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Aus: Ausgabe vom 19.08.2024, Seite 12 / Thema
Internationalismus

Befreiung als Leitmotiv

Die DDR und der Trikont: Als Antifaschismus und Völkerfreundschaft Staatsdoktrin waren
Von Gerd Schumann
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Solidarität konkret: Traktoren aus Schönebeck für Mosambik (Maputo, 19.1.1980)

Die Unabhängigkeit Namibias von Südafrika war der letzte große Erfolg, an dem die DDR im Trikont direkt beteiligt war – übrigens umgesetzt unter Beteiligung von DDR-Bürgern in Uniform an einer UN-Mission: Die 30 Volkspolizisten waren allerdings keine kriegsbereiten Blauhelme, sondern trugen blaue Barette auf ihren Köpfen. Am 21. März 1990 konnte Namibia seine Unabhängigkeit auf Grundlage der UN-Sicherheitsratsresolution 435 feiern, ganze drei Tage nach jenen Volkskammerwahlen in der DDR, die heute als die »ersten freien« bezeichnet werden. Hastig formierte Ostableger von CDU, SPD und FDP erhielten die absolute Mehrheit der Stimmen. Das bevorstehende Ende des sozialistischen Staates nahm – direkt und indirekt – starken, wenn nicht entscheidenden Einfluss auch auf den weiteren Unabhängigkeitsprozess im südlichen Afrika.

Die Möglichkeiten, einen antikapitalistischen Entwicklungsweg einzuschlagen, verringerten sich rapide. Ein solcher war zwar bereits vor 1990 immer unrealistischer geworden; in Angola und Mosambik blockierten die zerstörerischen Attacken vom Westen ausgehaltener bewaffneter Banden eine solche Perspektive. Nun standen die Chancen auch für die Befreiungskräfte Südafrikas und Namibias schlecht, sich wirklich vom ehemaligen Kolonialsystem zu befreien.

Bei den Errungenschaften, die nach dem Ende DDR samt und sonders negiert und, wenn nicht verteufelt, so doch links liegengelassen wurden, handelte es sich nicht nur um die sozialen Leistungen des sozialistischen Staates in den Bereichen Bildung, Wohnen, Gesundheit, Kunst und Kultur. Es ging auch um – man sollte es angesichts der bis heute gepflegten These vom »Unrechtsstaat« nicht vermuten – moralische Grundsätze, gezogen als Lehren aus der kolonialen und faschistischen Geschichte Deutschlands.

Selbst die auf Grundlage der propagierten Ideale praktizierte Ausrichtung der DDR-Politik an Antifaschismus, Völkerfreundschaft, Solidarität und Internationalismus wurde nach 1990 geleugnet, oder, wenn das nicht funktionierte, umgedeutet und mit einem negativen Image versehen. Dem Sozialismus wurde gar eine Art »systemischer Rassismus« untergeschoben. Wer Zweifel daran anmeldete, geriet und gerät als »Nostalgiker« ins Abseits.

Erst jüngst äußerten Almuth Berger und Hans Joachim Döring, zwei ehemalige Bürgerrechtler aus dem christlichen Spektrum, in der Berliner Zeitung (3. April 2024), dass »Rassismus in den verschiedenster Facetten vorhanden« gewesen sei, führten Einzelbeispiele an und forderten sehr grundsätzlich, »die Solidarität der DDR (…) gründlich von DDR-Nostalgie« zu befreien – ganz so, als fürchteten sie, der sorgsam gepflegte negative Blick auf die Vergangenheit könnte sich relativieren. Dem ist mitnichten so. Bis heute dominiert eine ideologieverblendete Sicht auf die DDR, die mit einer Verklärung der »Demokratie« im Westen einhergeht, die neuerdings geradezu dogmatische Züge aufweist.

An der Seite der Unabhängigkeit

Dabei hatte die DDR seit ihrer Gründung – zunächst im Rahmen ihrer noch eingeschränkten politischen und ökonomischen Möglichkeiten – die strikte Unterstützung Gleichgesinnter weltweit propagiert. Von Anfang an unterstützte der Arbeiter- und Bauernstaat das Recht der afro-asiatischen und lateinamerikanischen Völker auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Er tat dies in Übereinstimmung sowohl mit politisch-ideologischen als auch völkerrechtlichen Prinzipien. Das implizierte in den Hochzeiten des antikolonialen Aufbruchs ab den 1950er Jahren und der Formierung unabhängiger Nationalstaaten eine Positionierung an der Seite der nach Freiheit strebenden Völker des Südens und richtete sich damit zwangsläufig gegen die ehemaligen Kolonialmächte und deren Verbündeten, also auch die Bundesrepublik. Deren besonders intensive Beziehungen zu den Apartheidrassisten im Süden und Südwesten Afrikas seien beispielhaft genannt für den Beistand, den Bonn zuverlässig im Kampf gegen die Emanzipation der Völker leistete.

Dass diese machtpolitische Grundtendenz erst im Zuge des US-Kriegs gegen ­Vietnam und des globalen Aufschwungs der Befreiungsbewegungen breiteren Teilen der Bevölkerung Westeuropas deutlich wurde und zu gesellschaftlichen Verwerfungen großen Ausmaßes führte, mag verwundern, entsprach jedoch dem anhaltenden unpolitischen, antikommunistisch grundierten gesellschaftlichen Klima.

Die DDR ging den entgegengesetzten Weg. Entsprechend sonderbar mutet dann auch die Legende von einer, nach innen und nach außen, »zwangsverordneten« Völkerfreundschaft an. Sie kaschiert, dass die internationale Solidarität zu den Leitmotiven der DDR seit der Staatsgründung gehörte, die von breiten Teilen der Bevölkerung auch angenommen wurde.

Dabei musste dieser Anspruch in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach 1949 zunächst gegen die von der BRD verfolgte Politik der Isolierung durchgesetzt werden. Das wirtschaftlich potente und von Reparationszahlungen weitgehend unbelastete, politisch fest ins kapitalistische Lager eingebundene Westdeutschland dekretierte 1955 die »Hallstein-Doktrin«. Demnach wurde die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zur DDR durch Drittstaaten als unfreundlicher Akt betrachtet und bei Zuwiderhandeln mit Sanktionen gedroht. Der gesamte Westblock mit seinen Kolonialländern folgte dieser Orientierung.

Ab 1960, dem »afrikanischen Jahr«, in dem 17 Staaten des Kontinents unabhängig wurden und die UNO ihre historische Resolution 1514 zur Entkolonisierung der Welt – bei taktisch bedingter, doch trotzdem demonstrativ wirkender Enthaltung der wichtigsten Kolonialstaaten – fasste, stiegen die Chancen der DDR, ihre diplomatische Isolierung zu durchbrechen. Entsprechende Beschlüsse wurden im Politbüro der SED gefasst, eine rege Reisetätigkeit auf hoher Ebene begann, ein Katalog zur Entwicklung der Beziehungen wurde beschlossen. Schon im März 1960 hieß es offiziell, dass der Botschafter der Republik Guinea beim Ministerpräsidenten Wilhelm Pieck akkreditiert worden sei.

BRD blockiert

Diese erste offizielle diplomatische Kontaktaufnahme der DDR außerhalb der sozialistischen Länder führte in der BRD zu hektischen Reaktionen. Guinea wurde ultimativ zu einer Stellungnahme aufgefordert. Man drohte. Guineas erster Präsident nach der 1958 vollzogenen Unabhängigkeit, Ahmed Sékou Touré, sah sich daraufhin gezwungen, von einem »Missverständnis« zu sprechen und seinen Vorstoß zurückzunehmen.

Durchaus Vergleichbares geschah im Kontext der Unabhängigkeit Belgisch-Kongos. Vorgesehen war, die DDR zu den Feiern am 30. Juni 1960 nach Léopoldville einzuladen. Bonn intervenierte, gab offensichtlich finanzielle Zusagen und verhinderte die vorgesehene diplomatische Anerkennung. Fest eingebunden in die westliche Kolonialpolitik stützte die Bundesrepublik auch die von Belgien und den USA initiierten und durchgeführten Sabotagemaßnahmen gegen die Regierung von Patrice Lumumba, des ersten freigewählten Präsidenten von Kongo-Kinshasa. Lumumba wurde schließlich am 17. Januar 1961 unter belgischer Aufsicht und mit US-amerikanischer Billigung und Unterstützung ermordet.

Was allerdings die perspektivische Unabhängigkeit großer Teile Afrikas betraf, war der Zug der Zeit nicht zu stoppen. Obwohl es dem Imperialismus, vor allem Frankreich, durchaus gelang, seine Herrschaft in vielen Staaten nunmehr mittels neokolonialer Praktiken zu sichern und wichtige Machtbasen zu halten – in Afrika vor allem Südafrika und Namibia – zerbröselte das Kolonialsystem zusehends.

Die DDR unterstützte das nach Kräften. Bereits 1960 hatte Walter Ulbricht als neues Staatsoberhaupt seine Antrittsrede vor dem diplomatischen Korps unter das Motto »Afrika den Afrikanern« gestellt. 1965 reiste er in das unabhängige Ägypten. 1968 wurde die internationale Solidarität als Prinzip in der breit diskutierten und von 94,5 Prozent der Bevölkerung gebilligten Verfassung verankert. Demnach unterstützte die DDR »die Bestrebungen der Völker nach Freiheit und Unabhängigkeit und pflegt auf der Grundlage der Gleichberechtigung und gegenseitigen Achtung die Zusammenarbeit mit allen Staaten«. Trotzdem konnte die »Hallstein-Doktrin« bis dahin allenfalls durchlöchert werden. Der Durchbruch kam erst 1969. Drei Jahre später hatten 20 Staaten des Südens, darunter mehr als die Hälfte in Afrika gelegen, die DDR anerkannt.

Als Miriam Makeba auf dem »Festival des politischen Liedes« im Februar 1974, im 25. Jahr der DDR, ihren bewegenden Song »Africa« sang, sorgte sie für ungläubiges Staunen beim Publikum in der Werner-Seelenbinder-Halle. Mehrfach begleitet von Szenenapplaus prophezeite die südafrikanische Künstlerin die Befreiung des südlichen Afrika, von Namibia bis Simbabwe, von Mosambik, Angola, Botswana bis Südafrika, Mosambik und Angola. Zwei Monate später beendete die Nelkenrevolution die Diktatur und die Herrschaft Portugals an der Ost- und Westküste geriet ins Wanken.

In der Folge des »portugiesischen April« (Franz Josef Degenhardt) zerbrachen auch die Ketten, die Angola, Mosambik und Guinea-Bissau seit Jahrhunderten gefesselt hatten. Die DDR wurde – im Gegensatz zur BRD, die ihre neokoloniale Politik in ganz Afrika, nunmehr auch durch Unterstützung für »Bandidos armados« (Bewaffnete Banditen), weiterverfolgte – zu einer Hauptstütze der Unabhängigkeitsbestrebungen.

Schwerpunkt der Diplomatie

Ostberlin verfügte bereits seit längerem über enge Beziehungen zu diversen Befreiungsbewegungen Afrikas, auch zum Movimento Popular de Libertação de Angola (MPLA, Volksbewegung zur Befreiung Angolas), zur Frente de ­Libertação de Mosambik (Frelimo, Befreiungsfront von ­Mosambik) und, weniger ausgeprägt, zum Partido Africano para a Independência da Guiné e Cabo Verde (PAIGC, Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und den Kapverden). Nach dem Ende der Kolonialherrschaft, dem eine eilige, weitgehend organisierte Flucht Zehntausender weißer Geschäftsleute, Siedler und Spezialisten folgte, wurden auf hohem Niveau staatliche Beziehungen aufgenommen, die die Voraussetzung für einen tatsächlich antikolonialen, und also: antikapitalistischen, Kurs bildeten.

Die DDR-Außenpolitik, so der langjährige DDR-Diplomat und Diplomhistoriker Hans-Georg Schleicher, habe um diese Zeit herum in Angola, Mosambik, Äthiopien sowie in den kämpfenden Befreiungsbewegungen Simbabwes, Namibias und Südafrikas »ihre neuen Schwerpunkte« gefunden. Ein Netz von Verträgen und Abkommen wurde geknüpft, seit 1977 gaben sich »SED-Politbüromitglieder auf dem schwarzen Kontinent die Klinke in die Hand«.¹ Erich Honecker reiste nach Libyen, Angola, Sambia, Mosambik und Ägypten. Freundschaftsverträge wurden geschlossen – die ersten derartigen Abkommen außerhalb des europäischen Sozialismus. Bis Ende der 1980er Jahre unterhielt die DDR in rund 50 Ländern des globalen Südens diplomatische Vertretungen, in weiteren 30 waren ihre Botschafter zweitakkreditiert. Mit etwa hundert Ländern existierten entwicklungspolitische Beziehungen.

Von Honecker und Samora Machel 1979 in Maputo in »beiderseitigem Interesse« unterzeichnet, sollte der Vertrag mit Mosambik beispielsweise einerseits den chronischen Arbeitskräftemangel in der DDR, andererseits den wachsenden politischen und ökonomischen Druck, dem sich die Volksrepublik im Jahr vier nach ihrer Unabhängigkeit ausgesetzt sah, verringern. Die DDR lieferte Technologien und entsandte Fachleute zur Unterstützung des Aufbaus. 1.000 FDJ-Freundschaftsbrigadisten, »Cooperandos« genannt, vermittelten Know-how in der Landwirtschaft, im Bergbau, im Gesundheits- und Bildungswesen. Zugleich arbeiteten und lernten 20.141 Mosambikaner zwischen 1979 und 1989/90 in 242 Betrieben der DDR. Sie bildeten damit die größte ausländische Gruppe nach den Vietnamesen.

Seit Anfang der 1980er Jahre verkomplizierte sich die Lage Mosambiks. Die vom Westen unterstützen Banden der Resistência Nacional Moçambicana (kurz: Renamo) sorgten für eine weitgehende Unregierbarkeit des Landes, indem sie gezielt Schrecken verbreiteten, Infrastruktur zerstörten, Sozialeinrichtungen brandschatzten, wahllos Menschen ermordeten und massenhaft Kinder und Frauen verschleppten und sexuell misshandelten. Die mehr als 22.000 Bewaffneten der Contras, gegründet 1976 von ehemaligen Kollaborateuren der portugiesischen Herrscher, unterstützt und trainiert von den Rassistenstaaten Südafrika und Rhodesien, verfolgten skrupellos ihr Ziel, den »Kommunismus zu stoppen«.

Im Dezember 1984 wurden acht »Cooperandos«, Landwirtschaftsexperten aus einer LPG bei Jena, nahe Unango in der Provinz Niassa bei einem Angriff erschossen – ein harter Rückschlag für den Internationalismus und eine Zäsur für den Versuch, einen strikt antikolonialistischen Staat am Indischen Ozean aufzubauen. Die DDR zog daraufhin etwa tausend Berater und Helfer ab.

Interne und externe Probleme

Die Kampfbedingungen für marxistische Kräfte hatten sich in den 1980er Jahren weltweit verschlechtert. Trotz der anhaltenden Unterstützung mehrten sich Hinweise auf schwindende ökonomische Potenzen des europäischen Sozialismus, und jene jungen Nationalstaaten, die einen marxistischen Entwicklungsweg eingeschlagen hatten, kämpften mit Schwierigkeiten, hausgemachten ebenso wie solche, die von äußeren Kräften ins Land getragen wurden.

So konnte der sozioökonomisch gering ent­wickelte Vielvölkerstaat Äthiopien nach dem Sturz der Monarchie von Kaiser Haile Selassi 1974 zwar in den Jahren danach soziale Erfolge aufweisen, doch gelang es dem Provisional Military Administrative Council (PMAC, Provisorischer Militärverwaltungsrat) um den ehemaligen Offizier Mengistu Haile Mariam nicht, zivile, multiethnische Strukturen zu entwickeln, um »eine wirkliche Volksmacht zu errichten«. Der PMAC sei »eine Militärregierung geblieben«, so der Arabist und Militärwissenschaftler Bernhard Schöne.² Durch Militarisierung seien aber die Probleme des Landes nicht lösbar gewesen. Die Führung isolierte sich zunehmend. 1991 wurde Mengistu gestürzt.

Das ebenfalls marxistisch orientierte Angola stand von 1975 an unter militärischem Druck und bat Kuba um Unterstützung gegen prowestliche Kontraarmeen: die von Kongo-Kinshasa unter Sese Seku Mobutu ausgestattete Frente Nacional de Libertação de Angola (FNLA; Nationale Front zur Befreiung Angolas) sowie, nach deren Niederlage, die von den USA und Südafrika unterstützte União Nacional para a Independência Total de Angola (UNITA; Nationale Union für die völlige Unabhängigkeit Angolas ). Erst im Februar/März 1988 öffneten kubanische Internationalisten gemeinsam mit der angolanischen Armee und unterstützt von Befreiungskämpfern Südafrikas und Namibias mit dem Sieg über Südafrikas Invasionstruppen in der Schlacht von ­Cuito Cuanavale/Südostangola den Weg zu Friedensverhandlungen und letztlich zur Unabhängigkeit des ehemaligen »Deutsch-Südwestafrika«.

Während dieser gesamten Epoche der Entkolonisierung befand sich die BRD an der Seite der überkommenen Herrschaft. Was Mosambik betraf, war Renamo-Führer Afonso Dhlakama schon 1980 nicht nur in Bonn, sondern auch in anderen westlichen Hauptstädten empfangen worden, während seine Kämpfer in Südafrika trainierten. Pretoria nahm die Frelimo-Regierung zudem in den ökonomischen Würgegriff und reduzierte die Zahl der in südafrikanischen Minen beschäftigten Wanderarbeiter aus Mosambik von 118.000 (1975) auf 45.000 (1983) – ein schwerer ökonomischer Rückschlag für die betroffenen Familien. Am 19. Oktober 1986 dann kam Präsident Samora Machel bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Vermutlich war die Maschine von einem vom Civil Cooperation Bureau, einer südafrikanische Killerorganisation, manipulierten Funkfeuer fehlgeleitet worden.

Dreiste Lügen

Was die antikoloniale Grundeinstellung der sozialistischen Gesellschaft betraf, bildeten Wort und Tat, Kultur und Politik seit DDR-Gründung bis zum Schluss einen Gleichklang, wenn es auch manche Fehleinschätzung gab und die Unterstützung materiell eingeschränkt blieb. Nach 1990 wurde es seitens des obsiegenden Kapitalismus umgehend zur Mode, an der Legende vom »Unrechtsstaat« und der »zweiten deutschen Diktatur« zu stricken. Angesichts der schnell einsetzenden Desillusionierung über das Leben im realen Kapitalismus und des rasanten Kolonisierungsvorgangs im Osten musste jegliche Abweichung von der Totalitarismusthese vermieden werden. Dem Risiko, dass der Osten auf falsche, womöglich nostalgisch geprägte Gedanken kommen könnte, wurde gekontert mit einem propagandistischen Patentrezept, das aufging.

Tatsächlich »war es offenkundig ein Leichtes, selbst die dreistesten Lügen fest in der Nachwendeerzählung zu etablieren«, wie die Journalistin Maritta Adam-Tkalec in der Berliner Zeitung (2. April 2024) bezüglich der Situation mosambikanischer Arbeiterinnen und Arbeiter in der DDR feststellte. Mittels diskreditierender, mehr oder weniger wirklicher »Enthüllungen« wurden meist Einzelfälle auf das Ganze hochgerechnet und durchweg losgelöst von Umfeld, historischen Verläufen und Hintergründen präsentiert. So auch die besonders häufig vorgebrachte Variante in Sachen Internationalismus, Völkerfreundschaft und Antifaschismus als »zwangsverordnet«.

Sie ist bei nüchterner Betrachtung der DDR nicht nur deswegen unhaltbar, weil die DDR beispielsweise bei den meisten der ausländischen Arbeitskräfte, Lernenden und Studierenden in guter Erinnerung blieb. So äußerte sich die Mehrheit der Mosambikaner positiv und zufrieden über ihre Zeit in Deutschland. Man habe sich in der DDR ohne Furcht bewegen können, und das Verhalten der Deutschen, mit denen sie im Betrieb zu tun hatten, sei »eher kollegial« gewesen. Laut einer Umfrage des – nicht unbedingt neutralen – Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von November/Dezember 1990 war lediglich jeder achte Befragte »eher unzufrieden« mit seinem Leben als Vertragsarbeiter.

Natürlich gab es Probleme, die bei einem Projekt dieser Größe und kulturellen Brisanz voraussehbar auftreten. Abertausende Menschen aus einem anderen Kulturkreis auf solidarischer Basis zu integrieren in die Arbeits- und Lebenswelt eines fremden Landes war mehr als eine Herausforderung, zumal die DDR selbst mit vielen Mängeln kämpfte.

Obwohl das Land unter den Top ten der industrialisierten Staaten der Welt rangierte, kam es häufig zu Versorgungsengpässen. Vor allem gab es trotz eines ambitionierten Bauprogramms lange einen hohen Fehlbestand an Wohnraum. Wenn dann neuerrichtete Plattenbauten Heime für Vertragsarbeiter beherbergten, blieben Ressentiments in der Bevölkerung nicht aus. Jenseits von Idealismus und Moral wurden – oft auch vorhandene, überkommene – Vorurteile, Neid und Egoismus geweckt oder wiedererweckt, auch weil zu wenig vorhandene Waren unter noch mehr Menschen als vorher verteilt werden mussten.

Die Schwierigkeiten gefährdeten indes zu keinem Zeitpunkt das Gesamtprojekt. Rassistisch motivierte Übergriffe blieben die Ausnahme. »Der Sozialismus hatte ein Rassismusproblem, aber die Politik hat den Rassismus unterdrückt«, zitiert Maritta Adam-Tkalec einen Mosambikaner, der vor 1990 in Hoyerswerda gearbeitet hat, und konstatiert: »Alkohol, Frauen, Provokationen, Neid – all das habe immer wieder zu Gewalt geführt. Stasiberichte besagen: Die Provokationen gingen fast ausnahmslos von Deutschen aus – ein rassistisch grundiertes Platzhirschgebaren beim Auftauchen von Konkurrenz.«

Tatsächlich könnte der 75. Jahrestag der DDR-Staatsgründung Anlass sein, auch über ein über 40 Jahre hindurch erfolgreich praktiziertes alternatives Wertesystem zu reflektieren. Dass statt dessen der übliche, undifferenzierte, in diesem Fall von Verzerrungen begleitete Umgang mit der DDR-Geschichte stattfindet, zeugt davon, dass die historische Neuorientierung der Außenpolitik, wie sie im Osten Deutschlands nach 1945 durchgesetzt wurde, nicht kompatibel ist mit den Herrschaftsverhältnissen im Westen. Die Ignoranz jedenfalls hat fatale Konsequenzen, die den gegenwärtigen Stand der internationalen Beziehungen Deutschlands ebenso betreffen wie den inneren Zustand des Landes.

Anmerkungen

1 Ulrich van der Heyden, Ilona und Hans-Georg Schleicher (Hg.): Die DDR und Afrika. Münster 1993, S. 17

2 Zit. n. ebd., S. 42

Gerd Schumann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. März 2024 über Patrice Lumumba.

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