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Aus: Ausgabe vom 23.09.2024, Seite 12 / Thema
Arbeiterbewegung

Krise und Ausweg

Vorabdruck. Die Gewerkschaften müssen sich erneuern. Zum aktuellen Stand der internationalen Arbeiterbewegung
Von Marcel van der Linden
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Streikfreudig. Mehr als 200 Millionen indische Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten sich im März 2022 an einem zweitägigen landesweiten Streik gegen die Inflation. Im Bild eine Fahne des kommunistischen All India Trade Union Congress (Patna, 29.3.2022)

In dieser Woche erscheint im Wiener ­Promedia-Verlag Marcel van der Lindens Buch »›… erkämpft das Menschenrecht‹. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen«. Wir dokumentieren daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag das abschließende Kapitel. (jW)

Es dürfte keine Übertreibung sein zu sagen, dass die klassischen Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegungen weltweit in einer Krise stecken. Diese Krise scheint das Ende eines langen Zyklus zu markieren. Nach einem Vorspiel ab dem 14. Jahrhundert sind seit dem 18. Jahrhundert zahllose Bemühungen um Selbstorganisation und politische Artikulation von Arbeiterinteressen zu beobachten, die unter anderem mit den Revolutionen in Haiti (1791), Russland (1917) und Bolivien (1952) und dem Aufstieg mächtiger Organisationen in Teilen Amerikas, Europas, des südlichen Afrikas, Ostasiens und des westlichen Pazifiks ihren Höhepunkt erreichten. Natürlich bestand diese Entwicklung nicht ausschließlich aus Erfolgen, und die Niederlagen mögen die Siege sogar überwiegen. Lange Zeit schien der allgemeine Trend jedoch in Richtung Verbesserung der Lebensbedingungen zu gehen.

Beeinflusst durch das rasche Aufkommen des Kapitalismus und den sich wandelnden Charakter der Nationalstaaten, spaltete sich die Bewegung nach den Revolutionen von 1848 allmählich auf: Ein Flügel strebte nach dem Aufbau einer alternativen Gesellschaft ohne Staaten im Hier und Jetzt (Anarchismus/Syndikalismus), der andere eher nach einer Umwandlung des Staates, so dass dieser zum Aufbau besagter alternativer Gesellschaft genutzt werden konnte (Sozialdemokratie ; kommunistische Bewegungen ; arabischer Sozialismus ; afrikanischer Sozialismus ; indischer Sozialismus usw.). Beide Tendenzen konnten das ursprüngliche Ziel, den Kapitalismus durch eine sozial gerechte und demokratische Gesellschaft zu ersetzen, nicht erreichen.¹

Die verschiedenen Bestrebungen scheinen sich alle in einer Sackgasse zu befinden; in einigen Fällen stagnierten sie sehr schnell, in anderen eher langsam. Der Anarchismus unter Arbeitern und Kleinbauern erreichte seinen globalen Höhepunkt in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Der revolutionäre Syndikalismus hatte weltweit gesehen seine Blütezeit zwischen 1890 und 1940. Von ihren Mitgliedern kontrollierte Konsumgenossenschaften entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und gingen ab den 1950er Jahren wieder zurück. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann der Durchbruch der Gewerkschaftsbewegung, die in den 1950er und 1980er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Die »realsozialistischen« Versuche in der Sowjetunion, in Osteuropa, China und Südostasien führten letztlich zu kapitalistischen Gesellschaften. Viele der kommunistischen Parteien in anderen Ländern verschwanden, und die meisten sozialdemokratischen und Labour-Parteien kamen von ihrem politischen Kurs ab.

Gleichzeitig blieben die Gewerkschaftsbewegungen im Süden im Durchschnitt deutlich schwächer als die des Nordens. Zwar gab es vereinzelt gewerkschaftliche Macht, aber der gewerkschaftliche Organisationsgrad war im allgemeinen eher gering und ist selbst in Ländern mit relativ starken Gewerkschaften rückläufig. Und was die Arbeiterparteien betrifft, so ist die Situation im Süden noch düsterer. Eric Hobsbawm stellte einmal fest, dass nach dem Zweiten Weltkrieg »kaum solche Parteien aus den Arbeiterklassen heraus entstanden sind, vor allem nicht in der sogenannten Dritten Welt«.² Der Anarchismus und der Syndikalismus haben längst ihren Schwung verloren – auch wenn es hier und da Wiederbelebungen gibt, meist in einem relativ kleinen Rahmen. Die sozialdemokratischen Parteien mussten viel Ungemach erfahren und können meines Erachtens kaum noch als Teil der Arbeiterbewegung angesehen werden. Die meisten nichtregierenden kommunistischen Parteien brachen zusammen oder führen ein Randdasein. Die internationale Gewerkschaftsbewegung ist geschwächt und fand bisher keine überzeugenden Antworten auf die aktuellen Herausforderungen.

Dabei ist der Niedergang der Bewegungen keineswegs ein geradliniger Prozess. Zwar ist häufig perspektivisch ein Abwärtstrend zu beobachten, doch wird dieser nicht selten durch Aufschwünge von kürzerer oder auch längerer Dauer unterbrochen. Bei der Erklärung von Krisen ist es daher sinnvoll, zwischen tieferen Ursachen und »Auslösern« zu unterscheiden. Tiefere Ursachen hängen mit langfristigen Entwicklungen von Wirtschaftsprozessen, sozialen Strukturen und kulturellen Beziehungen zusammen. »Auslöser« sind kurzfristige Einflüsse. Die Kombination der beiden Aspekte erklärt, warum sich Bewegungen vorübergehend stark verändern können, während trotzdem eine längerfristige Tendenz noch erkennbar ist.

Die Krise der Arbeiterbewegungen ist besorgniserregend, weil es in der arbeitenden Bevölkerung nach wie vor einen sehr großen Bedarf an wirksamer wirtschaftlicher und politischer Interessenvertretung gibt. Wie sehen unter diesen Umständen die Aussichten aus? Langfristig gesehen, sind die Dinge vielleicht nicht so düster, wie sie heute erscheinen.

Erstens ist vielleicht ein Hinweis auf eine paradoxe Entwicklung nützlich. Die Schwächung der Arbeiterbewegungen hat es anderen Bewegungen ermöglicht, sich einen Teil ihres ehemaligen Aktionsfeldes anzueignen. Religiöse und nationalistische Bewegungen füllen teilweise das derzeit bestehende sozial-politische Vakuum, indem sie Klassenkonflikte umlenken. Sie bieten ihren Anhängern elementare Formen sozialer Sicherheit und Vertrauensnetze, aber auch Selbstwertgefühl und klare Lebensziele. Viele arme Menschen werden von solchen Bewegungen in all ihren Varianten angezogen – von den Pfingstbewegungen in Lateinamerika und Subsaharaafrika bis hin zum Salafismus in Nordafrika, dem Nahen Osten und Zentralasien. Auch prekär lebende Jugendliche in kapitalistischen Industriestädten scheinen sich manchmal zu Gruppen hingezogen zu fühlen, die eine neue religiöse Gewissheit bieten.

Zweitens werden die Klassenkonflikte nicht abnehmen. Werfen wir nur einen kurzen Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre. Die Carnegie Endowment for International Peace beobachtet seit einigen Jahren soziale Proteste auf globaler Ebene. In ihrem Bericht über das Jahr 2023 stellt die Organisation fest: »Die Flut von Antiregierungsprotesten, die weltweit Länder in Aufruhr versetzt hatte, dauerte auch 2023 an. (…) Neue Proteste brachen in dreiundachtzig Ländern aus, von China und der Demokratischen Republik Kongo bis zum Irak und Nordmazedonien. (…) Darüber hinaus hielten einige Proteste, die bereits vor diesem Jahr begonnen hatten, an, darunter Demonstrationen der Lehrer in Ungarn, Demonstrationen gegen die Regierungspartei in Bangladesch und gegen den ›Selbstputsch‹ des tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed im Juli 2021 und dessen hartes Durchgreifen gegen die Opposition. Auch die große Protestbewegung im Iran, die im Oktober 2022 mit dem Tod von Mahsa Amini in Polizeigewahrsam begonnen hatte und den Slogan ›Frau, Leben, Freiheit‹ populär machte, setzte sich fort.«³

An der Streikfront tun sich interessante Dinge, auch bei den beiden Supermächten. Das in Hongkong ansässige China Labour Bulletin sammelt Streikdaten für die Volksrepublik China. In seinem Bericht für das Jahr 2023 stellt das Bulletin fest, dass es 1.794 »Vorfälle« gab, mehr als das Doppelte der Gesamtzahl von 2022 (831 Vorfälle) und mehr als das Niveau der kollektiven Arbeiteraktionen vor der Pandemie, wobei die wichtigsten Sektoren das Baugewerbe und die verarbeitende Industrie waren. Für die USA kam das Economic Policy Institute aus Washington Anfang 2024 zu dem Schluss, dass es im vorangegangenen Jahr zu einem »Wiederaufleben der kollektiven Aktionen unter den Arbeitnehmern«⁴ gekommen war. Laut dem »Labor Action Tracker« gab es bis zum 31. Oktober 354 Streiks im Jahr 2023, an denen rund 492.000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligt waren – »fast achtmal so viele wie im gleichen Zeitraum 2021 und fast viermal so viele wie im Jahr 2022«.⁵

In Europa kam es zu Massenprotesten, zum Beispiel in Frankreich zwischen Januar und Juni 2023 gegen die Rentenreform der Regierung Borne. Unter anderem in Deutschland und Spanien ereigneten sich große Streiks im öffentlichen Verkehrswesen. Im Jahr zuvor hatten sich in Indien »mehr als 200 Millionen Arbeitnehmer am 28. und 29. März an einem zweitägigen landesweiten Streik unter dem Motto ›Rettet das Volk und rettet die Nation‹« beteiligt. In Vietnam brach 2005 eine Welle wilder Streiks aus, die 2011 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, aber immer noch andauert.⁶

Hinzu kommt – drittens –, dass die globale Erwerbsbevölkerung größer und stärker vernetzt ist als je zuvor. Die Zahl der Beschäftigten stieg weltweit stark an. Gleichzeitig finden innerhalb der einzelnen Regionen enorme Verschiebungen statt. Eine historische Migration vom Land in die anschwellenden Megastädte ist im Gange. Im Jahr 1960 lag die Gesamtzahl der internationalen Migranten weltweit bei etwa 72 Millionen; bis 2015 hatte sie sich auf 243 Millionen verdreifacht.

Auch die Binnenmigration nahm deutlich zu. Im Jahr 2000 schätzte das Nationale Statistikamt der Volksrepublik China die Zahl der ländlichen Wanderarbeiter auf 113 Millionen. Zehn Jahre später hatte sich diese Zahl auf 240 Millionen mehr als verdoppelt. Die Volkszählung von 2020 zeigt, dass die Zahl der Wanderarbeiter weiter auf 376 Millionen stieg. In Indien nahm die interne Arbeitsmigration seit den 1990er Jahren explosionsartig zu, wobei die Rate der temporären und saisonalen Migration in armen Regionen wie Nagaland und Madhya Pradesh am höchsten ist. Heute gibt es in Indien etwa 600 Millionen Binnenmigranten, die meisten von ihnen sind Arbeiterinnen und Arbeiter, die keinen Zugang zum formellen Arbeitsmarkt haben.⁷

Viertens gibt es auch explizite Anzeichen für eine Erneuerung. Die Organisierungsbemühungen für zuvor nicht organisierte Beschäftigte in Krankenhäusern und im Pflegesektor nahmen in den letzten Jahren zu. Der Aufstieg des Internationalen Netzwerks für Hausangestellte seit 2009 und seine Kampagne, die zum IAO⁸-Übereinkommen 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte führte, war für viele eine Inspiration. Die aktuellen Streiks von inhaftierten Arbeitern in den Vereinigten Staaten zeigen, dass neue Teile der Arbeiterklasse zu mobilisieren beginnen. In vielen Ländern versuchen die Gewerkschaften, sich für »informelle« und »illegale« Arbeiter zu öffnen.

Bemerkenswert ist auch, dass wir in vielen Teilen der Welt das Wiederentstehen von Organisationsformen erleben, die vor allem in den frühen klassischen Arbeiterbewegungen eine große Rolle spielten. Man denke zum Beispiel an Hilfskassen auf Gegenseitigkeit, d. h. Formen der gegenseitigen Versicherung gegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit – eine Form des Selbstschutzes, die spätestens aus dem 18. Jahrhundert stammt. Erwähnenswert sind auch die Wohnungsgenossenschaften und kleinen Konsumgenossenschaften, z. B. die Solidarischen Einkaufsgemeinschaften, die seit den 1990er Jahren in mehreren Ländern das Licht der Welt erblickten. Wir können aber auch an neue Arten von Genossenschaften denken, die auf älteren Modellen aufbauen, z. B. Energieproduktions- oder Energieverbrauchergenossenschaften.

Es geht also darum, den Versuch zu machen, »eine neue Arbeiterbewegung zu schaffen«.⁹ Von großer Bedeutung wird dabei die Wiederbelebung der Gewerkschaften sein. Minimale Voraussetzungen dafür sind wahrscheinlich folgende:

Die Zielgruppe muss neu definiert werden. Der in der ersten Phase entwickelte Begriff der Arbeiterklasse ist eurozentristisch, er muss überprüft und erweitert werden.¹⁰ Etliche der Gewerkschaften in der Peripherie und Semiperipherie gaben in ihrer Praxis die alte Abgrenzung schon vor längerem auf und rekrutieren allerlei Gruppen von »Halbproletariern«.

Es steht fest, dass die neu zu definierende Zielgruppe nicht länger von weißen, männlichen Arbeitern aus der nordatlantischen Region dominiert werden wird, sondern von Frauen und Farbigen, die oft in Formen von Selbstausbeutung, in prekären Jobs oder Schuldknechtschaft beschäftigt sind. Die Gewerkschaftsbewegung wird ihre Arbeitsweise drastisch ändern müssen, damit sie diesen »neuen« Arbeiterinnen und Arbeitern helfen kann, ihre Interessen wirksam zu berücksichtigen. Dies impliziert auch das Ende der Zentralität kollektiver Tarifverträge, denn dabei wird davon ausgegangen, dass Arbeiter über einen längeren Zeitraum für ein und denselben Unternehmer arbeiten.

Die Doppelstruktur der internationalen Gewerkschaftsbewegung (Zusammenarbeit von nationalen Verbänden und internationalen Gewerkschaftssekretariaten) ist ein problematisches Erbe aus der Vergangenheit, das über Bord geworfen werden muss. Optimal wäre wahrscheinlich eine neue Einheitsstruktur von internationalen Gewerkschaftssekretariaten, die für die »neuen« Zielgruppen offen sind.

Die recht autokratische Herangehensweise, die innerhalb der heutigen Gewerkschaftsbewegung vorherrscht, müsste einer demokratischen Herangehensweise und der Entscheidungsmacht einfacher Mitglieder Platz machen. Die Entwicklung einer solchen neuen Struktur wird durch die Möglichkeiten des Internets vereinfacht.

Während bisher in der internationalen Gewerkschaftsbewegung der Versuch der Einflussnahme auf Regierungen und transnationale Organisationen die bedeutendste Aktivität war (mit – als wichtigste – Ausnahme der Antiapartheidskampagne der 1980er Jahre) und man sich häufig an Staaten reibt, müsste in Zukunft viel entschiedener mit tatsächlicher Aktion gearbeitet werden, in der Form von Boykotts, Streiks und dergleichen.

Die Frage ist, ob die gegenwärtige Gewerkschaftsbewegung in der Lage ist, diese Herausforderungen zu bestehen. Während der ersten Übergangsphase im späten 19. Jahrhundert waren die Schwierigkeiten so überwältigend, dass die alten Organisationen kollabierten. Erst ein Vierteljahrhundert später wurde es möglich, neue internationale Organisationen zu bilden. Wir sollten nicht vergessen, dass die Gewerkschaften der »subnationalen« Phase oft noch sehr fragil waren und dass es ihnen an Erfahrung fehlte. In der gegenwärtigen Übergangsphase scheinen die Chancen größer zu sein, dass die existierenden organisatorischen Formen der Anpassung fähig sein werden. Aber es bleibt sehr wahrscheinlich, dass die Entwicklung des transnationalen Internationalismus ein schwieriger Prozess sein wird, durchsetzt mit fehlschlagenden Experimenten und Momenten tiefer Krisen. Wenn es eines gibt, das uns die Geschichte gelehrt hat, dann ist es der Umstand, dass sich Gewerkschaftsstrukturen fast niemals reibungslos entwickeln. Im allgemeinen sind neue Strukturen das Ergebnis von Konflikten und riskanten Versuchen. Druck von unten wird sehr wichtig sein.

Die Wiederbelebung und Stärkung der Gewerkschaften reicht aber nicht aus. Erforderlich ist auch der (Wieder-)Aufbau einer politischen Kraft. Ich bezweifle, dass das politische Parteien im herkömmlichen Sinne sein sollten, denn die klassischen Mitgliederparteien haben sich mehr und mehr überlebt.¹¹

Sollte es zu einer Wiederbelebung kommen, werden die neuen politischen Formen wahrscheinlich anders aussehen als die traditionelleren. Optimal wäre wohl ein völlig neuer »Bauplan«, der mindestens drei wesentliche Merkmale aufweist. Erstens scheint es sicher zu sein, dass ein Erfolg nur möglich ist, wenn die großen Herausforderungen (Weltwirtschaft, Ökologie, Gleichstellung der Geschlechter, soziale Sicherheit, Klimawandel usw.) substantiell kombiniert und transnational angegangen werden.

Zweitens sollte das Verhältnis zwischen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen völlig neu überdacht werden. István Mészáros argumentierte zu Recht, dass eine der großen Tragödien in der Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert »die interne Spaltung (war), die als Trennung des sogenannten industriellen Arms der Bewegung (der Gewerkschaften) vom politischen Arm (den politischen Parteien) beschrieben wird. Diese Trennung hat zu einer starken Einschränkung der Arbeiterbewegung geführt, indem ihre Aktionen auf sehr enge Grenzen beschränkt wurden. (…) Das Bedeutende an den laufenden Veränderungen ist nun, dass es notwendig wird, die Gewerkschaftsbewegung selbst (den ›industriellen Arm‹) direkt politisch werden zu lassen.«¹²

Und drittens muss die Zweiteilung in Anarchismus und Parteisozialismus, die die globale Arbeiterbewegung seit den 1860er Jahren beherrschte, überdacht werden. Der Anarchismus betonte tendenziell – wenn auch nicht ausschließlich – den »Sozialismus von unten«, d. h. die Ansicht, dass »der Sozialismus nur durch die Selbstemanzipation der aktivierten, in Bewegung geratenen Massen verwirklicht werden kann, die mit ihren eigenen Händen nach Freiheit greifen (…) als Akteure (nicht nur als Subjekte) auf der Bühne der Geschichte«. Die Parteisozialisten hingegen betonen gewöhnlich den »Sozialismus von oben«, d. h. die Auffassung, dass der Sozialismus den Massen von einer herrschenden Elite »übergeben« werden muss¹³ – eine Tendenz, die sich in den letzten Jahrzehnten noch verstärkte, da die politischen Parteien kaum noch in der Gesellschaft verwurzelt sind.

Wenn der Sozialismus überleben soll, wird er daher wohl Ansätze »von unten« und »von oben« kombinieren müssen, indem er Regierungspolitik, Selbstorganisation und großangelegte Mobilisierung strategisch miteinander verbindet. Ein solcher Wandel wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Eine sozialistische Gesellschaft ist wahrscheinlich nur als Ergebnis eines umfassenden Lernprozesses denkbar, eines Prozesses, in dem der gesellschaftliche Wandel von einer Selbstveränderung begleitet wird.

Nach der missglückten deutschen Revolution 1848/49 hatten Marx und Engels gefolgert, dass die Chancen einer Umwälzung vorläufig vergeben waren. »Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein.«¹⁴ Vor diesem Hintergrund sagte Marx 1850 seinen Gegnern innerhalb des Bundes der Kommunisten, der Willich-Schapper-Fraktion : »Statt der wirklichen Verhältnisse (ist) der Wille als Hauptsache in der Revolution hervorgehoben worden. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um die Verhältnisse zu ändern, um euch selbst zur Herrschaft zu befähigen, ist statt dessen gesagt worden: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.«¹⁵

Dieser Gedanke wurde rund hundert Jahre später wieder von Hans-Jürgen Krahl aufgenommen, der einige Monate vor seinem Tod betonte, »dass die Krisensituation, die materielles Elend schafft, nicht an sich selber die Revolution produziert«. Erst sei eine Änderung des kollektiven Bewusstseins erforderlich, über einen »Prozess der Bewusstseinsveränderung, der sicherlich aktionsgebunden sein muss« und der sich sehr »in die Länge ziehen« werde. »Nicht auf einen primären Machtkampf um die politische Macht im Staate kommt es an, sondern darauf, einen wirklich sehr langen Aufklärungsprozess in die Wege zu leiten.«¹⁶ Einen ähnlichen Standpunkt verteidigte in den letzten Jahren Karl Heinz Roth.

Dieser Lernprozess ist aus mindestens drei zusammenhängenden Gründen absolut unentbehrlich, wenn wir eine selbstverwaltende Gesellschaft errichten wollen.

Erstens, weil nur autonome Menschen sich autoritären Verführungen widersetzen werden. Zu Recht verwies Otto Fenichel schon vor langer Zeit darauf, dass sozialer Unfriede nicht notwendig Aufruhr erzeugt. Er bringt vielmehr »gleichzeitig zwei einander widersprechende Reaktionen hervor, nämlich eine Neigung zur Rebellion sowie die Tendenz, sich ›verlassen‹ zu fühlen und sich aus diesem Grund nach der Wiederkehr eines allmächtigen Retters zu sehnen. Die relative Stärke der aktiven Tendenz, etwas an einer Situation zu verändern, und der passiven, regressiven Sehnsucht hängt von verschiedenen Umständen ab. Einer von ihnen ist äußerst offensichtlich. Je größer die Hoffnungen auf einen Erfolg sind, desto stärker sind die aufrührerischen Neigungen. Je größer die Hoffnungslosigkeit ist, desto stärker ist die Sehnsucht nach Regression.«¹⁷

Zu wählen ist also zwischen Autonomie und Regression, wobei ich anmerken will, dass diese Regression nicht unvermeidlich in faschistischen Neigungen zum Ausdruck kommen muss, aber eben so sehr in wachsender Furcht – das Gefühl, allenthalben von Krankheiten, Terroristen und Kriminellen bedroht zu sein –, dass daraus wiederum das Verlangen nach mehr und mehr Helfern, Beratern und »Experten« erwachsen kann.

Zweitens, weil eine wirklich demokratische Umwälzung nur auf einer Massenteilnahme basieren kann – und nicht nur auf einer Unterstützung durch die Massen.

Drittens, weil das selbständige Handeln und Denken eine unverzichtbare Voraussetzung für das Durchbrechen einer Konsumhaltung ist. Einer der ersten, die dies einsahen, war – ungeachtet seiner technokratischen Attitüde – Rudolf Bahro, der die »massenhafte Überwindung der Subalternität« (die »Daseinsform und Denkform ›kleiner Leute‹«) als »die einzig mögliche Alternative zu der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse« auffasste.¹⁸ Die von einer solchen Kulturrevolution beförderte wirkliche Entfaltung menschlicher Individualität macht die Aufhebung von Ersatzbedürfnissen möglich und damit eine Neuordnung der Weltwirtschaft.

Um schließlich die Autonomie zu fördern, sind kleine und große Erfolge erforderlich, die erkennen lassen, dass der Kampf lohnt. Diese Erfolge können auch andernorts, von anderen erzielt worden sein, wie es die Geschichte vielmals gezeigt hat (z. B. erfolgreiche Streiks, die andere Streiks stimulierten). Dies jedoch erfordert wiederum eine umfassende Kenntnis und Einsicht in den Kampf anderer, also den Aufbau alternativer transkontinentaler Netzwerke und Massenmedien.

Anmerkungen

1 Zu diesem und den folgenden Abschnitten siehe ausführlicher die Einführungskapitel in: Marcel van der Linden (Hg:): The Cambridge History of Socialism, 2 Bde., Cambridge 2023

2 Eric J. Hobsbawm: Worlds of Labour. Further Studies in the History of Labour, London 1984, S. 60

3 Thomas Carothers/Brendan Hartnett: Protests in 2023 : ­Widespread Citizen Anger Continues, With Sources Multiplying, carnegieendowment.org/posts/2023/12/protests-in-2023-widespread-citizen-anger-continues-with-sources-multiplying

4 Margaret Poydock/Jennifer Sherer: »Major strike activity increased by 280 % in 2023«, files.epi.org/uploads/279299.pdf

5 www.livemint.com/industry/for-labor-unions-2023-was-the-­year-of-the-strike-and-big-victories-11701705803399.html

6 Tu Phuong Nguyen: Workers› Strikes in Vietnam from a Regulatory Perspective. In: Asian Studies Review 41 (2017), No. 2, S. 263−80 ; Mark Anner/Xiangmin Liu: Harmonious Unions and Rebellious Workers: A Study of Wildcat Strikes in Vietnam. In: Industrial and Labor Relations Review 69 (2016), No. 1, S. 3−28

7 S. I. Rajan/M. Sumeetha (Hg.): Handbook of Internal Migration in India, Neu-Delhi 2020

8 Internationale Arbeitsorganisation

9 Helga Grebing: »Abschied von der Arbeiterbewegung« – Ein international vergleichbares Phänomen in nachindustriellen Gesellschaften? In: Gewerkschaftliche Monatshefte (1987), Heft 2, S. 76−91, hier 91

10 Vgl. Marcel van der Linden: Workers of the World. Eine Globalgeschichte der Arbeit, Frankfurt am Main 2017

11 Vgl. B. Susan/E. Scarrow: The Changing Nature of Political Party Membership. In: Oxford Research Encyclopedia of Politics (2017), doi.org/10.1093/acrefore/9780190228637.013.226

12 István Mészáros: The Challenge and Burden of Historical Time. Socialism in the Twenty-First Century, New York 2008, S. 93

13 Hal Draper: The Two Souls of Socialism. In: New Politics 5 (1966), No. 1, S. 57−84

14 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 7, S. 440

15 MEW 8, S. 598

16 Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Schriften, Reden und Entwürfe aus den Jahren 1966–1970, Frankfurt am Main 1971, S. 238.

17 Otto Fenichel: Psychoanalytische Bemerkungen über Fromms Buch »Die Furcht vor der Freiheit« (1944). In : ders.: Aufsätze, hg. v. Klaus Laermann, Bd. 2, Frankfurtam Main 1981, S. 296−317, hier 300

18 Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Frankfurt am Main 1977, S. 321

Marcel van der Linden: »… erkämpft das Menschenrecht«. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen. Promedia, Wien 2024, 216 S., 25 Euro

Marcel van der Linden ist Forschungsdirektor am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (23. September 2024 um 16:43 Uhr)
    Sicher, »Die Gewerkschaften müssen sich erneuern«, aber was steht »Zum aktuellen Stand der internationalen Arbeiterbewegung« im Artikel? Das: »Die Zielgruppe muss neu definiert werden. Der in der ersten Phase entwickelte Begriff der Arbeiterklasse ist eurozentristisch, er muss überprüft und erweitert werden.« Mir drängt sich der Eindruck auf, dass da der Gewerkschaftsbegriff leicht überdehnt wird. Existiert ein Objekt oder Subjekt? Oder doch nicht? Wo existieren welche Klassen in welchem Zustand und kollektivem Bewusstsein? Wenn dann auch noch mit Bahro eine »Alternative zu der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse« gesucht wird, also das Bewusstsein das Sein bestimmen soll, ist die Karre schon festgefahren. Mich hinterlässt der Artikel ziemlich ratlos, über die »wahrscheinlich, müsste, sollte« reg’ ich mich nicht auf.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (23. September 2024 um 14:30 Uhr)
    Es ist eine von der historischen Erfahrung aus fast zwei Jahrhunderten bestätigte Erfahrung, dass sich die Massenorganisationen der Arbeitenden nicht im organisatorischen Selbstlauf entwickeln und entfalten. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie einen stabilen inneren Kern brauchen, der für die fortlaufende Erkenntnis neuer Notwendigkeiten sorgt, diese Erkenntnisse fortwährend in die Massen trägt und ihrer Bewegung organisatorische Festigkeit und Zielstrebigkeit verleiht. Man kann noch so lange versuchen, um den heißen Brei herumzureden: Eine wirklich revolutionäre Gewerkschaftsbewegung wird ohne eine wirklich revolutionäre Partei nicht zu haben sein.

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