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Aus: Ausgabe vom 05.06.2024, Seite 15 / Antifaschismus
Verbrechen der SS vor 80 Jahren

Den Flammen von Oradour entkommen

Frankreich: Camille Senon überlebte das SS-Massaker und beklagt heutige Kriegsverbrechen
Von Florence Hervé
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In der Dorfkirche von Oradour-sur-Glane massakrierte die SS Hunderte Menschen, darunter Frauen und Kinder

Camille Senon wollte den Sonntag bei ihren Eltern verbringen und ihren Geburtstag feiern. Die Praktikantin einer Sozialversicherung kehrte am 10. Juni 1944 mit der Tram aus Limoges zum etwa 22 Kilometer entfernten Oradour-sur-Glane heim. Gut 200 Meter vor ihrem Ziel wurde die Straßenbahn von Einheiten der SS angehalten. Alle Fahrgäste wurden zum Aussteigen gezwungen. Sie sollten ihre Ausweisdokumente zeigen.

»Raus!« brüllte ein Offizier. Senon blickte auf das brennende Dorf. Am nächsten Tag, als die SS abgezogen war, ging die 19jährige ihre Familie suchen. In der Kirche sah sie einen Berg verkohlter Leichen. Sie kam sich wie in einem Alptraum vor. An dem Tag des Nazimassakers hatte sie 25 Familienmitglieder verloren, darunter ihren Vater und Großvater. »Das bleibt in mir eingraviert, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke«, sagte sie anlässlich ihres 99. Geburtstags an diesem Mittwoch mit Blick auf den bevorstehenden 80. Jahrestages des Massakers im Gespräch mit junge Welt.

Nach der Befreiung von der faschistischen Herrschaft war Camille Senon in der Postverwaltung in Strasbourg und Paris tätig. Sie war auch eine Aktivistin, die 1962 für ein unabhängiges Algerien gegen die terroristische Geheimarmee OAS eintrat sowie für Frauenrechte und für höhere Löhne für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Ihr Leben war ein kämpferisches, das sie unter anderem in der Gewerkschaft CGT – zuletzt als Hauptamtliche –, in der Kommunistischen Partei Frankreichs, der Vereinigung ehemaliger Widerstandskämpfer, Deportierter und Internierter (FNDIRP) und an der Seite der Familien der Opfer von Oradour verbrachte. Oradour und der Kampf gegen Rassismus bleiben bis heute, im Alter von 99 Jahren, Senons Herzensangelegenheit.

Sie trat 1953 als Zeugin beim Oradour-Prozess vor einem Militärgericht in Bordeaux auf. In dem Verfahren wurde beispielsweise der SS-General Heinz Lammerding als einer der Hauptverantwortlichen des Massakers in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Senon empört sich heute noch über die Nichtbestrafung der Naziverbrecher, »die alle in ihren Betten gestorben sind«. Auf der internationalen Kundgebung für die Auflösung der SS-Verbände und gegen die Rehabilitierung des Nazismus in Köln im April 1978 rief die Französin zum »Verbot der Treffen der Mörder und zur Auflösung ihrer Verbände« auf.

Im Mai 1985 erklärte sie auf einer Protestaktion gegen das Treffen der »SS-Kameradschaften« (SS-Panzerdivisionen) in Nesselwang: »Zu einer Zeit, wo Neonazigruppen in der BRD, Frankreich, Italien und Spanien u. a. Schändungen und kriminelle Attentate üben und ein besorgniserregender Rassismus blüht, müssen Antifaschisten gemeinsam handeln. Damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt.«

Im Gespräch mit jW verzweifelt Camille Senon an der Weltlage: »Aus Oradour wurde nichts gelernt. Überall gibt es Kriegsverbrechen, Ungeheuerlichkeiten. Ich leide sehr darunter.« Doch dies ist für sie kein Grund, aufzugeben. Man müsse wachsam sein. »Errungene Rechte können zurückgenommen werden.« Sie verweist auf Angriffe auf Familienplanung und Schwangerschaftsabbruch, gegen die »Ehe für alle« oder auf Arbeiterrechte. Aus Solidarität mit den Arbeitskämpfen lehnte sie 2016 die Ernennung zur »Kommandeurin des nationalen Verdienstordens« ab.

Senon hofft, auch an diesem 10. Juni in Oradour-sur-Glane sein zu können. Bisher reiste sie noch jedes Jahr an den Ort des Massakers. Es gebe keine Zeitzeugen mehr, sagt sie. Nun sei es deshalb Aufgabe der Hinterbliebenen, das Gedenken an das Verbrechen der Nazis aufrechtzuerhalten.

Florence Hervé hat mit Martin Graf den zweisprachigen Band »Oradour – Geschichte eines Massakers – Histoire d’un massacre« im Papyrossa-Verlag herausgegeben

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