Licht auf die Unsichtbaren
Von Carmela NegreteDer Titel des Buches von Sascha Lübbe erinnert an Günter Wallraffs Klassiker »Ganz unten« von 1985. Und er behandelt ein Thema in dieser publizistischen Tradition: die Ausbeutung ausländischer Arbeiter in der Bundesrepublik. Was damals aber zum Skandal werden konnte, ist heute keiner mehr – im Grunde weiß jeder, in welcher Grauzone gerade diese Menschen arbeiten und leben. Zum Beispiel, dass Zigtausende Frauen aus Osteuropa alte Menschen zu Hause pflegen, oft rund um die Uhr, weil mittlerweile ein durchschnittlicher Pflegeheimplatz mehr als der monatliche Mindestlohn eines Vollzeit arbeitenden Menschen kostet.
Dennoch entsetzen mitunter die Geschichten, die Lübbe über einen längeren Zeitraum quer durch die Republik recherchiert hat. Er erzählt von einem rumänischen Bauarbeiter, dessen Familie in der Heimat blieb. Er aber arbeitet seit 18 Jahren in Deutschland für einen niedrigeren Lohn als deutsche Kollegen mit ähnlichen Aufgaben und ähnlicher Verantwortung. Er trinkt, um die Heimat zu vergessen, wo bittere Armut herrscht und er die Familie zu Weihnachten und im Sommer sieht. Der Alkohol führt zur Leberzirrhose und zum weiteren Abstieg. Es sind fast durchweg traurige Geschichten über die Unsichtbaren, die zum Beispiel Büros, Züge und Busse in der Nacht reinigen. Menschen, die keiner beachtet, aber deren Arbeit unverzichtbar ist.
Mittlerweile scheint die Mehrheit der Menschen in diesem Land hingenommen zu haben, dass das eben so ist. Das ist in anderen Ländern der EU nicht anders. In Spanien beispielsweise gibt es regelmäßige Wellen der Empörung über die Arbeits- und Lebensbedingungen migrantischer Tagelöhner – die im nächsten Augenblick wieder vergessen sind. Deshalb sind Arbeiten wie die Reportagen wichtig – auch wenn man weiß, dass man dadurch einer tatsächlichen Mobilisierung gegen diese Zustände keinen Schritt näherkommt.
Neben den beispielhaften Geschichten etwa über Erntehelfer in Mecklenburg-Vorpommern oder Schlachthofarbeiter in Niedersachsen werden von Lübbe auch Ansätze skizziert, um das Problem – innerhalb des Systems – zu moderieren. Da gibt es Beratungsstellen des DGB oder die Idee, eine übergeordnete Arbeitsinspektion nach spanischem oder französischem Vorbild einzuführen. Die könnte Kontrolle und Hilfe in Betrugsfällen bieten, um etwa an vorenthaltene Löhne zu kommen.
In einem kleinen historischen Exkurs wird in dem Buch auf die Geschichte der Arbeitsmigration in Deutschland hingewiesen. Im Fall der DDR interessiert Lübbe vor allem die »regelrechte Isolierung« der Vertragsarbeiter. Diese durften nur fünf Jahre bleiben, erinnert Lübbe. Dass das Konzept der DDR darauf basierte, anderen Länder nicht dauerhaft deren Fachkräfte zu entziehen, sondern ihnen – umgekehrt – solche Fachkräfte zur Verfügung zu stellen, die mit viel Geld und Mühe ausgebildet worden waren, bleibt selbstverständlich unerwähnt.
Der Autor geht an einer anderen Stelle auf den großen Exodus der rumänischen Arbeiter ein, die nach der »Wende« ihre Arbeit verloren hatten. »Allein in der rumänischen Industrie brach die Hälfte der Arbeitsplätze weg«, erinnert er. Viele der am schlimmsten ausgebeuteten ausländischen Arbeitskräfte kommen aus den ehemals sozialistischen Ländern: Rumänien, Polen, Bulgarien. Und natürlich aus den Kriegsgebieten der Gegenwart.
Sascha Lübbe: Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern. Hirzel, Stuttgart 2024, 208 Seiten, 22 Euro
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