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Aus: Ausgabe vom 27.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Wie schwarz war Othello?

Die Altphilologin Melanie Möller verteidigt mit etwas zu viel Verve die Autonomie der Kunst gegen moralisch motivierte Übergriffe
Von Christian Stappenbeck
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Welcher Ton triffts? Ein »Mohr« konnte zu Shakespeares Zeit irgendein Moslem sein (Maxim-Gorki-Theater Berlin, 2016)

Der Verlag setzt den Buchtitel auf dem Cover so: »Der *ent_mündigte Lese:r« Diese ironische Volte zeigt von vornherein, was die Autorin Melanie Möller von gewissen Arten der Sprachplanung hält. Sie hält nichts von Erziehungsversuchen mittels künstlicher, witzloser, kaum sprechbarer Eingriffe ins Schriftbild. Darin stimmt die Berliner Altphilologin überein mit vielen Menschen, die wissen, dass das grammatisch »männliche« Maskulinum als ein neutrales Schubfach, ein Generikum (so z. B. »der« Säugling, der Fan, der Gast, der Mensch) nicht auf ein biologisches Geschlecht verweist. Schließlich spürt, fühlt und weiß jeder, dass hier von Personen unabhängig vom natürlichen Sexus gesprochen wird. Alle Finnen lieben die Sauna, Schweden lieben ihren König, jeder, der hilft, ist willkommen – sind da nur die Männer gemeint? »In meinem Buch gibt es jedenfalls keine Auslassungsstriche und keine Sterne, (…) den Rest überlasse ich den mündigen Lesern«, bestimmt die Autorin.

Sie liebt Homers Ilias und klassische Dramen und kann es partout nicht leiden, wenn selbsternannte Wächter Leserbefindlichkeiten beurteilen und sich an überlieferten Texten vergreifen, wenn sogenannte Triggerwarnungen den Leser auf Verstörendes schonend vorbereiten wollen, wenn Gleichstellungsbeauftragte öffentlicher Einrichtungen neue Sprachregeln verordnen. Ganz zu schweigen von Lektüreverboten. Für all das gibt sie Beispiele, gegen all das wettert sie, in Verteidigung der Kunstautonomie.

Das erste Problem ist freilich der Begriff des mündigen Lesers. In Möllers Literaturzitaten gibt es krasse Brutalitäten, »reichlich provozierendes Material für Zartbesaitete«, sagt sie. Ist das Schulkind ebenso mündig wie der lesende Akademiker? Sicher nicht. Ist das Schulkind völlig frei zu entscheiden, was es liest? Keinesfalls. Die Zensur und auch der sensible Sprachgebrauch könnten also doch eine Berechtigung haben, was Möller generös übergeht. Sie meint mit Nachdruck, die Autonomie der Kunst verbiete jedes moralische Urteil über deren Inhalte. Darum dürfe bei Goethe sein künstlertypischer, manch einer Frau gegenüber gemeiner Egoismus nicht gegen sein Werk ins Feld geführt werden.

Schlimm sei es, wenn mit der Haltung moralischer Überlegenheit über Werke von Aristophanes, Shakespeare oder Goethe geurteilt werde. Möller zeigt es am Bühnenstück »Othello«, dem schwarzen General, dem »Mohren von Venedig«. Hat nicht der Autor William Shakespeare, indem er das Äußere Othellos mit beleidigenden Worten aus dem Mund seiner Feinde beschrieb, rassistische Klischees bedient? Und dazu kommt neuerdings die Frage: Darf nur ein Schwarzer die Rolle spielen? »Wie tief sollte denn die Schwärze sein, um dem Original möglichst nahe zu kommen?« fragt Möller. Denn Mohr bzw. Maure konnte seinerzeit ein Afrikaner, ein Araber oder ein sonstiger Moslem sein.

Interessant ist die Behandlung von Lindgrens »Pippi Langstrumpf«. Streitpunkt dabei ist vor allem seit längerem Pippis Vater, der »Negerkönig«. Dem Ersatzwort »Südseekönig« haben offenbar Lindgrens Rechteerben zugestimmt. Nun ja, ein Eingriff in das Original, der im deutschen Sprachraum unwichtig erscheint.

In jedem Kapitel des Buches wird einem klassischen Werk je eine neuere Dichtung gegenübergestellt. Das mag bei Catull und Casanova ganz passend sein – Leitfrage: Wie viel Ich ist im Autor? –, bei Vergil und Heinrich von Kleist schon schwieriger (Fremdherrschaft, Aneignung und Selbstverlust). Die klassische Philologin Möller zeigt, dass Literatur auch zu alten Zeiten schon mit moralischem Anspruch kritisiert, ja sanktioniert wurde. Wegen seiner »Ars amatoria«, der »Liebeskunst«, wurde der arme Ovid in die ödeste Provinz des Imperiums verbannt, nach Tomi (heute Constanţa, Rumänien). Doch dass die aktuelle Gefahr für alte Texte nicht ganz so groß ist, liest man im Möllerschen Buche gelegentlich. Trotz anstößiger Stellen haben nämlich Euripides und Annie Ernaux »noch keine größeren Säuberungsbestrebungen ausgelöst«.

Eine alte römische Warnung aus dem 1. Jahrhundert u. Z. zum Schluss. Der Dichter Marcus Valerius Martial – seine Epigramme waren übrigens Vorbild für Schiller und Goethe – schickte der Sammlung seiner Spottgedichte einen Vorspann voraus, an die empfindlichen Langweiler unter den Lesern adressiert. Martial warnt, übersetzt von Möller:

»Die Hände lasse jeder böswillige Interpret von der Harmlosigkeit meiner Scherze, genauso wie er meine Epigramme nicht umschreiben soll. Bösartig handelt, wer an einem fremden Buche sein Talent demonstrieren will. (…) Nicht betrete mein Theater ein Cato, oder – wenn er es betritt – dann soll er auch zuschauen.«

Melanie Möller: Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift. Galiani Berlin, Berlin 2024, 240 Seiten, 24 Euro

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