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Aus: Ausgabe vom 11.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kriegsfolgen

Ukrainische Wirtschaft am Boden

Steuererhöhungen und Währungsabwertung sollen Haushaltsdefizit stopfen. Größtes Problem ist Mangel an Arbeitskräften
Von Reinhard Lauterbach
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Kostspielige Ausweitung der Kampfzone: Zerstörte Gasstation im Grenzgebiet der russischen Region Kursk (Sudscha, 16.8.2024)

Zum 1. September sind in der Ukraine deutliche Steuererhöhungen auf Benzin, Diesel und andere Verbrauchsgüter in Kraft getreten. Die Maßnahmen sind verzweifelte Bemühungen der Regierung, Einnahmen für den Staatshaushalt zu generieren und dessen Defizit nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen. Dabei sind ohnehin mindestens 70 Prozent der Einnahmen des ukrainischen Staats Zuwendungen aus dem westlichen Ausland. Entsprechend verärgert hat Kiew auf die Absicht der Bundesregierung reagiert, ihre Militärhilfe zumindest teilweise aus den Erträgen beschlagnahmten russischen Staatsvermögens zu refinanzieren – auf das Geld hatte die Ukraine auch schon ein Auge geworfen.

Der desolaten Finanzlage entspricht ein »Ratschlag«, den der Internationale Währungsfonds der Ukraine zuletzt gemacht hat: Sie solle die Landeswährung Griwna deutlich abwerten, um bei der Haushaltssanierung zu helfen. Der Zusammenhang zwischen dem Wechselkurs und dem Haushalt besteht aber nur insofern, als eine Abwertung dazu führt, dass ein US-Dollar oder Euro sich dann eben nicht mehr als 40, sondern beispielsweise 50 oder 60 Griwna darstellt, also in Inlandswährung gerechnet als »mehr Geld« erscheint. Man könnte es Milchmädchenrechnung nennen, wenn dies nicht die Milchmädchen beleidigen würde.

Faktisch hat die ukrainische Volkswirtschaft ganz andere Probleme als den Ausgleich des Staatshaushalts. Eines der größten ist der physische Mangel an Menschen, die arbeiten können und dies auch tun – zumindest in der offiziellen Volkswirtschaft. Denn nachdem die Behörden begonnen haben, über die Unternehmen und Betriebe Einberufungsbescheide zu verschicken, sind viele ukrainische Männer »auf Grund gegangen« und haben sich aus dem offiziellen Beschäftigungssystem abgemeldet, zahlen also auch keine Steuern mehr. Irgendeinen Job finden sie immer, gebaut oder repariert muss ja werden.

Abgesehen vom Rückgang der legalen Beschäftigung droht der Ukraine ein absoluter Bevölkerungsrückgang. Von den 52 Millionen Bewohnern, die das Land 1991 hatte, waren bis zum Kriegsbeginn noch 42 Millionen übrig. Der Grund: die Entbehrungen der Transformationsjahre und das Versterben der kinderreichen älteren Generation. Seit dem russischen Einmarsch sind geschätzte zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer offiziell in die EU geflüchtet, ein etwas geringerer Anteil wohl auch nach Russland. In welchem Maße sie nach einem Kriegsende in ihre oft zerstörten Heimatorte zurückkehren können und wollen, ist völlig unsicher. Die reale Bevölkerungszahl der Ukraine wird von der UNO derzeit auf knapp 30 Millionen geschätzt. Aus einer Zählung der aktiven SIM-Karten durch die Fernmelderegulierung gehen noch niedrigere Zahlen hervor, wenn man den Besitz eines Mobiltelefons als Indiz für die Zugehörigkeit zur beruflich aktiven Generation betrachtet.

Insofern hat es nicht nur eine ideologische Dimension, wenn Kiew Russland vorwirft, ukrainische Kinder »entführt« zu haben. Der vorgetragene Vorwurf lautet, die Kinder würden »russifiziert« und so »der ukrainischen Nation entfremdet«. Die reale Perspektive dahinter ist, dass dem Land nach Kriegsende tatsächlich massenweise potentielle Arbeitskräfte fehlen werden. Vor einem ähnlichen Problem steht übrigens auch Russland. Dort geht die »slawische« Bevölkerung ebenso seit langem zurück, und um die Einwohnerzahl halbwegs stabil zu halten, wird das Land nicht ohne verstärkte Einwanderung aus Zentralasien auskommen – mit der Perspektive, »islamischer« zu werden – oder eben Ukrainer aufnehmen, die einem aus russischer Perspektive verwandteren Kulturkreis entstammen.

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