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Aus: Ausgabe vom 07.09.2024, Seite 8 / Ansichten

Frechheit soll siegen

Regierungsumbau in Kiew
Von Reinhard Lauterbach
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Mikrofone in Odessa, dahinter ukrainische Entscheidungsträger

Man soll in Regierungsumbildungen nicht zu viel hineingeheimnissen. Sie sind im allgemeinen PR-Aktionen, mit denen ein Regierungschef Sündenböcke dafür präsentiert, dass es ihm an den Erfolgen fehlt, die im Auge des Publikums für sich sprechen. Entsprechend war das, was Wolodimir Selenskij Anfang der Woche offiziell als Begründung für den größten Umbau der ukrainischen Regierung seit Jahren angab, völlig inhaltsleer: Es sollten »neue Strukturen« geschaffen werden, um »vor dem Winter die Ukraine zu stärken«. Vor dem Winter? Suchte Selenskij Minister oder Elektriker?

Inzwischen, nachdem die Bäumchen-wechsle-dich-Operation über die Bühne gegangen ist, kristallisiert sich aus den Kommentaren ukrainischer Politiker gegenüber den Medien ihres Landes ein ungefähres Bild heraus, worum es Selenskij gegangen sein muss. Der erste Aspekt ist ein schleichender Umbau des ukrainischen Regierungssystems zugunsten der Präsidialverwaltung. Die agiert unabhängig von der parlamentarischen Mehrheit, zumal jetzt im Krieg, wo Neuwahlen gesetzlich ausgeschlossen sind und der Präsident ohne demokratisches Mandat weiterregiert bis auf weiteres. Für die Präsidialverwaltung gilt das erst recht. Gesetzliche Grenzen für diesen Ausnahmezustand gibt es nicht, seine Verlängerung wird alle drei Monate vom Parlament abgenickt. Diese schleichende Autokratisierung der Ukraine kann so lange weitergehen, wie der Krieg dauert, und wer weiß, ob sich Selenskij mit dieser Grundlage seiner Macht nicht inzwischen angefreundet hat. Verlässlich kann man sagen, dass er, wenn nächsten Sonntag gewählt würde, gegen den früheren Armeekommandeur Walerij Saluschnij oder seinen Vorgänger Petro Poroschenko spätestens in der Stichwahl verlieren würde. Deshalb wurde Saluschnij als Botschafter nach London abgeschoben, wird Poroschenko an der Ausreise ins Ausland gehindert.

Über den jetzt entlassenen Außenminister Dmitro Kuleba hatte sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in einem selbst für ihre Verhältnisse emotional überdrehten Ton geäußert: Sie erinnere sich an »lange Gespräche im Nachtzug und vor zerstörten Kraftwerken«. Ohne in der Gefühlswelt der Bundesaußenministerin über Gebühr herumstochern zu wollen – aus Statements ukrainischer Politiker geht hervor, dass Kuleba sich für die Ansprüche seiner Chefs zu gut benommen haben muss. Er habe den westlichen Sponsoren nicht genug weitreichende Waffen und Abschussgenehmigungen aus den Rippen geleiert. Sein Nachfolger Andrij Sibiga kommt aus der Präsidialverwaltung und hat sich einen Namen mit Pöbeleien gegen Verbündete im Stil des leider unvergessenen Andryj Melnyk gemacht: In Ungarn herrschten »Möchtegernpolitiker«, und Polen wolle der Ukraine eine »Euthanasie« aufzwingen, weil es ihr Getreide nicht ins Land ließ. Freuen wir uns auf den Neubeginn einer wunderbaren Freundschaft.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (10. September 2024 um 10:36 Uhr)
    »Wer weiß, ob sich Selenskij mit dieser Grundlage seiner Macht nicht inzwischen angefreundet hat«, fragt sich der Kommentator bezüglich der Kiewer Präsidialverwaltung. Aber ja! Die Legitimität seiner Macht nach Ablauf seiner regulären Amtszeit und autokratischer Eigenverlängerung im Mai wurde von Putin schon zugunsten des Präsidenten der Werchowna Rada Arachamija in Zweifel gezogen. (Dieses Rumpfparlament ohne Vertreter der russischsprachigen Bevölkerung von der verbotenen »Oppositionsplattform für das Leben« aus dem Süden und Südosten des Landes nickt aber diese Verlängerung der Amtszeit alle drei Monate ab.) Umso mehr ist er auf diesen Club der Macht um Jermak und Podoljak angewiesen. Da fällt einem doch gleich der Spruch des brandenburgisch-preußischen Adels aus dem 17. und 18. Jahrhundert ein, als es darum ging, wer denn in der Hohenzollern-Monarchie nun herrsche – ja, »der König absolut, wenn er unsern Willen tut!« Und Schauspieler sind daran gewöhnt, dass ihnen Regisseure sagen, wo es lang geht. Artikel 5 der ukrainischen Verfassung besagt übrigens im letzten Satz »Niemand darf die Staatsmacht usurpieren.« Niemand!
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. September 2024 um 18:19 Uhr)
    Um die Ereignisse in einem Land angemessen beurteilen zu können, muss man sie im historischen Kontext betrachten – dies gilt besonders für die Ukraine, die weder auf eine lange, gefestigte Geschichte noch auf eine einheitliche kulturelle Tradition zurückblicken kann. Der Westen hat auf dem Maidan, wie auch in anderen Ländern, in denen Demokratieexperten weltweit gescheitert sind, schwerwiegende Fehler gemacht. Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 steht die Ukraine vor der zentralen Frage: Russland- oder Westorientierung? Ein eigenständiges, auf ihre geopolitische Lage abgestimmtes nationales Interesse wurde nie entwickelt und ist auch heute nicht vorhanden. Die gesellschaftliche Einheit, die für diese Entwicklung notwendig wäre, hat sich nie herausgebildet, und der aufkommende »Neonationalismus« vermag diese Lücke nicht zu schließen. Darüber hinaus ist die Ukraine so stark von wirtschaftlicher Not betroffen, dass sie ohne umfassende externe Hilfe nicht nur den Krieg nicht fortführen könnte, sondern als Staat kaum überlebensfähig wäre.

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