Das Tuch der Tücher
Von Gerhard Hanloser![11.JPG](/img/450/195301.jpg)
In der BRD der 70er Jahre trugen radikal linke Aktivistinnen und Aktivisten die »Palästinensertuch« genannte Kufija aus Solidarität mit dem Kampf der Staatenlosen des Nahen Ostens. In den fünf Jahrzehnten seitdem hatte es seine spezifischen Konjunkturen. Zur Zeit des Irak-Kriegs 2003 tauchte das »Palituch« als Zeichen antiimperialistischer Haltung und Antikriegsgesinnung wieder auf. Ein kleiner, mittlerweile vollständig der deutschen Staatsräson (oder noch weiter rechts zu verortenden politischen Agenden) verschriebener, sehr deutscher Teil der linken Szene, die sogenannten Antideutschen, ließ sich damals einfallen, das »Palituch« als Ausweis antisemitischer Gesinnung zu begreifen. Seine Träger sollten am besten aus allen Szenelokalitäten verbannt werden. Wer das Kleidungsstück damals verteidigte, tat dies nicht zuletzt in Erinnerung an eine rebellische Zeit, in der es in linken und linksradikalen Szenen getragen wurde. Das Tuch stand nicht nur für Palästina-Solidarität, sondern generell für Internationalismus und linke Militanz. Dass die »Antideutschen« diese verabschieden wollten, passte gut zu ihrem Kulturkampf gegen den »Palifeudel«. 2007/2008 erfolgte eine merkwürdige Rekuperation des Kleidungsstücks durch die Billigmodeindustrie, auch bei H&M konnte man sich damit eindecken. Damals mochte es scheinen, als müsse man das Tuch, das längst kein Subversionszeichen mehr war, als politisches Symbol definitiv verabschieden.
Universelle Lehren
Doch das Tuch ist wieder da. Mit dem nach dem 7. Oktober 2023 einsetzenden Feldzug gegen Gaza durch die israelische Armee, der eine enorme Zahl an Opfern fordert, setzte eine breite weltweite Solidaritätsbewegung mit der palästinensischen Bevölkerung ein. Auf den Unicampus und in alternativen und von jungen global Reisenden viel frequentierten Vierteln werden »Palästinensertücher« wieder als politisches Zeichen getragen. Im halb migrantischen, halb verhipsterten Berliner Szeneviertel Neukölln, auf Indierockveranstaltungen und bei kulturellen Preisverleihungen wie bei der Berlinale kommt die Kufija wieder zu Ehren.
In Berlin drücken besonders sogenannte Expats und sich auf englisch durch die Bars und Kneipen schnackende »Non-Germans« mit dem Tragen des Tuches ihre politische Gesinnung aus. Es ist eine neue, junge Generation, die mit einem radikalen und emphatischen Begriff von Menschenrechten sozialisiert wurde, die digital vernetzt ist und ihre Informationen über den Krieg in Gaza nicht in erster Linie aus der »Tagesschau« oder dem Deutschlandfunk, sondern von »Democracy now!« oder antizionistisch-jüdischen, manchmal queeren Youtubern beziehen. Für sie ist das straf- und sanktionslose Abschlachten einer schutzlosen Zivilbevölkerung und die bewusste Herbeiführung einer Hungerkatastrophe ein Skandal, der Mitleids- und Solidaritätseffekte auslöst. Diese Generation hat universelle Lehren aus dem Faschismus gezogen und erkannt, dass Menschenrechte unteilbar sein müssen. Sie erkennt koloniale Herrschaftsformen und Krieg in ihrer heutigen Form.
Schales Licht
So politisch instrumentell also die Antisemitismusvorwürfe sind, die von rechts gegen die linken Protestierenden – unter ihnen viele Juden – erhoben werden, ist nicht alles, was sich auf der propalästinensischen Seite artikuliert, unproblematisch. Zuweilen erscheint es so, als wollten einige Aktivisten den Kritikern neulinker Palästina-Solidarität von Jean Améry bis Eva Illouz recht geben. Tatsächlich gibt es auch unter säkularen und linken Kräften Elemente eines Palästina-Kults und eines negativen Israel-Fetischs, die die scharfe und berechtigte Kritik am genozidalen Vorgehen gegen Gaza in ein schales Licht tauchen.
So ignorieren viele Protestierende in ihren Anklagen des »Siedlerkolonialstaates«, dass die israelische Gesellschaft weit davon entfernt ist, jenes geschlossene »zionistische Projekt« zu sein, das sich Rechtszionisten erträumen mögen. Tatsächlich ist die israelische Gesellschaft viel zerrissener. Die Unterstützung für die Angehörigen der Geiselopfer, die einen sofortigen Waffenstillstand und Geiselaustausch fordern, nimmt zu. Für Linke ist dieses Auseinanderdriften einer reaktionären Regierung und einer in Teilen rebellischen Gesellschaft Anlass zur Hoffnung. Zudem stellt sich die Frage, warum sich viele Aktive über die bloß Benjamin Netanjahus Hardlinerposition ergänzende Gegenseite bei den Palästinensern ausschweigen: die islamistische Hamas. Bestenfalls ausschweigen, muss man ergänzen. Zuweilen ist man sogar bemüht, den 7. Oktober kleinzureden oder die Greueltaten nach dem Ausbruch von Hamas-Einheiten und anderer palästinensischer Kräfte zu notwendigen oder bedauerlichen Begleiterscheinungen des Befreiungskampfes umzubiegen.
Ein trauriges Beispiel für diesen Antiimperialismus der dummen Kerle ist hierzulande eine Broschüre des Autors Noel Bamen, die von dem russlandfreundlichen Spaltprodukt der neoleninistischen Gruppe Kommunistische Organisation (KO) veröffentlicht wurde. Die Hamas wird in Verkennung ihres religiös-fundamentalistischen Charakters als »bürgerlich« etikettiert, eine Zusammenarbeit und ein Bündnis im Sinne einer aktualisierten Volksfrontpolitik des 21. Jahrhunderts nahegelegt. Tiefpunkt der zuweilen informierten Broschüre sind die Bemerkungen des Autors zum 7. Oktober: »Ich selbst kenne aber nur großartige Aufnahmen, die zeigen, wie Freiheitskämpfer militärische Ziele plattmachen, Gefangene nehmen usw. und wie ein Volk seine Gefängnismauern sprengt und seinen Guerilleros zujubelt.« Man sieht eben nur, was man sehen will.
Sozialisten und Marxistinnen haben in der heutigen Zeit eine andere Aufgabe. Gegen den Überhang an einer fetischistischen antirassistischen Identitätspolitik in jüngeren, sich postkolonial wähnenden Kreisen, mit der Israel »weiß« gezeichnet und die Palästinenser zum Inbegriff der unterdrückten People of Color (PoC) erhoben werden, die wegen ihrer Unterdrückung selbst nur gut sein können, muss eine marxistische Linke einen Gesellschaftsbegriff stark machen, der von Klassen, sozialer Ungleichheit und einem universellen Begriff von Fortschritt ausgeht. Die, zuweilen marginalen, aufklärerischen, rationalen und friedensbereiten Kräfte innerhalb der von den Herrschenden in den Krieg geführten Gesellschaften müssen gesucht und im Dialog zusammengebracht werden. Der Bürgerkrieg mochte für Lenin der Modus zur Erringung der sozialen Revolution sein. Diese Konstellation, die bereits 1917 trügerische Hoffnung war, ist definitiv vorbei.
Gleiche Rechte
Gegen eine von Boden und Herkunft geleitete identitäre Interpretation des Slogans »From the river to the sea, Palestine will be free«, die im Einklang mit den dominierenden reaktionären Ideologien unter Palästinensern und im arabischen Raum nur heißen kann: Juden raus – nach Polen, Belarus, Russland, in die Ukraine, vielleicht auch nach Äthiopien und Marokko, – hätte eine marxistische Linke festzuhalten: »From the river to the sea – Equality!« Gleiche Rechte für alle! Ob in zwei Staaten oder einem Staat, ist sekundär. Sowohl der ethnonationalistische bis fundamentalreligiöse Charakter der aktuellen israelischen Regierung und der sie unterstützenden Milieus wie die religiös-fundamentalistischen Kräfte auf palästinensischer Seite sabotieren dieses Anliegen.
Um in schwierigen Zeiten den Stand notwendiger Kritik zu erreichen, müssen die erhitzten Köpfe von binär-antiimperialistischen Scheuklappen befreit werden. Stünde das »Palästinensertuch« für eine solche reduktionistische Haltung, wäre es abzulegen. Als Solidaritätszeichen mit den von Repression verfolgten Palästinensern, als demonstratives Zeichen gegen die proisraelische Staatsräson, in deren Sinne Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit erheblich einschränkt werden, und besonders als Ausdruck der Verbundenheit mit einer von Massentötung bedrohten Bevölkerung muss das Tuch jedoch verteidigt werden. Nennen wir diese Haltung: dialektisch.
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Die kompromissbereiten jüdischen Israelis haben keine Ministerposten! Sie werden in Israel allmählich zu Außenseitern, gerade auch durch ihr fehlendes Vermögen, die illegale Landnahme im Westjordanland durch die Siedler auch nur ein bisschen abzubremsen. Deren Verbrechen waren uebrigens ein Teil der Vorgeschichte des 7. Oktobers. Das wird gern mal »weggelassen«.
Also gibt es derzeit doch zwei Seiten, die ganz Palästina für sich bzw. ihr Volk fordern (und die anderen vertreiben wollen) – doch welche davon ist gerade jetzt gewillt und in der Lage, ihre menschenfeindliche Ziele durchzusetzen, wenn man sie nicht daran hindert? Also bitte keine weitere »Aequidistanzforderung«! Es gibt schon genug davon.
Die Weisheit der weißen Südafrikaner, es nicht zu einem verzweifelten Endkampf, um Kapstadt oder Johannesburg kommen zu lassen, fehlt der israelischen Führung wie den meisten »einfachen« Israelis in Bezug auf Tel Aviv gegenwärtig.