am 17. und 18. September waren zwei Pflegekräfte getötet worden, ein Gerät war in einem Krankenwagen explodiert. Insgesamt wurden mindestens fünf Krankenhäuser durch israelische Bomben beschädigt.

Im Süden des Landes mussten laut WHO insgesamt 37 Gesundheitseinrichtungen geschlossen, allein in Beirut drei Krankenhäuser vollständig, zwei weitere teilweise evakuiert werden. Die enorme Zahl an Vertriebenen verschärft die Lage weiter: Gut 1,2 Millionen Menschen, mehr als ein Fünftel der Bevölkerung, sind in den letzten Wochen vor der israelischen Gewalt ins kriegszerstörte Syrien oder in andere Landesteile geflohen. Bereits am 23. September hatte das libanesische Gesundheitsministerium verordnet, dass Krankenhäuser in Distrikten im Süden und Osten des Landes keine nicht zwingend notwendigen Operationen mehr durchführen sollen, um sich voll auf die Notversorgung der Tausenden durch israelische Luftschläge Verletzten kümmern zu können.

Die WHO verlangt einen sofortigen Waffenstillstand und sicheren Zugang zu medizinischen Hilfsgütern. »Die WHO fordert eine Deeskalation des Konflikts, den Schutz der Gesundheitsversorgung vor Angriffen, die Sicherung der Zugangswege und die Lieferung von Hilfsgütern sowie einen Waffenstillstand, eine politische Lösung und Frieden«, so WHO-Chef Ghebreyesus. Der libanesische Außenminister Abdallah Bou Habib sagte am Mittwoch gegenüber CNN-Reporterin Christiane Amanpour, dass Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah nur wenige Tage vor seiner Tötung durch einen israelischen Luftschlag einem Waffenstillstand zugestimmt habe. (jr)

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