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Aus: Ausgabe vom 22.05.2024, Seite 8 / Ansichten

Falsche Freunde

Reaktion auf Den Haag
Von Wiebke Diehl
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Kämpft um sein politisches Überleben: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (l.). Hier neben Kriegsminister Joaw Gallant (Tel Aviv, 28.10.2023)

Die Luft wird immer dünner: Wöchentlich werden es mehr Demonstranten, die den Rücktritt von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu fordern. Kürzlich hat ihm mit Benjamin Gantz der derzeit beliebteste Politiker des Landes ein Ultimatum gestellt. Und jetzt auch noch der Antrag des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) auf Ausstellung von Haftbefehlen nicht nur gegen die Führung der Hamas, sondern auch gegen Netanjahu und seinen Kriegsminister Joaw Gallant. Vorgeworfen werden den beiden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit – namentlich vorsätzliche Tötungen, zielgerichtete Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Vernichtung und Mord sowie das Aushungern der Bevölkerung als Kriegsmethode.

Dass Netanjahu jetzt den IStGH-Ankläger »einen der größten Antisemiten der Geschichte« schimpft, ihn mit den NS-Scharfrichtern vergleicht und ihm – in Anlehnung an die antisemitische Ritualmordlegende aus dem Mittelalter – »Blutverleumdung« vorwirft, mag kaum verwundern. Geht es dem israelischen Premier doch vor allem um das eigene politische Überleben und die Verhinderung von Strafverfahren gegen seine Person. Auch ist Netanjahus Verachtung für die Justiz seit Jahren bekannt. Seine Versuche, die Kompetenzen des Obersten Gerichtshofs rigoros zu beschneiden, haben nicht nur die Gesellschaft tief gespalten, sondern zerstören das Fundament des israelischen Rechtsstaats.

Dass allerdings auch das deutsche Auswärtige Amt zwar behauptet, die Unabhängigkeit des IStGH zu respektieren, dann aber sogleich zum Frontalangriff übergeht und das Gericht und seinen Chefankläger öffentlich kritisiert, ist bedenklich. Noch weiter gehen deutsche Politiker, die – sofern es geopolitisch genehm ist – anderswo immer gerne nach der internationalen Gerichtsbarkeit rufen. Jetzt allerdings fabuliert SPD-Politiker Michael Roth über einen »schwarzen Tag für das Völkerrecht«. Und der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktionen im Bundestag, Jürgen Hardt, bezweifelt gar die »staatsanwaltschaftliche Unabhängigkeit« von IStGH-Ankläger Karim Khan und dichtet ihm »andere« – antisemitische? – Motive an. Die israelische Regierung müsse nur besser kommunizieren – offenbar das einzige Manko, das Hardt in Tel Avivs Kriegführung erkennen kann.

Mehr als 35.000 Tote hat der auch mit deutschen Waffen geführte israelische Krieg in Gaza bereits gefordert, die meisten Opfer sind Frauen und Kinder. Die israelische Armee hat zwar den Küstenstreifen in Schutt und Asche gelegt, eine Hungerkatastrophe ausgelöst und das Leben der Geiseln aufs Spiel gesetzt – aber auch nach sieben Monaten kein einziges ihrer Ziele erreicht. Wer der Fortführung dieses Krieges, der dem weltweiten Ansehen Israels nicht nur erheblich, sondern vor allem nachhaltig geschadet hat, weiter das Wort redet, ist alles – aber kein Freund Israels.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren. Denn nicht allen lernen die junge Welt kennen, da durch die Beobachtung die Werbung eingeschränkt wird.

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  • Leserbrief von Jürgen Fleißner aus Seeheim - Jugernheim (29. Mai 2024 um 16:36 Uhr)
    Im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza wird immer wieder von Genozid gesprochen. Ich erlaube mir folgenden Hinweis auf die vergangene Geschichte, ohne damit einen direkten Vergleich ziehen zu wollen. Im Jahr 1933 erhielt die NSDAP 43,9 % der Stimmen und Adolf Hitler kam an die Macht. Im Jahr 2006 bekam die Hamas 44 % der Stimmen und kam an die Macht. Im 2. Weltkrieg gab es in Deutschland 2.176.0000 zivile Todesopfer und 5.533.000 tote Soldaten. Einer davon war mein Vater. Im Gaza-Krieg, nach unbestätigten Angaben, 100.000 zivile Todesopfer. Jeder tote Mensch in einem Krieg, ob Zivilist oder Militär, ist ein Toter zu viel! Die Hamas ist eine terroristische Vereinigung und Hitlerdeutschland war ein Verbrecherstaat. Aber beides mit Mehrheit vom Volk gewählt. Und nun stellt sich mir die Frage, wann ist das Töten von Zivilisten Genozid? Ich hoffe auf eine friedliche Welt. J. Fleißner
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. Mai 2024 um 15:09 Uhr)
    »Schauen Sie sich die Beweise an, schauen Sie sich das Verhalten an, schauen Sie sich die Opfer an und blenden Sie die Nationalität aus.« Chefankläger Khan ist der erste, der wirklich eine rote Linie zu ziehen wagt. Statt ihn zu bedrohen oder unter Druck zu setzen, sollten wir erleichtert aufatmen, dass jemand noch versucht, das internationale Recht zu handhaben. All die schönen Verträge sind nicht nur zur Zierde da. Bei möglichen Verletzungen müssen wir bereit sein, Verbrechen festzustellen, egal wer auch dahintersteckt. Ob die Voraussetzungen für den Haftbefehl vorliegen, muss das Gericht entscheiden, doch der Staatsanwalt sendet mit seiner Entscheidung genau das richtige Signal. Das Signal, dass jeder für sein Handeln zur Verantwortung gezogen werden kann. Auch aus westlichen Ländern und von unseren Verbündeten. Das Völkerrecht ist universell, das ist der Grundgedanke, und deshalb ist es entscheidend, dass der Westen die Forderung des IStGH-Staatsanwalts nach Haftbefehlen unterstützt. Alles andere würde uns als Heuchler der schlimmsten Sorte entlarven.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Angelo V. aus Berlin (22. Mai 2024 um 10:58 Uhr)
    Der Antrag des Chefanklägers des IStGH ist zwar kein Erfolg für die palästinensische Bevölkerung, aber eine Niederlage für Netanjahu und seine US- und EU-Unterstützer. Dass die Ankläger auch die Hamas-Führung auf die Anklagebank gerufen haben, ist dabei nur zu begrüßen. Die Hamas kämpft zwar kompromisslos gegen die israelische Macht, ist aber auch gleichzeitig ein Faktor der Unterdrückung der Palästinenser. Vergessen wir nicht, dass Hamas und Netanjahu zwei Pole einer Einheit bilden. Dennoch wird kein Gericht dieser Sorte den entscheidenden Stoß in diesen Krieg liefern. Dieser Antrag liefert jedoch den Beweis, dass monatelange Proteste weltweit eine Wirkung gehabt haben und dass die USA die Kontrolle zunehmend verlieren. Letzten Endes müssen sich die israelischen Arbeiter selbst von ihren inneren Feinden befreien, so wie auch die Palästinenser irgendwann es tun werden. Dieser Antrag könnte der israelischen, anti-zionistischen Opposition Mut geben. Hoffentlich liefert er auch eine weitere Motivation für alle Unterdrückten der Welt, dem Beispiel der Palästinenser zu folgen und sich gegen ihre Herrscher zu erheben. Was die hiesige Politik betrifft, geht es nicht um Juden zu schützen oder Antisemitismus zu bekämpfen, wie der Artikel richtigerweise bemerkt. Es geht um den Kampf zwischen Gehorsamkeit zu den Interessen des deutschen Kapitals (Staatsräson) gegen diejenigen, die diese Interessen nicht anerkennen wollen.
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (22. Mai 2024 um 08:45 Uhr)
    Im Text wir zwar mal kurz erwähnt, dass der IStGH Haftbefehle gegen die Hamas-Führung und(!) »gegen Netanjahu und seinen Kriegsminister Joaw Gallant« ausgestellt hat. Allerdings befasst sich der Kommentar nur mit dem zweiten Haftbefehl. Damit nicht der Verdacht der Einseitigkeit aufkommt, sollte der Kommentar zum Haftbefehl gegen die Hamas-Führung z. B. in der morgigen Ausgabe nachgereicht werden!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (21. Mai 2024 um 21:01 Uhr)
    Der Antrag des IStGH-Chefanklägers Karim Khan spiegelt auch das sich verschiebende Kräfteverhältnis in der globalen Politik wider. Es ist eine glückliche Stunde für das Völkerrecht. Oft genug musste sich der Internationale Strafgerichtshof den Vorwurf krasser Einseitigkeit gefallen lassen. Vollkommen zurecht. Bisher richtete sich die Tätigkeit des IStGH insbesondere gegen Afrikaner sowie gegen Personen wie den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Milosevic oder aktuell den russischen Präsidenten. Westliche Politiker, die völkerrechtswidrige Kriege befahlen, z. B. Ex-US-Präsident Bush jun. und der britische Premier Blair, bleiben ungeschoren. Da drängte sich der Eindruck geradezu auf, dass im Westen das Römische Statut lediglich als Instrument zum Schutz der »Werteordnung« des Westens angesehen bzw. missbraucht wurde. Diese Einseitigkeit scheint nun langsam zu verblassen. Der Globale Süden ist zunehmend und unumkehrbar ein gleichberechtigter Pol in unserer multipolaren Welt. Daher können der IStGH ebenso wie der Internationale Gerichtshof endlich ihrer eigentlichen Bestimmung gerecht werden, nämlich die Verteidigung und Umsetzung der Internationalen Rechtsordnung, die im Rahmen der Vereinten Nationen vereinbart wurde. Diese Rechtsordnung ist ja mit der erwähnten »Werteordnung« nicht gleichzusetzen. Und an den aktuellen Reaktionen, u. a. des US-Präsidenten oder der Bundesregierung kann man ablesen, dass das Bewusstsein einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten einer multipolaren Weltordnung in den westlichen Machtzentren offenbar noch nicht angekommen ist.

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