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Aus: Ausgabe vom 25.05.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Die Macht und ihr Recht

Von Reinhard Lauterbach
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Ja, wo gibt’s denn so etwas: Der Chefankläger eines Gerichtshofs, den sich der Westen geschaffen hat, um seine Machtansprüche als Recht zu verkleiden, beantragt zwei Haftbefehle: den einen gegen den Chef der Hamas, wogegen niemand in der Presse etwas hat, weil er den Richtigen träfe, auch wenn das keine großen praktischen Folgen hätte, den anderen aber gegen den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu. Die USA und Israel – beide erkennen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für sich nicht an – seien darüber »stinksauer«, titelte am Montag der Economist. Und Netanjahu nannte den aus Großbritannien stammenden Ankläger Imran Khan einen der »größten Antisemiten der Neuzeit«. Der zweitgrößte wäre in dieser Skala allerdings dann Netanjahu selbst mit seiner Vorstellung, er sei der ideelle Gesamtjude und repräsentiere alle Juden. Was dann sogar die FAZ etwas »maßlos« fand.

Mit dem doppelten Antrag auf Haftbefehl ist die deutsche Politik in ein Dilemma geraten: Soll sie es mit ihren Interessen und folglich zu Israel halten – oder mit deren ideologischem Überbau, dem Völkerrecht? Im Spiegel rät der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos, man solle halt Netanjahu nicht nach Deutschland einladen, um ihn nicht verhaften zu müssen. Sein Bonner Kollege Stefan Talmon stellt nüchtern fest, die USA seien nicht mehr der Nabel der Welt. Der Antrag auf Haftbefehl gegen Netanjahu sei sogar nützlich, um den Vorwurf gegen den Internationalen Strafgerichtshof zu entkräften, er sei auf dem nach Westen blickenden Auge blind. Beiden Argumenten ist gemeinsam, dass sie von der Instrumentalisierung des Völkerrechts durch politische Interessen stillschweigend ausgehen. Stefan Kornelius wirft dem Chefankläger in der Süddeutschen vom Mittwoch explizit vor, er habe dies nicht berücksichtigt und sich »rechtspositivistische Scheuklappen« angelegt, indem er so getan habe, als sei das Völkerrecht eine autonome Sphäre und habe wirklich etwas zu sagen. Nein, so Kornelius, nur als Mittel der Politik hat es seine Funktion, ansonsten gefährde es seine Legitimation. Denn ein Prinzip zu verteidigen, das politisch nicht durchsetzbar sei, mache nur den illusorischen Charakter des Völkerrechts deutlich. Da sind sie dann wieder alle beieinander: Der Göttinger Jurist Ambos argumentiert, die Bundesrepublik sei schon aus eigenem Interesse gehalten, an der Autorität des Internationalen Strafgerichtshofs festzuhalten – schließlich habe sie ihn selbst mit ins Leben gerufen, da könne sie sich die Blamage nicht erlauben, ihn jetzt aus vordergründigen politischen Erwägungen zu ignorieren.

In der FAZ vom Freitag kam dann wieder die Realpolitik zu ihrem Recht. Die zivilen Opfer im Gazastreifen nützten der Hamas, die Israel »in einen Vernichtungskrieg zwingen« wolle, an dem dieses »kein Interesse habe«. Mit anderen Worten: Der Kommentator aus Frankfurt kann sich Situationen vorstellen, in denen ein solches Interesse besteht, und dann? »Das humanitäre Völkerrecht ist mit Urteilen über derartige Situationen zurückhaltend. Es ist ein Recht, das aus der Realität des Krieges entstanden ist und sich an ihr orientiert. Sogar das Töten unschuldiger Zivilisten kann erlaubt sein.« Ob aber Zivilisten »unschuldig« sind, entscheidet sich daran, auf welcher Seite der Front sie ihr Dasein fristen, hilfsweise daran, wem ihr Leiden nützt.

Angesichts solcher Gebirge gedanklicher Barbarei ist es fast schon erlösend, aus der Süddeutschen vom Mittwoch zu erfahren, dass die Bundesregierung an einer Novellierung der Bioabfallverordnung arbeite. Denn die Weiterverarbeiter der Abfälle aus unseren Küchen hätten sich beschwert, dass zu viel Plastik in dem Kompostrohstoff lande. Unser Vorschlag an dieser Stelle: Die Regierung möge sich bitte bei der Gelegenheit auch Gedanken darüber machen, wie der im Krieg massenhaft anfallende Mischmüll anschließend fachgerecht sortiert wird. Soviel Ökologie muss sein.

Mit dem doppelten Antrag auf Haftbefehl ist die deutsche Politik in ein Dilemma geraten: Soll sie es mit ihren Interessen und folglich zu Israel halten – oder mit deren ideologischem Überbau, dem Völkerrecht?

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (26. Mai 2024 um 11:14 Uhr)
    Die Ungewissheit des Völkerrechts in einer Welt, in der das Völkerrecht wie eine Joker-Karte gespielt wird, hat der Internationale Strafgerichtshof eine brillante Idee: Haftbefehle für beide, den Chef der Hamas und Benjamin Netanjahu. Plötzlich sind die USA und Israel, die den Gerichtshof ohnehin nicht anerkennen, beleidigt und laut Economist stinksauer. Netanjahu, stets für eine kernige Antwort gut, beschimpft den britischen Ankläger als »größten Antisemiten der Neuzeit«. Ein echtes Dilemma hat aber Deutschland: Soll die Regierung zu Israel halten oder zum Völkerrecht, das sie so liebt? Göttinger und Bonner Völkerrechtler bieten pragmatische Lösungen an, wie »Einladung nach Deutschland vermeiden«. Klingt nach kalter Realpolitik verpackt in juristischer Rhetorik. So bleibt das Völkerrecht eine Art Zauberstab, der nur bei politischem Interesse geschwungen wird. Eine andere Perspektive illustriert die Zerbrechlichkeit der internationalen Gerichtsbarkeit. Der Haftbefehl gegen Netanjahu und den Hamas-Chef gleichzusetzen, hat die Glaubwürdigkeit der internationalen Gerichte als konfliktlösende Instanzen erschüttert. Die rechtlichen Komplikationen, weil Israel kein Vertragsstaat ist, machen die Sache nicht einfacher. Die De-Legitimation der internationalen Instanzen, sei es durch die Blockade der USA oder die Nichtbeachtung Chinas, zeigt, dass das Problem global ist. Die internationalen Gerichte stehen an einer schmalen Wegscheide: Hüter des Völkerrechts oder politisches Instrument? Die Realitäten in Gaza und Rafah verdeutlichen das Dilemma immer mehr.

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