»In der Debatte herrscht Kriegskonformismus vor«
Interview: Gitta DüperthalAngesichts der Pläne der USA, ab 2026 in der BRD Mittelstreckenraketen zu stationieren, rufen Sie auf, sich an Friedensaktionen zu beteiligen. 2023 waren Sie Erstunterzeichner der Petition »Manifest für Frieden«, die Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer an Bundeskanzler Olaf Scholz richteten. Wieso gelingt es der Friedensbewegung bisher nicht, stärker zu mobilisieren?
Wir erleben einen merkwürdigen Widerspruch in der Sozialisierung der Menschen: Alles scheint anders als vor 1990, auch in der Friedensbewegung. Ich finde es wichtig, dass gerade junge Menschen wegen der Klimakrise auf die Straße gehen. Wir müssen aber begreifen, dass diese Krise auch die Frage von Krieg und Frieden fundamental zuspitzt. Beim weltweiten Verteilungskampf wird es um die verbleibenden grünen Oasen des Wohlstands gehen; vor allem aber um die Lebensbedingungen derer, die in ökologisch sensiblen Gebieten stark von der Krise betroffen sind. Es kann also nicht nur um die Stationierung von Raketen, sondern es muss um diese künftig absehbaren Konflikte gehen. Frieden gibt es nur, wenn wir nicht aufrüsten und die Klimakrise abwenden.
Die BRD drohe in den Krieg zu rutschen, weil die NATO die Aufrüstung der Ukraine von Wiesbaden aus koordiniert, warnen Sie. Wo bleibt der Aufschrei?
Meines Erachtens herrscht in der öffentlichen Debatte Kriegskonformismus vor. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in den meisten Zeitungen ist die Grundhaltung überwiegend pro Waffenlieferungen und Militarisierung. Das spiegelt nicht wider, was in der Bevölkerung gedacht wird. Andere Meinungen greifen die Mainstreammedien aber kaum auf. Diese Verfasstheit der Gesellschaft ist unvereinbar mit dem demokratischen Diskurs.
Die US-Regierung will »Tomahawk«-Marschflugkörper und Überschallwaffen in Deutschland stationieren. Diese »Entscheidung der amerikanischen Administration« begrüßt die Bundesregierung. Versucht sie, sich aus der Verantwortung zu stehlen?
Der Ukraine komme die Rolle eines Prellbocks gegen Russland zu, so der Exsicherheitsberater der US-Regierung, Zbigniew Brzezinski. Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen sah dagegen die Ukraine als Brücke zwischen Ost und West für ein gemeinsames Europa. Die Konfrontation einzustellen, wäre im Sinne der Charta von Paris 1990. Die Bundesregierung müsste sich als Vertreter einer europäischen Sicherheitsarchitektur der EU sehen, nicht als Helfershelfer amerikanischer Interessen. Ich kann nicht verstehen, weshalb sie das mitmacht.
Verteidigungsminister Boris Pistorius, SPD, betonte bei seinem Besuch am Fliegerhorst Büchel am Donnerstag: Er halte eine »glaubwürdige nukleare Abschreckung« für wichtig. Wie argumentieren Sie?
Schon 1990 wurde die Chance nur begrenzt genutzt, uns von Atomwaffen zu befreien. Wir kritisieren Pistorius, weil er mit seinen Forderungen nach immer mehr Waffen ein Vertreter der längst überholten Strategie des Kalten Krieges ist. Scholz müsste versuchen, zusammen mit Frankreich ein eigenständiges Europa und eine gemeinsame Sicherheit zu stärken.
Wieso führt die neuerliche Eskalation nicht innerhalb der SPD zur kritischen Debatte?
Wir erleben generell eine schlimme Phase der Entpolitisierung. Grenzenlose Aufrüstung führt zu Krieg. Das ist nicht die »Ultima ratio, sondern die Ultima irratio«, erklärte Willy Brandt 1971 seine Friedenspolitik. Das Forum Demokratische Linke 21 in der SPD vertritt dies heute so.
Warum sind Sie noch SPD-Mitglied?
Diese Entpolitisierung zieht sich nicht nur durch die Partei, sondern durch die Gesellschaft. Amazon und Hollywood scheinen wichtiger als die Ideen der Frankfurter Schule: Eine traurige Zeit!
Michael Müller (SPD) war von 2005 bis 2009 parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium und ist Bundesvorsitzender der Naturfreunde
Friedensaktionen am 6. August und 1. September in vielen Orten und Demonstration am 3. Oktober in Berlin, zu der bundesweit mobilisiert wird. Friedenschaffen.net
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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