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Aus: Ausgabe vom 21.09.2024, Seite 15 / Geschichte
Faschismus

Das letzte Aufgebot

Vor 80 Jahren beschlossen die Nazis die Aufstellung des »Volkssturms«
Von Ulrich Schneider
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Alle an die Front werfen. Verabschiedung des »Volkssturms« in Berlin (12.11.1944)

Seit dem Sieg der sowjetischen Streitkräfte im Februar 1943 in Stalingrad war deutlich, dass die faschistische Expansionspolitik an ihr Ende kommen würde. Propagandaminister Joseph Goebbels glaubte, mit der Sportpalastkundgebung am 18. Februar 1943 und der Ausrufung eines »totalen Krieges« Zweifel in der Bevölkerung ersticken zu können. Es dauerte tatsächlich noch achtzehn Monate, bis mit dem Vorrücken der Roten Armee im Osten, der Kapitulation Italiens und dem Wechsel Rumäniens auf die Seite der Antihitlerkoalition sowie der Eröffnung der zweiten Front in Frankreich die militärische Niederlage auch für die »Heimatfront« greifbar wurde. Am 20. Juli 1944 versuchten Wehrmachtsoffiziere und konservative Eliten, Adolf Hitler mit einem Attentat zu beseitigen – und scheiterten. Die Reaktion des faschistischen Verfolgungsapparates war grausam, richtete sich jedoch nicht allein gegen die Verschwörer, sondern auch gegen ehemalige Funktionäre von KPD, SPD und Gewerkschaften, die erneut verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt wurden.

Das ist der militärische und innenpolitische Hintergrund für das Konzept »Volkssturm«, die Mobilisierung der letzten Reserven für den »Endsieg«. Schon vorher gab es Pläne zur Rekrutierung weiterer Soldaten für die Wehrmacht, die jedoch an Grenzen stießen. Die Kriegsproduktion und das öffentliche Leben sollten aufrechterhalten bleiben. Mit der Verkündigung des »totalen Krieges« wurden immer mehr Frauen in den Rüstungsbetrieben eingesetzt. Auch die Anzahl von KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen, die in kriegswichtigen Unternehmen Zwangsarbeit leisten mussten, stieg rapide an. Arbeitslager wurden in dieser Zeit direkt bei den Unternehmen eingerichtet, die vom Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) der SS Arbeitskräfte anforderten und bei der SS die tägliche »Leihgebühr« entrichteten. So sollten deutsche Arbeiter für den Militäreinsatz freigestellt werden.

Kinder und Alte

Als im Spätsommer 1944 erkennbar wurde, dass solche Maßnahmen nicht ausreichten, erließ die Reichsregierung am 25. September 1944 einen Führererlass »über die Bildung des deutschen Volkssturms«. Begründet wurde der Erlass mit einer bezeichnenden Lagebeschreibung: »Nach fünfjährigem schwerstem Kampf steht infolge des Versagens aller unserer europäischen Verbündeten der Feind an einigen Fronten in der Nähe oder an den deutschen Grenzen. Er strengt seine Kräfte an, um unser Reich zu zerschlagen, das deutsche Volk und seine soziale Ordnung zu vernichten. Sein letztes Ziel ist die Ausrottung des deutschen Menschen. Wie im Herbst 1939 stehen wir nun wieder ganz allein der Front unserer Feinde gegenüber.«

Mit solch martialischer Begründung sollten die letzten Reserven der »Heimatfront« mobilisiert werden. Sechs Millionen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren sollten schaffen, was der Wehrmacht nicht gelungen war: die vorrückenden Alliierten zu stoppen.

Mit der Rekrutierung dieses »letzten Aufgebots« waren die Gauleiter der NSDAP beauftragt. Den regionalen Statthaltern des Naziregimes war das durchaus willkommen. So bekamen sie eine Art Privatarmee, die ihrem direkten Kommando unterstand. Zudem konnten durch die Mobilisierung auch »politisch unzuverlässige Elemente« erfasst werden und waren dadurch besser kontrollierbar.

Der »Volkssturm« umfasste vier Gruppen: Im Aufgebot I waren alle tauglichen und waffenfähigen Männer der Jahrgänge 1884 bis 1924. Die meisten Angehörigen dieses Aufgebots waren über 50 Jahre alt und hatten bereits im Ersten Weltkrieg gedient. Das Aufgebot II bildeten Männer von 16 bis 50 Jahren, die in einem kriegswichtigen Betrieb arbeiteten und deswegen unabkömmlich (»uk«) gestellt waren. Männer aus diesem Aufgebot wurden nur kurzzeitig und in Heimatnähe eingesetzt, um die Rüstungsproduktion nicht zu stören. Das Aufgebot III umfasste die Jahrgänge 1925 bis 1928, soweit sie nicht schon bei der Wehrmacht oder Waffen-SS Dienst taten. Der Jahrgang 1928, damals 16jährig, sollte bis zum 31. März 1945 in der Hitlerjugend (HJ) und dem Reichsarbeitsdienst (RAD) militärisch ausgebildet werden. Im Aufgebot IV fanden sich alle nur eingeschränkt wehruntauglichen Männer; sie wurden für Wach- und Sicherungsaufgaben eingesetzt. Dem Antisemitismus blieb das Naziregime selbst in der Phase seines Niedergangs treu. »Jüdische Mischlinge ersten Grades« waren von der Teilnahme am »Volkssturm« ausgeschlossen.

Die militärische Organisation, Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung wurden vom Ersatzheer geleistet, das dem Reichsführer SS Heinrich Himmler unterstand. Die Führung der Bataillone lag in den Händen der Gauleitungen, die dazu die lokalen Organisationen der NSDAP, der SA, der SS, des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps und der Hitlerjugend einbezogen. Da die Wehrmacht nicht ausreichend Uniformen zur Verfügung stellen konnte, trugen viele »Volkssturm«-Männer »Phantasieuniformen«, so etwa diejenige der Reichsbahn, umgefärbte Partei- oder HJ-Uniformen, alte Uniformen des Deutschen Heeres oder gewöhnliche zivile Anzüge. Eine Armbinde mit der Aufschrift »Deutscher Volkssturm – Wehrmacht« machte seine Angehörigen als Teil der Armee kenntlich, auch wenn sie in der Uniform der Hitlerjugend oder in Zivilkleidung kämpften.

An der Ostfront verheizt

Der militärische Nutzen des »Volkssturms« war vernachlässigbar. Die Hauptaufgaben des »Volkssturms« umfassten Bau- und Schanzarbeiten, Sicherungsdienste und die »Verteidigung der Heimat«, jedoch ohne angemessene oder ausreichende Bewaffnung. Die meisten Einsätze wurden in der unmittelbaren Heimatgegend ausgeführt, auch, um die arbeitsfähigen Männer bei Bedarf wieder in der Rüstungsproduktion einsetzen zu können.

Nur an der Ostfront wurde der »Volkssturm« zwischen Mitte Januar und Mitte April 1945 direkt in Kämpfen eingesetzt und verheizt. Etwa 15.000 »Volkssturm«-Männer mussten zusammen mit Soldaten der Wehrmacht, immer wieder angetrieben von Gauleiter Karl Hanke, monatelang das belagerte Breslau (heute Wrocław) bis in den Mai 1945 hinein verteidigen. Auch bei den Kämpfen an der Oderlinie, in Pommern und während der Schlacht um Berlin wurden »Volkssturm«-Einheiten eingesetzt.

In verschiedenen Teilen des Reiches waren »Volkssturm«-Einheiten auch an faschistischen Kriegsendeverbrechen beteiligt. In der Regel stellten sie nicht die Mörder, aber sie sicherten das Gelände, verhinderten Fluchtaktionen und trugen damit dazu bei, dass sie selbst Teil der »Verbrechensgemeinschaft« wurden.

Der DDR-Historiker Klaus Mammach hat Anfang der 1980er Jahre in seiner grundlegenden Studie über den deutschen »Volkssturm« nachgezeichnet, dass es eine seiner ideologischen Funktionen war, die deutsche »Volksgemeinschaft«, die zuvor von den Verbrechen des Naziregimes profitiert hatte, nun in die Verantwortung für die kommende militärische Niederlage zu nehmen.

»Das ist das Ende«

Josef Brettschneider schilderte, wie er als Kommandant eines »Volkssturm«-Bataillons in der Spandauer Zitadelle im April 1945 den Vormarsch der Roten Armee in Berlin erlebte:

»Am nächsten Tag, dem 28. April, hören wir Durchsagen von einem aufgefahrenen russischen Propagandawagen. ›Achtung, Achtung! Deutsche Offiziere, herhören. Der Kampf um Berlin ist beendet. Der Krieg ist aus! Die Zitadelle ist eingeschlossen. Ergeben Sie sich!‹ Neben dem Auto steht ein deutscher Luftwaffenoffizier im Ledermantel. Er greift ebenfalls zum Mikrofon. ›Ich bin der letzte Horst-Kommandant von Gatow. Der Krieg ist aus. Widerstand hat jetzt keinen Sinn mehr.‹ (…)

Am Nachmittag des 30. April erscheinen zwei russische Parlamentäre vor dem Tor der Zitadelle. Ein Major und ein Hauptmann. Der Hauptmann trägt eine weiße Fahne. Eine Strickleiter wird vor dem verbarrikadierten Tor heruntergelassen. Die beiden Parlamentäre klettern problemlos auf den Balkon über dem Tor und betreten den dahinter liegenden Saal. Beide Seiten begrüßen sich militärisch. Einige deutsche Offiziere zeigen den Hitlergruß.

Der Dolmetscher, Hauptmann Gall, übersetzt die von Major Grischin temperamentvoll vorgetragene aussichtslose Lage der Zitadellenbesatzung und fordert unmissverständlich zur Kapitulation auf. Als letzter Termin zur Übergabe der Zitadelle wird der 1. Mai um 10 Uhr genannt. Unser Kommandant zögert. Doch uns allen ist klar: Das ist das Ende!«

https://www.spiegel.de/geschichte/tagebuch-eines-volkssturm-mannes-kriegsende-in-der-zitadelle-berlin-spandau-a-949519.html

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