Libanon im Visier
Von Karin LeukefeldDie Außenminister der G7-Länder Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Großbritannien und USA sowie der Außenbeauftragte der EU haben sich nach einer Videokonferenz am vergangenen Wochenende erneut »besorgt« über die Lage im Nahen Osten gezeigt. Alle Akteure sollten sich zurückhalten, ließen sie mitteilen. Die Gefahr sei groß, dass ein »größerer Konflikt« in der Region entfacht werden könne. Der Deutschlandfunk berichtete in seinen Nachrichten am Montag, die G7-Außenminister hätten gewarnt, dass die »jüngsten Ereignisse (…) zu einer weiteren regionalen Ausbreitung der Krise führen (könnten), beginnend mit dem Libanon«. Im Libanon hört sich eine solche Formulierung wie eine offene Drohung an. In der knappen G7-Erklärung, die vom US-Außenministerium und vom Auswärtigen Amt (Berlin) verbreitet wurde, ist die besondere Erwähnung des Zedernstaats übrigens ausgelassen.
Der Libanon – einst wie Palästina Teil Syriens – steht spätestens seit dem Ersten Weltkrieg im Visier westlicher Staaten mit ihren geopolitischen Interessen. Durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 wurden Libanon und Palästina von Syrien abgetrennt, eine Grenze wurde zwischen Libanon und Syrien gezogen und Palästina in einen neuen Staat Transjordanien und in ein britisches Mandatsgebiet aufgeteilt. Auf der Pariser Friedenskonferenz 1919/20, wo die von Großbritannien und Frankreich vorbereitete Zerschlagung einer historisch und zivilisatorisch gewachsenen Region mit einem Mandat für beide Staaten vom Völkerbund abgesegnet wurde, kommentierte der britische Offizier und spätere Feldmarschall Archibald Wavell den Beschluss als »Frieden, der jeden Frieden beendet«.
Durch das Sykes-Picot-Abkommen und die Aufteilung der ehemaligen arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches wurden sämtliche Verbindungen der großen Handelsplätze Bagdad, Aleppo, Homs, Damaskus zu den Häfen der Levante wie Tripoli, Beirut, Sidon, Akka oder Jaffa abgeschnitten. Miteinander verbundene Gesellschaften, verschiedene Bevölkerungs- und Religionsgruppen wurden durch neue Grenzen getrennt, Agrarflächen zerschnitten, Familien und Freunde auseinandergerissen.
Die Mandatsmacht Frankreich (1920–1946) hinterließ dem Libanon ein konfessionelles politisches System, das die höchsten politischen Ämter den drei größten Religionsgruppen – christlichen Maroniten, muslimischen Sunniten und Schiiten – zuordnete. Das ist noch heute so, fördert Vetternwirtschaft und Korruption und verhindert eine moderne und zivile Gesetzgebung. Regionale und internationale Akteure versuchen, einzelne Gruppen von sich abhängig zu machen und gegen andere zu beeinflussen.
Innerhalb der Gesellschaft und auch regional hat sich diese Einteilung überlebt, doch die fortwährende Einmischung verhindert eine freie politische Entwicklung. Saudi-Arabien hat sich aus Libanon weitgehend zurückgezogen, Frankreich verhält sich gegenüber dem Land wie einst zu Zeiten der französischen Mandatsmacht. Der Iran entwickelte zu den Schiiten, die in der mehrheitlich sunnitisch-muslimischen Region lange unterprivilegiert waren, enge Beziehungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg »kümmerten« sich die USA um die Region. Sie hätten sich Libanon gut als »Militärbasis« für die Umsetzung der eigenen Interessen in der Region vorstellen können, die damals wie heute in der Absicherung des engsten Verbündeten dort bestehen – Israel.Umgeben von Feinden
Wiederholte militärische, politische und Under-cover-Interventionen der USA, Großbritanniens und Frankreichs in der Region (Syrien 1947/49, Iran 1953, Libanon 1958 und andere mehr) sollten die Entwicklung Israels absichern. Das zionistische Staatsprojekt wurde zum Wächter imperialistischer Interessen in der geopolitisch wichtigen Region zwischen dem Suezkanal und dem Persischen Golf. Israel wurde finanziell unterstützt, aufgerüstet und verfügt heute – mit Wissen und Zustimmung von USA und NATO-Partnern – über Atomwaffen. Israel hat nicht nur die Palästinenser, sondern sämtliche arabischen Nachbarländer zu Feinden erklärt. Auch wenn es später mit Ägypten und Jordanien offiziell Frieden schloss, bleibt dieser brüchig.
Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung blieben ohne Folgen. Das Angebot Saudi-Arabiens aus dem Jahr 2002 – Israel müsse besetztes arabisches Land wie die syrischen Golanhöhen, die libanesischen Scheeba-Farmen, Ostjerusalem, das Westjordanland und Gaza räumen und erhalte im Gegenzug Frieden – wurde von Israel ignoriert. Kriege, Besatzung, illegale Landnahme und fortwährende Zerstörung palästinensischer und arabischer Lebensgrundlagen führten zur Entstehung von Widerstandsgruppen in der Region, die »im Feuer gehärtet« wurden. Ihr Ziel ist die Befreiung ihres Landes.
Hintergrund: Terrorvorwürfe
Die Ermordung von Ismail Hanija in Teheran sei ein »Terrorakt« und setze das jahrzehntelange israelische Vorgehen von Terrorismus und Sabotage gegen Palästinenser und andere fort, die in der Region und darüber hinaus die Sache der Palästinenser unterstützten. Das erklärte der iranische UN-Botschafter Amir Saeid Iravani vergangenen Mittwoch im UN-Sicherheitsrat. Mit dem Attentat am ersten Tag der neuen iranischen Regierung versuche Israel zudem deren angekündigte Politik von Frieden und Stabilität in der Region zu zerstören.
Die »weltweite Nummer eins der Terrorunterstützer« sei der Iran, entgegnete auf der gleichen Sitzung der stellvertretende UN-Botschafter Israels, Brett Jonathan Miller. Der Iran setze seine Stellvertreter (original englisch: Proxies) – Hamas, Hisbollah und Ansarollah – ein, um Israel »von allen Seiten anzugreifen«. Wer wirklich Stabilität in der Region wolle, solle »die Beseitigung solcher Erzterroristen« begrüßen und nicht beide Seiten zur Zurückhaltung aufrufen.
Nach Angaben des »Armed Conflict Location and Event Data«-Projekts (ACLED), einer Einrichtung, die Angriffe zwischen Staaten dokumentiert, hat Israel zwischen 7. Oktober und 1. August mehr als 17.000 Angriffe durchgeführt. In der Analyse sind 17.081 Angriffe Israels mit Drohnen, Kampfjets, Raketen, Bomben, ferngezündeten Bomben und die Zerstörung von Eigentum in fünf Ländern dokumentiert.
Demnach richteten sich 10.389 Angriffe (60 Prozent) gegen die besetzten palästinensischen Gebiete (Ostjerusalem, Westjordanland, Gaza). 6.544 Angriffe (38 Prozent) trafen den Libanon. 144 richteten sich gegen Syrien und jeweils zwei gegen Jemen und gegen Iran. Die Zahl der Toten wird für die besetzten palästinensischen Gebiete mit 40.039 angegeben. Im Libanon wurden demnach 590 Personen getötet, in Syrien 260, im Jemen sechs, und im Iran gab es einen Toten. (kl)
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 12.10.2018
Weltunordnungskrieg
- 15.05.2018
Die Katastrophe
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Washington mobilisiert gegen Iran
vom 07.08.2024