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Aus: Ausgabe vom 30.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Philosophie

Die Freuden des Bergsteigens

Mut zur Vernunft: Dem Kunstphilosophen Thomas Metscher zum 90. Geburtstag
Von Jürgen Block
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Erschließungsweisen der Welt: Thomas Metscher beim Gipfelanstieg

Bremen, in den frühen 80er Jahren. Thomas Metscher, Hochschullehrer an der Universität, sammelte uns Studies an der Uni auf und fuhr uns mit dem Auto aufs Land nach Quelkhorn nahe Worpswede. Dort saßen wir dann auf seiner Terrasse, um die nächste Lehrveranstaltung zum Thema Liebeslyrik zu planen. So war das damals.

Thomas Metscher wurde am 30. Juli 1934 in Berlin geboren, von 1961 bis 1971 lehrte er deutsche Literatur an der Queen’s University of Belfast und von 1971 bis zur Emeritierung 1998 war er Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen. Irland ist heute mehr als seine zweite Heimat geworden, dank seiner Ehefrau Priscil­la und der gemeinsamen jahrelangen Beschäftigung mit der Literatur und der wechselvollen irischen Geschichte.

Ein weiteres Beispiel für die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Hochschullehrer und Studenten in den 80ern war, dass Metscher zur Liebeslyrikveranstaltung die österreichische Autorin Marie-Thérèse Kerschbaumer eingeladen hatte, damit wir über ihren bis dahin noch unveröffentlichten Gedichtband »Neun Canti über die irdische Liebe« diskutieren konnten. Wir hatten uns im Seminar über die Bedeutung der Farbe Rot den Kopf zerbrochen, die in einem Canto so dominant war. Kerschbaumers Antwort: Sie hätte sich vom Wort »rosata« inspirieren lassen, das ihr beim Blättern in Dantes »Göttlicher Komödie« in die Augen gefallen war. So erlebten wir, was Metscher später weiter ausführen und vertiefen wird: In der Kunst werden auf besondere Weise die verschiedensten Wissensformen zusammengeführt und zur Synthese gebracht. Kunst geht nicht aus irgendeinem spontanen Akt hervor, sondern aus einer komplexen Transformation des alltäglichen und wissenschaftlichen Wissens in eine Werkgestalt.

Thomas Metscher ist begeisterter Bergsteiger. Einmal im Monat müsse er auf einen Berg, sagte er uns damals und erntete allein dafür schon die Bewunderung von mir norddeutschem Flachländler. Für ihn steht die Schönheit der Kunst gleichrangig neben der Schönheit der Natur. Nach seiner Emeritierung zog er aus den Wümmewiesen und dem trüben Novemberwetter ins schöne Ostbayern, um seinen Bergen und der Sonne nahe zu sein. Dort schrieb er in den folgenden Jahrzehnten dann Buch um Buch, die Verlage kommen kaum nach mit dem Drucken. Zu seinem Geburtstag ist »Faust und die Dialektik« erschienen, die Summe seiner lebenslangen Beschäftigung mit Goethe. Gerade hat er gemeinsam mit einer Freundin ein weiteres Manuskript über Kunst und Revolution verfasst. Bücherschreiben ist wie die Besteigung eines Berges. Metschers letzter Berg soll ein Buch über Shakespeares Dramen werden, mit Hamlet im Mittelpunkt. So ist das heute.

Damals waren wir Studenten begeistert von seinem Buch »Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur« (1984). Der Liebes- und Friedensgedanke ist ein wesentlicher Bestandteil der neuzeitlichen europäischen Literatur seit Dante, heißt es darin. Dass die Literatur die exklusive Ausdrucksform für die Friedenshoffnung ist, sprach uns allen, die wir in der westlichen Friedensbewegung engagiert waren, aus der Seele.

In den folgenden Jahrzehnten entwickelte Thomas Metscher seine Kunstauffassung in der Auseinandersetzung mit den ästhetischen Theorien von Hegel, dem späten Lukács und seinem Freund Hans Heinz Holz und mit der Literatur vor allem von Shakespeare und ­Goethe weiter. Heute begreift er Kunst als besondere Wissens-, Erkenntnis- und Tätigkeitsform, die er mit dem Begriff »ästhetische Episteme« umfasst. Ästhetische und wissenschaftliche Episteme sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Erschließungsweisen der Welt, die erste auf den einzelnen Menschen, die zweite auf allgemeine Zusammenhänge gerichtet, die er als gleichberechtigt und ebenbürtig betrachtet. Gerade in unserer heutigen kriegswütigen Zeit sind so Kunst und Wissenschaft auch Akteure in den politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Um den ganzen Metscher kennenzulernen, sei dem Leser sein 1992 erschienenes Buch »Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung« nachdrücklich ans Herz gelegt (2. Auflage 2019): das metschertypische Zusammenspiel von akribischer philologischer Lektüre und philosophischem Gedankenflug, der den Text in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang stellt. Wer etwa meinte, das Lorelei-Gedicht von Heinrich Heine sei ein harmloses Liedchen, der kann sich in den »Pariser Meditationen« eines Besseren belehren lassen.

Metscher geht davon aus, dass das Individuum Teil der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur ist, die er genauer als »gegenständliche Tätigkeit« fasst. Mit dieser Tätigkeit dringt es in die unendlichen Tiefen der Natur vor und verwandelt diese nach und nach in verstandene, sinnhafte Welt. Gegenständlich wird die Tätigkeit genannt, weil der Mensch sich durch sie den eigentümlichen Bedingungen von Natur und Gesellschaft anpasst, deren objektive Zwecke in sich aufnimmt und zu seinen eigenen macht. Indem er eine sinnhafte Welt schafft, schafft der Mensch auch sich selbst. Die gegenständliche Tätigkeit ist der Zentralbegriff in Metschers philosophischem Denken.

Metscher hält deshalb am antiken Begriff der »ästhetischen Mimesis« fest und versteht darunter die symbolhafte Widerspiegelung eines Gegenstands oder Sachverhalts, seiner inneren Potentiale und unendlichen Beziehungen zur Umwelt. Bei der Kritik am Mimesis­begriff wird häufig die Imitatio, die isolierte Einzeldinge spiegelt, mit der eigentlichen Mimesis verwechselt, die die Beziehungen und Veränderung von Dingen innerhalb eines gegliederten Ganzen widerspiegelt. Wird auf diesen Begriff verzichtet, können Kunst und Wissenschaft letztlich keine Orientierungen mehr für vernunftgeleitetes Handeln geben.

Kunst ist für Metscher die bewusstlose Geschichtsschreibung menschlicher Erfahrung und Tätigkeit, die aus der gegenständlichen Tätigkeit hervorgegangen ist und in der Rezeption wieder bewusst wird. Allerdings können die humanen Potentiale der Kunst nur erschlossen werden, wenn der Leser selbst humanistisch eingestellt ist. Postmoderne Theorien und durch sie beeinflusste Kunstwerke setzen häufig die Sinnlosigkeit der Welt voraus und lassen somit die Welt als unentrinnbar fremd und menschenfeindlich erscheinen.

Unter dem ebenfalls aus der Antike stammenden Begriff der »Katharsis« versteht Metscher die besondere, durch gegenständliche Tätigkeit am Kunstwerk bewirkte Erkenntnisform. Wenn das Individuum alle Scheuklappen fallen lässt und sich einem formvollendeten Kunstwerk vollständig hingibt, hat es die Chance, sich von der Last seiner unbegriffenen Geschichte zu befreien. Im Kunstgenuss »wäscht« (Brecht) es seine Sinne, damit es die Gegenständlichkeit der Welt wahrnehmen kann, es lernt neu, die Welt als zusammenhängendes Ganzes zu denken. So erlebt das Individuum sich als Teil der Menschengattung und mitten in der Weltgeschichte stehend.

Als wir Studenten damals auf Metschers Terrasse saßen, essend und trinkend über Liebe und Frieden stritten, hörten wir zum ersten Mal von seiner These über Goethes »Faust«. Sah die bisherige Forschung Faust einseitig entweder als nur positiven oder nur negativen Helden, so erkennt Metscher ihn als widersprüchliche, weil zutiefst mit der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft verstrickte Persönlichkeit. Fausts Utopie eines befreiten Lebens drückt sich in dem Vers aus: »Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.« Es ist dies ein Leben, das sich aus der Hölle von Krieg, Dummheit und Unterdrückung herauszuarbeiten beginnt, aber ständig bedroht ist von Selbstzerstörung und dem Rückfall in die Barbarei. So sieht es heute aus.

Damals auf der Terrasse begannen wir zu ahnen, wie wichtig Kunst und Kultur für das Überleben der Menschheit sind. Folgerung: Wir müssen uns über enge Fachdisziplinen und Tellerränder hinausgreifendes Wissen aneignen und es in eine praktische Weltsicht integrieren.

Im Moment steht es nicht gut um unsere Welt. Trotz alledem den Mut zur Vernunft zu bewahren und das Ziel einer friedlichen und humanen Welt nie aus den Augen zu verlieren, dafür stehen die Werke von Thomas Metscher.

Am 30. Juli feiern wir seinen 90. Geburtstag.

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