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Aus: Ausgabe vom 25.05.2024, Seite 12 / Thema
Literatur

Erfindung einer Tradition

Dreizehneinhalb Sätze über den Schriftsteller Erich Hackl anlässlich seines 70. Geburtstags
Von Ronald Weber
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Das ungarische Denkmal in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (Aufnahme von 1982)

Die Ihr dahinstarbt lange vor der Zeit,

die Ihr im Kampf fürs Recht gefallen seid,

zerstochnen Auges und zerschlagnen Munds,

Ihr Toten seid für alle Zeit mit uns.

Theodor Kramer

Mit dem Erzählen muss man einfach anfangen. Man muss anfangen, und man weiß natürlich, womit man anfängt: Der Schriftsteller Erich Hackl wurde am 26. Mai 1954 in Steyr geboren und wuchs in der Gregor-Goldbacher-Straße auf. Das ist der erste Satz. Die Stadt war seit dem 19. Jahrhundert ein bedeutendes industrielles Zentrum Oberösterreichs. Die Steyr-Werke stellten Waffen her, später Autos und Fahrräder. Dann wieder Waffen. Hitler war hier zur Schule gegangen. Der Heimatdichter Gregor Goldbacher war einer seiner Lehrer. Aber die Anekdoten über die Schulzeit des »Führers« interessierten den jungen Hackl nicht. Ihn interessierte: das Konzentrationslager Mauthausen, eine halbe Autostunde entfernt, die Geschichte der Arbeiterbewegung in der bis heute formell »roten« Stadt.

Weniger als 40.000 Einwohner, keine Universität. »Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir weder Aufruhr noch Verfolgung ein. Wohl aber Stillstand, Schutt, Verfall. Die Fabrikruinen von Unterhimmel, das Gerinne im Wehrgraben, der Kohlestaub längs der Steyrtalbahn. Gras, das zwischen Pflastersteinen, Dachziegeln sprießt.« Erich Hackl kommt aus der Provinz. Aber für den zweiten Satz ist das zu wenig. Wäre zu ergänzen, dass sie ihm kein Makel war. Schon als Student in Salzburg hielt er den Brauch der Kommilitonen, die eben erst verlassene Heimat schlechtzumachen, für dummes Gewäsch. »Der Irrglaube, das Leben sei anderswo.«

Das zeugt von Geschichtsbewusstsein. Geschichten, wie sie der Arbeiterhistoriker Peter Kammerstätter zusammengetragen hat. Vom Februaraufstand 1934 gegen die Dollfuß-Diktatur, vom Widerstand gegen die Nazifaschisten ab 1938. Von den Deportationen, vom Völkermord. Vom erzwungenen Exil. Geschichten auch vom einfachen, schönen wie grausamen Leben auf dem Land, wie sie zu Hause am Küchentisch erzählt wurden, vor allem von der Mutter. »Wer erzählt, ist guten Glaubens.« Und das ist auch schon der dritte Satz: Erich Hackl ist ein Mensch guten Glaubens.

Schnell den vierten Satz hinterher: Erich Hackl ist ein glücklicher Mensch. Gibt es Schöneres, als in jungen Jahren zu wissen, was man will, und zu können, was man will: Schreiben. Umstände vorzufinden, die einem erlauben, das zu tun. Gelesen zu werden auch. Im Elternhaus Liebe und Unterstützung zu erfahren. Fortgehen zu können. Wurzeln zu schlagen. Zurückzukommen. Sich nicht fremd zu fühlen. Familiäres Glück zu finden, Freundinnen und Freunde, junge und viele alte, in Wien, Madrid, Leeds, Linz, Buenos Aires, Ostberlin, Montevideo, Guatemala-Stadt. Ein Ziel zu verfolgen: zu erzählen vom Widerstand, der »Brücke ohne Ufer«.

Geschichts-Erzähler

Jetzt der schwierigste Satz: Erich Hackl ist ein Schriftsteller, aber keiner von der Sorte, die etwas erfinden, sondern ein Chronist. Ich bin, sagt Hackl, »Geschichts-Erzähler«. Er arbeitet mit nachprüfbaren Tatsachen. Er nennt seine Quellen. Es geht ihm, ganz altmodisch, um »Treue und Wahrheit«. Es ist wahr, dass die Spanierin Aurora Rodríguez ihre Tochter Hildegart, nachdem sie sie zu einer selbstbewussten, republikanischen Frau erzogen hat, tötete. Es ist wahr, dass der österreichische Interbrigadist Rudi Friemel im Konzentrationslager ­Auschwitz seine spanische Freundin Margarita Ferrer heiratete. Es ist wahr, dass die Uruguayerin Sara Méndez von den miteinander kooperierenden Militärs ihres Heimatlandes und Argentiniens in Buenos Aires entführt, gefoltert und sechs Jahre verschleppt wurde. Wie Hunderten anderen Müttern stahl man ihr das gerade erst geborene Kind. Es ist wahr. Und natürlich ist es auch unerhört. Unerhört, dass das Leben Geschichten schreibt, die einer Kleistschen Novelle entstammen könnten. Wie die Geschichte des salvadorianischen Dichters und Revolutionärs Roque Dalton, der, zum Tode verurteilt, der Exekution durch Flucht entging, weil ein Erdbeben die Gefängnismauern zum Einsturz brachte. Woraus man schließen kann, dass Hackls Geschichten nicht unbedingt wahrscheinlich sind (womit, das nur nebenbei, das bürgerliche Feuilleton offenbar so seine Probleme hat, Klischees und Klitterungen wähnend, wo einfach die Wahrheit steht). Natürlich schränkt das die Freiheit des Schreibenden ein. Die Fiktion hat kein Vorrecht. Wo es um echte Schicksale geht, trägt der Schriftsteller Verantwortung. »Ich muss Menschen gerecht werden, nicht literarischen Figuren.« Natürlich darf der Chronist, wo Lücken sind, mit Vermutungen arbeiten. Natürlich muss er sie kenntlich machen. Natürlich müssen sie plausibel sein. Sind sie es nicht, wie im Fall des spanischen Bestsellerautors Antonio Muñoz Molina, der in seinem Roman »Sepharad« die Lebenserfahrungen realer Personen wie Jean Amérys oder Viktor Klemperers willkürlich in eine fiktionale Erzählung presst, kann Hackl auch schon mal ungemütlich werden.

Eigentlich aber ist Erich Hackl ein Vermittler. Das ist der sechste Satz. Als Grenzgänger zwischen Österreich und Spanien, als Über­setzer lateinamerikanischer Literatur, vor allem von Gedichten, viele von Frauen. Eng verbunden mit den Kämpfen der Linken auf der Iberischen Halbinsel und im Hinterhof der USA. Geprägt von den Revolutionen in Kuba und Nicaragua. Als Vermittler übrigens, als Rezensent und Nachwortschreiber leistet Hackl sich durchaus, worauf er sonst verzichtet: Pathos.

Erich Hackl fühlt sich seinen Protagonisten, ihren Nachkommen und Freunden verpflichtet, und auch die Toten haben Stimmrecht. Das mag als siebter Satz angehen. Hackl schreibt aus ihrer Perspektive. Er versucht, was er der kommunistischen Heimatdichterin Henriette Haill als Tugend zuschreibt: »mit dem Herzen eines anderen zu fühlen«. Widersprechen Quellen den Zeitzeugen, gibt er ihnen den Vorzug, nicht den Akten. Dabei ist Hackl sich der Schwierigkeit bewusst, dass Erinnerung selektiv ist. Dass jeder nur seinen Teil weiß, »wenig Beobachtetes, viel Herzenswärme«. Um dem entgegenzuarbeiten, agiert er wie ein Journalist, der verschiedene Versionen einholt. Am Ende gibt er seinen Gesprächspartnern das Geschriebene zu lesen. Sie können Einspruch einlegen. Das gebietet der Respekt. Man denke an Helga und Willi Tenenbaum, die nach ihrer Flucht vor den Nazis von Wien nach Argentinien ihre Tochter Gisela verloren (eine von 30.000 Verschwundenen in der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983). Aber es geht um mehr: um Sympathie, politische Übereinstimmung, Verbündung, Freundschaft. »Ein Freund ist, glaube ich, jemand, mit dem man eine Geschichte teilt.« Tatsächlich sind Hackl mit und durch alle seine Bücher Freundschaften entstanden. Und über die meisten seiner Freunde hat er geschrieben. Besser also, man ändert den Satz. Besser, er lautet: Erich Hackl fühlt sich seinen Protagonisten freundschaftlich verbunden.

Suchend und tastend

Aus dem Gesagten ergeben sich Konsequenzen für die Ästhetik der Hacklschen Texte. Die Erzählhaltung ist suchend, tastend. Der Stil ist knapp, präzise, nüchtern. Mit dem Herzen eines anderen zu fühlen, bedeutet nicht, auch so zu schreiben. Erhitzte Gegenstände verlangen eine erkaltete Sprache, eine distanzierte, neutrale Erzählhaltung. Keine Psychologie. Weder Pathos noch Ironie. Keine Landschaftsbilder. Zur Arbeit des Chronisten gehört der Mut zum Weglassen. Lieber ein Wort zuwenig als eines zuviel. Was nicht bedeutet, Grausames nicht auszusprechen, Folterungen, sadistische Morde durch SS und andere Nazis auszusparen. Probleme der Perspektivierung. Um so mehr denkt Hackl über Fragen der Form nach, den Einsatz erlebter und indirekter Rede, dramaturgische Arrangements, sprachliche Rhythmisierung. »Nicht der Inspiration gilt die Sorge des Erzählers, sondern dem Handwerk ihrer Anverwandlung.« Oder anders formuliert, und das ist der achte Satz: Erich Hackl ist Formalist. Wie jeder Künstler. Was denn sonst? Und wie jeder arbeitet er mit Vorbildern: Atxaga, Bobrowski, Hebel, Johnson, Kiš, Kleist, Krall, Seghers, Vesper.

Die emotionslose Sprache erzeugt den gegenteiligen Effekt: Anteilnahme, Erschütterung, Protest. Die Wirkungsabsicht liegt offen zutage. »Das herrschende Unrecht. Es erkennen und zu deuten wissen.« Das wäre der neunte Satz: Erich Hackl ist ein Aufklärer, der gesellschaftliche Missstände anprangert und deren Abstellung fordert. »Fast schäme ich mich zu sagen, dass es immer noch Empörung ist, die mich zum Schreiben drängt.« So machtvoll, dass der Chronist manchmal zurücktritt, »seine ohnmächtige Wut« hinausschreit wie im Fall des nach Auschwitz deportierten Romamädchens Sidonie Adlersburg. Dabei schätzt Hackl die Möglichkeiten operativer Literatur als gering ein. Es geht ihm ohnehin nicht um Agitation. Sondern um Korrekturen. Um Anerkennung. Zu zeigen, was passiert ist mit Sidonie Adlersburg, Juliana Salzmann, Gisela Tschofenig. Das Schweigen, »ein feines Gewebe zwischen Scham und Vergessen«, zu brechen, »im Erinnern an von Menschen erlittenes Unglück Möglichkeiten des unverstellten Glücks aufzuspüren«. Orientierung zu geben und Hoffnung, »uns zu stärken, nicht aufzugeben«. Trauerarbeit zu leisten auch. – Muss man erwähnen, dass Hackl mit der herrschenden »Erinnerungspolitik« unzufrieden ist? Weil sie ein ganz anderes Gedenken im Sinn hat, ein museales, weil sie Gegenwart und Vergangenheit fein säuberlich trennt: »Könnte die Aktualität des Gedenkens an die Häftlinge von Mauthausen, Bachmanning und den anderen Lagern nicht darin bestehen, dass in ihrer kompletten Ökonomisierung die unsrige erscheint, in der Ankunft ihrer nicht korrumpierten Gefährten der von uns ersehnte Zusammenhalt, ohne den sich der Käfig des Kapitalismus nicht sprengen lässt?«

Kaum etwas regt die Gefühle der Leser mehr an, als eine unerfüllte, von außen zerstörte Liebe. Viele Geschichten Hackls sind Liebesgeschichten. Geschichten von Paaren, die in schwierigen Konstellationen zusammenkommen. Wie die des Spanienkämpfers Karl Sequens, der in einem Krankenhaus in Valencia die Frau seines Lebens, Herminia Roudière Perpiñá, kennenlernt. Eine Liebe, die der Franquismus trennt. Liebespaare, die gemeinsam fliehen. Bei denen einer der Partner im Konzentrationslager stirbt. Wie im Fall des deutschen Kommunisten Hugo Salzmann und seiner österreichischen Frau Juliana. Unausgelebte Lieben zwischen Eltern und Kindern, vor allem Müttern (wie »Mütterlichkeit«, verbunden mit linkem Engagement, überhaupt den »geistigen Kern von Hackls Schreiben« ausmacht, wie Ruth ­Klüger meint). Geschichten von grausam zertretener Mutterliebe, deren Größe und Schönheit als Möglichkeit in ihrem Scheitern sichtbar wird. Aber auch Geschichten von angenommener Liebe. Von Frauen, die ihre inhaftierten Schwestern an Mutter statt vertreten. Von Männern wie Wilhelm Gubi, der im KZ Kaufering einer sterbenden Mutter das Versprechen abgibt, sich um ihre in einem französischen Kloster versteckte Tochter zu kümmern. Der nach der Befreiung mit dem Kind nach Chile auswandert. Ihr alle Liebe schenkt, derer er fähig ist (geschunden, wie er ist; jede Nacht schiebt er den Schrank vor die Tür, unter dem Kopfkissen ein Laib Brot). Und nie ein Wort über ihre Herkunft verrät. Um sie zu schützen, sich zu schützen (weshalb der Name Wilhelm Gubi auch ein Pseudonym ist). Der zehnte Satz lautet also: Erich Hackl ist ein Autor von Liebesgeschichten.

Kämpfer, nicht Opfer

Oft heißt es, Hackl gebe »den Opfern« eine Stimme. Aber das stimmt nicht. Bei Hackl sind die Opfer Menschen »von Würde und von Ehre«, Aufrechte. »Ich mag nicht das Opfergerede, wenn es um die Verfolgten des Naziterrors geht.« Heroisierung ist das nicht. Nie geht Hackl über Widersprüche hinweg. Nie verschweigt er eigene Fehler und Verbrechen. Aber die Achse des Geschehens bei ihm ist nicht das Scheitern der Linken, das langsame Ausbrennen der Utopie. Sondern der Widerstand, das Sichbehaupten, die Solidarität. Das richtige Leben im falschen. Erich Hackl sitzt, wie Brecht sagen würde, bei den Kämpfern. Und das ist der elfte Satz. Der Februaraufstand hat früh sein Interesse geweckt. Weil die sozialistischen österreichischen Arbeiter sich gegen den Faschismus verteidigten (zwei Jahre früher als in Spanien). Weil sie »sich erhoben, als es geboten war, sich zu erheben«. In »Kleine Stadt der Arbeitslosen« hat Hackl dem Aufstand mit Blick auf Steyr ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Text steht nicht zufällig am Beginn seines Schaffens als literarischer Chronist. Auch den Spanischen Krieg und den Einsatz der Internationalen Brigaden hat Hackl immer wieder beschrieben (mit Hans Landauer ist er Herausgeber des »Lexikons der österreichischen Spanienkämpfer«). Viele der Interbrigadisten landeten nach der Flucht über die Grenze nach Frankreich in deutschen Konzentrationslagern, in Auschwitz, Dachau oder Mauthausen. Viele von ihnen waren Kommunisten. Mit manchen war Hackl befreundet: Ferdinand Hackl, Ruth Fischer, Hans Landauer, Antonie Lehr, Pieter Siemsen, Harry Spiegel, Leopold Spira. Von einigen hat er in seinen Sammlungen »In fester Umarmung«, »Anprobieren eines Vaters« und »Im Leben mehr Glück« berichtet. In Essays, Porträts, Trauerreden.

Hackl hängt ihnen in treuer Freundschaft an. Weil sie gekämpft haben. Weil sie geholfen haben, Österreich zu befreien. Weil sie für ein anderes Österreich stehen, das der Arbeiterbewegung. »Als Hitler Österreich besetzte, saßen sie bei Pepi zu Hause am Küchentisch und weinten, vor Wut und weil ihnen niemand beistand.« Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Land als erstes Opfer der Nazis. Auf eine kurze Entnazifizierung unter Aufsicht der Alliierten folgte der Kalte Krieg. Dann fiel man im Zuge der Debatte über die Nazivergangenheit des ÖVP-Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim statt wie vorher rechts links vom Pferd. Nun waren auf einmal alle Österreicher irgendwie nazistisch gewesen. Nun gab es nur noch Täter. Keinen Widerstand, schon gar keinen kommunistischen. Nichts, das der Erinnerung würdig wäre. Nichts, an das man sich hätte anschließen, mit dem man sich hätte identifizieren können. Als hätten alle Österreicher die Nazis willkommen geheißen. Die paar Juden abgezogen. Aber: »Es gab abertausende österreichische Widerstandskämpfer, Kämpferinnen, Zehntausende im Graubereich der Verweigerung, zwischen aktivem Widerstand und erzwungener Anpassung. Eine Minderheit, gewiss. Aber es sind, egal wo, fast immer nur Minderheiten, die einem Terrorregime trotzen. Und dass es nicht mehr waren, im Gebiet des heutigen Österreich, hat politische Gründe – in erster Linie die Zerstörung der Demokratie durch das Dollfußregime 1933 und die Niederlage der aufständischen Arbeiter im Jahr darauf – und nicht solche moralischer, völkerpsychologischer oder mentalitätsgeschichtlicher Art«. Die fatale Folge der Waldheim-Debatte war die Zementierung eines falschen Österreichbildes. Ein böses, geschichtsloses Land. Eine dumpf nationalistische, spleenig-verspießerte Gesellschaft ohne Bewegung, ohne Klassenkämpfe, in der »nichts korrigiert, nichts erkämpft werden kann«. Und angesichts des Aufstiegs der FPÖ unter Jörg Haider, dem man fortan überließ, das Feld des Patriotismus in seinem Sinne zu beackern, erschien vielen plötzlich die neoliberale Europäische Union als Rettung. Hackl aber hielt an dem Bild seines Landes fest, das ihm die alten Genossinnen und Genossen vermittelt haben. Und an seiner unbedingten Gegnerschaft zum Kapitalismus. Zwölfter Satz: Erich Hackl ist ein traditioneller österreichischer Linker und als solcher ein kritischer Patriot.

Was uns verbindet

Vor hundert Jahren, als sich die revolutionäre Welle verlief, die den deutschen und den österreichischen Kaiser vom Thron stieß, existierte ein breites sozialistisches und kommunistisches Milieu. Es vermittelte Zugehörigkeit und Bewusstsein. Noch vor jeder Schulung, jedem Studium der Klassiker, jeder eigenen Erfahrung in der sogenannten Arbeitswelt. Geschichten vom Hunger, vom Streik und vom Aussperren, von der Polizei und der Soldateska, ihren Massakern, waren wie selbstverständlich Teil dessen. Erzählungen von den Leuten. Was ihnen zugestoßen ist und wie sie es ertragen haben. Wie sie gekämpft haben auch. Heute ist ein solches Milieu weitgehend verschwunden, ist die Geschichte der Linken verschüttet. Begraben unter den Trümmern des Realsozialismus. Verschmiert und zerschunden. Es gibt aber Phänomene, die haben an sich, zu sein und doch nicht zu sein. Weil sie eben erst erfahrbar gemacht werden müssen. So auch die Tradition der Linken, das Band, das uns verbindet. Sie wird erst wirkmächtig, wenn man sie aufruft. Wenn man zu erzählen beginnt, Steine umdreht, Fäden aufnimmt, sie zusammenfügt. Erich Hackl ist in diesem Sinne, und das ist der dreizehnte Satz, der Erfinder einer Tradition. Ohne ihn wäre die Geschichte der Linken ärmer. In seinen Erzählungen werden wir uns selbst kenntlich. Mit ihnen lernen wir das ABC der Solidarität. Und am Bild der gemarterten Vorgänger »den Hass wie den Opferwillen«, der laut Walter Benjamin zur »besten Kraft« der Arbeiter­klasse zählt. Und die wir brauchen werden in den Kämpfen, die da kommen.

Der Kommunist Alfredo Bauer, den die Nazis als Juden aus Wien vertrieben und der seitdem in Argentinien lebte, schrieb seinem Freund Erich Hackl im November 1991, die Auflösung der Sowjetunion vor Augen: »Literatur hat Zeit, und kann deshalb auch Geduld haben und darauf vertrauen, dass der Irrationalismus, der die Menschen erfasst hat, wieder ebbt.« Erich Hackl ist sich dessen manchmal nicht ganz sicher. »Ich werde älter, die Aussicht schwindet, noch eine Zeit zu erleben, in der die Menschen über ihre Verhältnisse hinauswachsen, aufstehen, sich als Brüder und Schwestern und auch als Liebende erkennen, nicht länger als Konkurrenten.« Warum also noch weitermachen, fragte sich Hackl bereits 2004 anlässlich der Verleihung des Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels. Viele der Freunde sind tot. Traurig, die Gegenwart mit ihren Schatten zu erkunden. Erich Hackl ist auch ein traur… So könnte der letzte Satz heißen. Ich lasse ihn unvollendet. Er ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn Hackl hat ja weitergeschrieben, und mit dem Schreiben sind ihm neue Freundschaften zugewachsen. Auch ziemt er sich nicht recht an Erich Hackls 70. Geburtstag, zu dem ich herzlich gratuliere.

Kleine Hackl-Bibliographie

Von Erich Hackl erschien zuletzt »Rudolf Schönwald: Die Welt war ein Irrenhaus. Meine Lebensgeschichte. Nacherzählt von Erich Hackl« (2022). Um Steyr geht es in »Kleine Stadt der Arbeitslosen« (in: In fester Umarmung, 1996), um Erich Hackls Mutter in »Dieses Buch gehört meiner Mutter« (2013), um Aurora und Hildegart Rodríguez in »Auroras Anlass« (1987), um Margarita Ferrer und Rudi Friemel in »Die Hochzeit von Auschwitz« (2002), um Sara Méndez in »Sara und Simón« (1995), um Roque Dalton in »Der Auferstandene und sein Prophet« (in: Anprobieren eines Vaters, 2004), um Gisela Tenenbaum in »Als ob ein Engel« (2007), um Sidonie Adlersburg in »Abschied von Sidonie« (1989), um Juliana Salzmann in »Familie Salzmann« (2010), um Gisela Tschofenig in »Tschofenigweg« (in: Drei tränenlose Geschichten, 2014) um die Häftlinge von Bachmanning in »Tote, an die man mit Zuversicht denkt« (in: Im Leben mehr Glück, 2019), um Karl Sequens und Herminia Roudière Perpiñá in »Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick« (1999), um Wilhelm Gubi in »Geschichte eines Versprechens« (in: Anprobieren), um Ferdinand Hackl in »Anprobieren eines Vaters« (in: Anprobieren), um Ruth Fischer in: »Angst vor dem Nacktsein« (in: Anprobieren), um Hans Landauer, Antonie Lehr, Pieter Siemsen, Harry Spiegel, Leopold Spira und Alfredo Bauer (in: Im Leben mehr Glück). Im Text nicht behandelt ist Hackls Herausgebertätigkeit. Um zumindest zwei Titel zu nennen: »Geschichten aus der Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs« (mit Cristina Timón Solinís, 1986) und »Im Kältefieber. Februargeschichten 1934« (mit Evelyne Polt-Heinzl, 2014).

Ronald Weber arbeitet im Themaressort dieser Zeitung. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. Juni 2023 über die Entstehung des modernen Antisemitismus in Deutschland infolge des Gründerkrachs.

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