Jerusalem ohne Führung
Von Helga Baumgarten, JerusalemFaisal Al-Husseini starb am 31. Mai 2001 in Kuwait. Ein Herzschlag beendete sein Leben viel zu früh. Er war in das Emirat gereist, um zu versuchen, die nach dem Golfkrieg 1991 abgebrochenen Beziehungen zwischen der PLO und der dortigen Staatsführung wiederzubeleben.
Der Trauermarsch hinter dem Leichnam von Faisal begann am 1. Juni in Ramallah. Ziel war der Haram Al-Scharif in Jerusalem mit dem Felsendom und der Aksa-Moschee. Vor dem Orienthaus, dem Sitz der palästinensischen Führung unter Faisal Al-Husseini in Ostjerusalem, warteten Massen von Menschen, um sich anzuschließen: Männer, Frauen, Kinder, Säkulare, Gläubige, Palästinenser, linke Israelis, Internationale, Christen wie Muslime – Faisal vereinigte sie alle noch einmal hinter seinem Sarg. Wir folgten ihm bis hinein in den Haram Al-Scharif. Ein historisches Ereignis, wie es Jerusalem weder davor noch danach erlebt hat. Historisch aber war vor allem der Verlust: Ostjerusalem hat seitdem keine politische Führung oder Vertretung mehr.
Faisal wurde am 17. Juli 1940 in Bagdad geboren. Er wäre jetzt 84 Jahre alt geworden. Sein Vater Abdelkader Al-Husseini, bis heute einer der Helden des palästinensischen Befreiungskampfes, war nach der ersten palästinensischen Revolte 1936–1938 verwundet und dann von der britischen kolonialen Mandatsmacht verhaftet worden. Über Beirut und Syrien gelangte er in den Irak. Eben dort im Exil wurde Faisal geboren. Nach einer weiteren Verhaftung Abdelkaders durch die britische Kolonialmacht im Irak wurde er schließlich freigelassen und fand mit seiner Familie in Saudi-Arabien politisches »Asyl«. 1946 kehrte er über Kairo nach Jerusalem zurück. In den Kämpfen gegen die zionistischen Paramilitärs der Haganah in der Schlacht von Castel westlich von Jerusalem wurde Faisals Vater Abdelkader am 8. April 1948 erschossen.
Zwischen 1982 und 1987 wurde Faisal Al-Husseini mehrmals wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Zu Beginn der ersten Intifada nahm er seine beiden Kinder, Abdelkader und Fadwa, mit nach Gaza, damit sie diesen Teil Palästinas kennenlernten. Zuerst machten sie Stopp im Dschabalija-Flüchtlingslager im Norden Gazas. Dort nahmen sie an den Trauerfeierlichkeiten für zwei von der Armee erschossene Jugendliche teil. Die Mutter der beiden hatte eine klare Botschaft für die Besucher aus Jerusalem: Ich bin bereit, noch weitere drei Söhne an die Intifada zu verlieren. Nur einer soll mir bleiben. Entscheidend für mich ist, dass wir unsere Freiheit erkämpfen, auch wenn der Preis extrem hoch ist.
In Gaza bestand Faisal darauf, dass er nicht als Vertreter der Husseini-Familie, also führender Jerusalemer Notabeln, gekommen war. Vielmehr repräsentiere er Fatah und die PLO als Vertretung der Palästinenser. Für ihn war es wichtig, so erinnert sich sein Sohn, dass die Zeit der Familienclans vorbei war. Jetzt gab es eine nationale Führung, die alle Palästinenser repräsentierte und mit der alle in der Intifada ihre Freiheit erkämpfen würden. Vor seinem frühen Tod besuchte Faisal den Gazastreifen noch einmal mit seinen Kindern. In Deir Al-Balah wurden sie vor Hamas-Aktivisten gewarnt. Faisal wollte sie aber treffen und begann eine intensive Diskussion mit ihnen. Sie teilten die Sorge, dass Israel bei der erstbesten Gelegenheit den ganzen Gazastreifen zerstören würde.
1979 gründete Al-Husseini die Arab Studies Society, die er bis zu seinem Tod leitete. Ihr Sitz war das Orienthaus in Ostjerusalem. Die Arab Studies Society widmete sich der Forschung über Jerusalem und Palästina. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit war das Zusammentragen von historischen Dokumenten. Auch viele politische Veranstaltungen wurden im Orienthaus organisiert. Israel versuchte immer wieder, die Einrichtung zu schließen, um die Aktivitäten dort zu stoppen. Erst in der zweiten Intifada, im August 2001, schloss Ariel Sharon das Orienthaus, gerade drei Monate nach Faisal Al-Husseinis Tod. Die israelische Grenzpolizei, die in Jerusalem als Armee agiert, und der Geheimdienst drangen in das Gebäude ein und konfiszierten unterschiedslos alles. Bis heute hat Israel lediglich persönliche Fotos der Husseini-Familie zurückgegeben. Mit der Faisal-Al-Husseini-Stiftung halten seine Kinder die Erinnerung an ihren Vater lebendig – für alle Palästinenser.
Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit nördlich von Jerusalem im Westjordanland und Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Dies ist ihr fünfter Beitrag in der Reihe »Briefe aus Jerusalem«. Teil eins erschien in der jungen Welt vom 29./30. Juni, die Folgebriefe wurden in den jW-Ausgaben vom 8., vom 13./14. und vom 20./21. Juli veröffentlicht.
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