Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Gegründet 1947 Montag, 17. Juni 2024, Nr. 138
Die junge Welt wird von 2788 GenossInnen herausgegeben
Jetzt zwei Wochen gratis testen. Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Aus: Ausgabe vom 25.05.2024, Seite 15 / Geschichte
Geschichte der Arbeiterbewegung

Große Verweigerung

Im Mai 1924 streikten 440.000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet gegen die Verlängerung des Arbeitstags
Von Reiner Rhefus
15.jpg
Streik der Kumpel der Gewerkschaft Deutscher Kaiser in Hamborn bei Duisburg 1921

Ende April 1924, in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik nach dem katastrophalen Jahr der Hyperinflation, begann einer der größten und längsten Streiks in der Geschichte des Ruhrbergbaus. Annähernd 95 Prozent der Bergleute streikten mehr als einen Monat für den Erhalt der Siebenstundenschicht unter Tage und des Achtstundenarbeitstages über Tage. Diese große Auseinandersetzung um die Arbeitszeit hatte schon Monate zuvor, im Januar begonnen, aber die deutsche Arbeiterschaft kämpfte diesen Kampf um die große Errungenschaft der Revolution, den Achtstundentag, zersplittert, uneinheitlich und verlor ihn.

Unternehmeroffensive

Im Oktober 1923, zum Höhepunkt der Inflation und in einer fast revolutionären Situation, leitete die rechtsliberale Reichsregierung eine Währungsreform ein und ließ sich mit dem Ermächtigungsgesetz uneingeschränkte Vollmachten erteilen. Der militärische Ausnahmezustand sorgte für das Verbot der Kommunisten und relative Ruhe auf den Straßen. Mit über 60 Notverordnungen wurden sozialen Gesetze beschnitten, vor allem die Arbeitszeitordnung. Der dort festgeschriebene Achtstundentag wurde aufgeweicht, in den Staatsbetrieben ganz abgeschafft.

Der Aufforderung der Regierung folgend, gingen auch die Privatunternehmer zum »Generalangriff« auf den Achtstundentag über. Während die Gewerkschaftsführer durchaus die Bereitschaft signalisierten, zur Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft unter Beibehaltung des gesetzlichen Achtstundentages und unter Bezahlung von Überstundenzuschlägen vorübergehend eine längere Arbeitszeit zu vereinbaren, wollten die Unternehmer die Begrenzung des Arbeitstags beseitigen. In Berlin wurden 150.000 Metallarbeiter, die dem Arbeitszeitdiktat nicht folgen wollen, ausgesperrt. Nur Tage später auch im Rheinland. Auch die rheinisch-westfälischen Metallarbeiter sollten nun zehn Stunden täglich schuften. Die Essener Bezirksorganisation des Deutschen Metallarbeiter-Verbands beschloss den Generalstreik, der zwar von der Zentrale in Stuttgart nicht unterstützt wurden, aber trotzdem von einer erneuten Gebietskonferenz am 8. Januar 1924 bestätigt und durchgeführt wurde. Wenige Tage später traten in Düsseldorf und in Elberfeld zwei konkurrierende Arbeiterkonferenzen zusammen, die berieten, wie der Abwehrkampf zu unterstützen bzw. zu organisieren sei. Im Kern ging es um die Abwägung: Generalstreik oder Abwehr durch punktuelle Maßnahmen und Unterstützung der ausgesperrten Metallarbeiter. Die Gewerkschaftskassen waren weitgehend leer, Möglichkeiten, die Streikenden materiell zu unterstützen, waren nach der kalten Enteignung durch die Inflation kaum mehr vorhanden.

In Elberfeld trafen sich die örtlichen Spitzen der ADGB-Ortsausschüsse und die Gauleiter (heute Bezirksleiter) der Einzelgewerkschaften und plädierten für die Unterstützung der etwa 30.000 ausgesperrten Metallarbeiter in Düsseldorf. Die Konferenz der Betriebs- und Erwerbslosenräte aus Rheinland-Westfalen in Düsseldorf, die sich auf die klassenkämpferische Gewerkschaftsopposition stützte, forderte den unverzüglichen Generalstreik.

An der Streikbewegung beteiligten sich im Rheinland zeitweise und nach groben Schätzungen 500.000 Menschen, aber der Streik blieb uneinheitlich. In einigen Städten (Solingen, Remscheid, Gelsenkirchen, Düsseldorf, Velbert) und Branchen wurde der Generalstreik über Wochen befolgt, in anderen nicht, in weiteren bröckelte der Streik auch des Hungers wegen schon nach Tagen. Die Streikbewegung verebbte Ende Februar nach etwa zwei Monaten und endete in einem Fiasko. Die tägliche Arbeitszeit wurde um mindestens eine Stunde ohne Zuschläge erhöht. Die Betriebe wurden von den kämpferischsten Arbeitern »gesäubert«.

Aber der Kampf um den Achtstundentag war damit noch nicht entschieden. Im Mai 1924, mitten im Streik, schrieb die Deutsche Bergwerks-Zeitung, das Organ des Zechenverbandes: »Es handelt sich bei der Arbeitszeitfrage um ein Gesamtproblem der deutschen Wirtschaft. Dem Ruhrbergbau ist die zweifelhafte Rolle zugefallen, diesen Kampf in vorderster Linie auszufechten.«

Am 31. März hatte der Zechenverband den bestehenden Tarifvertrag gekündigt und eine Rückkehr zur Vorkriegsarbeitszeit zur Voraussetzung von Lohnerhöhungen gemacht. Schon Mitte März waren die Absichten der Bergwerksbesitzer publik geworden. In einem Flugblatt der Kommunistischen Jugend hieß es: »Die Unternehmer wollen die Urlaubszeit, den Grundlohn, die Deputatkohle, das Hausstands- und Kindergeld beseitigen. Die achtstündige Schichtzeit einführen, ein Lohnhauer soll 10 Prozent, ein Gedingeschlepper 20 Prozent weniger bekommen als ein Vollhauer, der Lohn um 15 Prozent herabgesetzt werden.«

Die Forderung nach achtstündiger Arbeitszeit unter Tage war eine Provokation, denn die Bergleute hatten mit der Revolution 1918 und mit Verweis auf die harten Arbeitsbedingungen »unter Tage« die Siebenstundenschicht errungen.

Am 28. April trat unter der Leitung des sozialdemokratischen Staatssekretärs Mehlich eine staatliche Schlichtungskommission zusammen und stimmte der Achtstundenschicht unter Tage zu. Das Schlichtungsergebnis wurde von den Bergleuten einmütig und empört abgelehnt. Etwa die Hälfte von ihnen befand sich zu diesem Zeitpunkt schon im Streik. Angesichts der leeren Streikkassen stimmten die Bergarbeiterverbände dem Ergebnis zu, baten jedoch darum, diese Zustimmung vertraulich zu behandeln, solange sie ihre Empfehlung noch nicht auf den geplanten Revierkonferenzen vorgetragen hatten.

Am 2. Mai – mit dem Auslaufen der bisherigen tariflichen Regelung – verlangten die Unternehmer ganz konkret von jedem Beschäftigten die Einhaltung der Achtstundenschicht unter Tage und die Zwölfstundenschicht über Tage. Die vier Bergarbeiterverbände forderten ihre Mitglieder auf, dieser Aufforderung nicht nachzukommen und nach sieben Stunden die Arbeit zu beenden. Der Zechenverband antwortete mit Aussperrung, wovon etwa 75 Prozent der Kumpel an diesem Tag betroffen waren.

Nur einen Tag später erfolgte die staatliche Verbindlichkeitserklärung des Schlichtungsergebnisses. Der Staat stellte sich damit auf die Seite der Unternehmer, entschied aber zugleich auf eine 15prozentige Lohnerhöhung. So wollte man den Unmut der Kumpel besänftigen und den Arbeitskampf im Ruhrbergbau abwenden. Das ungewöhnlich schnelle staatliche Eingreifen war der enormen volkswirtschaftlichen Bedeutung des Bergbaus geschuldet.

Fast alle streiken

Das Arbeitsministerium in Berlin ging davon aus, dass ähnlich wie im Bergischen Land die Arbeiter diese Verbindlichkeitserklärung hinnehmen und ihre Arbeit wieder aufnehmen würden. Doch es kam anders. In den folgenden Tagen stieg die Zahl der Streikenden täglich an. Am 5. Mai verließen 78 Prozent der Bergleute nach sieben Stunden den Schacht. Etwa 57 Prozent der Belegschaft wurden wegen ihrer Weigerung fristlos entlassen. Am 10. Mai schließlich waren 93,3 Prozent der Kumpel fristlos entlassen. Etwa 440.000 Bergarbeiter verweigerten unter großen familiären Opfern die Befolgung des Schiedsspruchs, die Verbände hatten Mühe, die Bewegung zu steuern.

Schlichtung und Verbindlichkeitserklärung fielen in den Wahlkampf zur Kommunal- und Reichstagswahl am 5. Mai 1924. Das Wahlergebnis zeigte einen kolossalen Vertrauensverlust in die traditionelle Arbeiterpartei SPD. Die KPD, die in den Ruhrgebietsstädten zwischen 22 und 30 Prozent erreichte, hatte die Position der stärksten Arbeiterpartei übernommen.

Am 11. Mai fanden auf den meisten Zechen Belegschaftsversammlungen statt, in denen durchweg Beschlüsse zur Fortsetzung des Streiks, zur Aufstellung von Streikposten, zum Ausschluss der Arbeitswilligen aus den Gewerkschaftsverbänden und zur Versorgung der Ausgesperrten durch die Gemeinden und Volksküchen verabschiedet wurden.

Angesichts der Streikbewegung wurde am 16. Mai ein neuer Schiedsspruch gefällt: Der Achtstundentag unter Tage sollte befristet und nur bis zum 31. März 1925 gelten. Eine Betriebsrätekonferenz am 18. Mai in Bochum lehnte diesen Kompromiss ab.

Parallel zum Kampf an der Ruhr versuchten die Kommunisten einen Streik aller Bergarbeiter in Deutschland zu organisieren. Im Steinkohlebergbau in Oberschlesien und im Erzbergbau in Sachsen standen die Belegschaften ebenfalls im Streik. Auch die Werftarbeiter an Nord- und Ostsee befanden sich wegen der Arbeitszeiten im Ausstand. Eine breitere Front kam indes nicht zustande.

Die kommunistische Fraktion im Reichstag startete zur gleichen Zeit eine Gesetzesinitiative. Im Bergbau sollten die Siebenstundenschicht unter Tage und die Achtstundenschicht über Tage gesetzlich festgelegt werden. Zudem wurde die Entlassung von Arbeitsminister Braun und Staatskommissar Mehlich verlangt.

Über Wochen stand die Streikfront an der Ruhr unverändert, annähernd 94 Prozent der Kumpel befanden sich im Ausstand. Nachdem der zweite Schiedsspruch gescheitert war, wurde am 27. Mai ein dritter Versuch unternommen. Der neue Schiedsspruch sah eine zusätzliche Lohnerhöhung von fünf Prozent vor. In der Arbeitszeitfrage machte das Unternehmerlager keine Konzessionen. Vier der fünf Bergarbeiterverbände nahmen an. Sie fürchteten, im Fall einer Ablehnung werde das System der kollektiven Tarifverträge samt Schlichtungsregelung erschüttert. Von der SPD wurde das Schlichtungssystem als Errungenschaft betrachtet, mit dem der Staat zugunsten der Arbeiter eingreifen könne.

Doch die Kumpel ließen sich nicht beirren. Vom 27. bis zum 31. Mai streikten weiterhin mehr als 93 Prozent der Bergleute. Erst Anfang Juni nahm die Zahl der Streikenden ab. Am 2. Juni brach der Streik schließlich zusammen.

Die politischen Folgen waren bei den Betriebsratswahlen in den Ruhrzechen im Herbst 1924 erkennbar: Die 1921 gegründete linksradikale Union erreichte 34,3 Prozent der Mandate und lag nun erstmals vor dem sozialdemokratisch geprägten »Alten Verband« (32,2 Prozent) und dem Christlichen Bergarbeiterverband (21,3, Prozent). Die beiden traditionellen Gewerkschaftsverbände vertraten damit nur noch wenig mehr als die Hälfte aller Bergleute. Zudem wurde auch die kommunistische Opposition innerhalb des »Alten Verbands« erheblich stärker.

Der heute fast vollständig vergessene Streik vom Mai 1924 war einer der größten Arbeitskämpfe im Ruhrgebiet. Beim legendären Arbeitskampf vom Mai 1889 beteiligten sich etwa 104.000 Bergarbeiter, 1905 legten etwa 200.000 von 268.000 Bergleuten des Ruhrgebiets ihre Arbeit nieder, im März 1912 waren es zwischen 150.000 und 235.000, im Mai 1924 streikten 440.000 Kumpel. Dass sich der Streik dem historischen Gedächtnis entzieht, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Niederlage der Streikenden zu tun, die von den Arbeiterorganisationen mitverschuldet war und zu einem enormen Mitgliederschwund führte.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Ähnliche:

  • Bei der Tarifauseinandersetzung im Handel herrscht Stillstand, B...
    05.09.2023

    Hängepartie im Handel

    Tarifrunden ohne Aussicht auf Abschluss. Beschäftigte streiken verstärkt
  • In der Nacht zu Sonnabend hatten Beschäftigte bereits erste Warn...
    31.10.2022

    Schlechter Scherz

    Kapitalseite in dritter Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie ohne ernstzunehmendes Angebot. Beschäftigte antworten bundesweit mit Warnstreiks
  • Nicht zu schaffen, geradezu unmenschliches Arbeitspensum für Pfl...
    09.05.2022

    Tarifstreit verschärft

    NRW: Ultimatum für bessere Jobbedingungen an sechs Unikliniken verstrichen. Folge: Unbefristete Streiks und Großdemo Beschäftigter in Düsseldorf

Regio:

Mehr aus: Geschichte