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Aus: Ausgabe vom 18.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Das seltsame Grau

Tomás González’ Roman von der Schönheit einer gefährdeten Welt und vom Sterben im Schwindel der Bilder
Von Erich Hackl
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Chronist des aufgeklärten kolumbianischen Bürgertums: Tomás González

Nach Meinung der Literaturwissenschaftlerinnen Alejandra Rengifo und Marita Lopera hat das Werk ihres Landsmannes Tomás González lange Zeit zu den »bestgehüteten Geheimnissen der kolumbianischen Literatur« gehört. Dass es endlich doch in seiner Bedeutung wahrgenommen und gewürdigt wird, verdankt sich der Leidenschaft und Beharrlichkeit des Übersetzers Peter Schultze-Kraft, der mit wechselnden Partnern – darunter seinen Schriftstellerfreunden Gert Loschütz und Peter Stamm – neun Bücher des Autors (sechs Romane, zwei Erzählbände, einen Gedichtzyklus) auf deutsch veröffentlicht hat. Erst durch die Anerkennung, die González im deutschsprachigen Raum erfahren hat, ist er in ganz Lateinamerika, jüngst auch in Spanien, bekannt geworden.

Literarischer Wärmestrom

Es wirkt paradox, dass gerade die Literatur eines Landes, das seit der Ermordung des linken Politikers ­Jorge Eliécer Gaitán im April 1948 von immer neuer, in ihrer Grausamkeit kaum noch beschreibbarer Gewalt erschüttert wird, es offenbar als ihr höchstes Ziel ansieht, die Friedfertigkeit der Menschen hervorzuheben, den respektvollen Umgang miteinander, die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, das zähe Bemühen, die Einsamkeit loszuwerden, die – nach García Márquez’ optimistischer Prophezeiung – hundert Jahre dauern würde. Aber selbst innerhalb dieses literarischen Wärmestroms, der vor allem von Schriftstellerinnen wie Pilar Quintana und Lorena Salazar Masso ausgeht, hat Tomás González bisher eine Sonderstellung eingenommen. Einerseits wegen der stilistischen Brillanz seiner Prosa und des Verzichts auf grelle Effekte. Zum anderen wegen der Spannung, die sich nicht aus dem Zusammenprall gegensätzlicher Interessen ergibt, sondern aus der Eindringlichkeit, mit der er die Empfindungen und Verrichtungen seiner Protagonisten darstellt. González denunziert sie nicht, macht sie nicht lächerlich, tritt ihnen nicht zu nahe. Er geht behutsam mit ihnen um, zärtlich und mit feinem Humor. Er ist kein vordergründig politischer und trotzdem ein zutiefst engagierter Schriftsteller: weil er dem Scheitern in seinem Denken und in seiner Kunst keinen Platz einräumt. In den Geschichten, die er erzählt, werden weder Gewalt noch Tod ausgespart; aber wenn gestorben wird, dann in einer sanften, dem Leben und der Natur ergebenen Weise.

Diese Beobachtung gilt auch für González’ Roman »El fin del Océano Pacífico« von 2020 – jüngst übersetzt als »Der Untergang des Pazifiks« –, in dem der Ich-Erzähler Ignacio, ein Radiologe aus Medellín, samt seiner weitverzweigten Familie in den Chocó reist, an die entlegene, aber vom Tourismus längst entdeckte Pazifikküste, deren einzigartige Biodiversität vom kapitalistischen Raubbau bedroht ist. Er will aufs erste nicht mehr, als seiner 91jährigen, von allerlei Krankheiten heimgesuchten, dabei höchst vitalen Mutter einen Herzenswunsch zu erfüllen, das Beobachten der ­Buckelwale nämlich, die sich hier, in Sichtweite der Strände, auf ihrer Reise aus der Antarktis paaren und ihren Nachwuchs zur Welt bringen. Aber das gemietete Gästehaus an der Küste ist auch der Ort, an dem der krebskranke Ignacio nach der Abreise seiner Verwandten zurückbleiben und, am Ende des Romans, in Gegenwart seiner Frau und einer Pflegerin sterben wird. Um dem allmählichen Kräfteverfall und den durch Morphium und Magensonde herabgesetzten Lebensäußerungen schreibend gerecht zu werden, findet González, in den Worten der eingangs zitierten Autorinnen, in einen »Schwindel der sich überlagernden, aufeinander folgenden, schnellen Bilder, die die Erzählung in Abschweifungen, Halluzinationen und Bedeutungsverlusten zwischen Wachsein und Schlaf unterbrechen«, bewahrt im Rhythmus seiner Prosa jedoch das Gleichmaß der Natur an diesem Flecken Erde, der Wolkenbrüche vor allem, die ihm wie ein Metronom das Tempo vorgeben und »alles in ein seltsames Grau fassen, das mich samt Haus verschlingt und weder Meer noch Urwald noch Regen ist«.

Intelligenz außer Kontrolle

»Der Untergang des Pazifiks« steht den anderen Romanen des Autors, in denen es ans Sterben geht, an Intensität um nichts nach. Aber er ist geschwätziger als etwa »Horacios Geschichte« (»La historia de Horacio«) und weniger hochtrabend als »Das spröde Licht« (»La luz difícil«), dafür allzu flapsig und gelegentlich auch banal: »Uns (der Menschheit nämlich, E. H.) ist die Intelligenz außer Kontrolle geraten.« Und was ist von einem Satz wie diesem zu halten? »Drei Pelikane gleiten dicht über dem Wasser dahin, und da merkt man, dass die Uhr des Tourismus eine Zeit maß, die intensiv bis zur Komik ist, abgekapselt und schnell, als berauschte sich eine Schar Ameisen an einem Tropfen Rum.«

Es fragt sich, ob solche und Dutzende andere Unstimmigkeiten nicht auch Susanne Lange anzulasten sind, die den Roman offenbar rasch und mit wenig Geduld übersetzt hat: Da läuft ein Hund »sehnig und neugierig« hinter Krebsen her, während ein Küster als »schuppig und arm« erscheint, brechen Ameisen zu »Rundgängen durch den Urwald« auf, wird »eine Partie Fußball« gespielt, erweist sich ein Aufprall als »zerstäubend«, lässt eine Masseuse »unsere Muskeln zerschlagen und verzagt zurück« und Ignacios Tante laute Musik »außen vor«, indem sie sich Perlen in die Ohren steckt. Überhaupt die derben Floskeln, die einem die Lektüre verleiden können: abtauchen, über den Jordan gehen, jemanden krallen, Scheiße, Haxe, Schrott … und aus die Maus!

Tomás González ist, auch das muss erwähnt werden, ein Chronist des aufgeklärten kolumbianischen Bürgertums, das mildtätig ist, nicht revolutionär gesinnt, aber ehrlich und einfühlsam, großzügig gegenüber den Armen der Umgebung und den eigenen Hausangestellten, die es – was auf den Mittelstand in Lateinamerika selten zutrifft – als Individuen wahrnimmt, nicht nur als Angehörige einer untergebenen, zum Dienen verurteilten Klasse. Aber während sich in den anderen Romanen dieses Autors und in seinen Erzählungen immer wieder Verrückte tummeln, Aussteiger oder Ausreißer, die sehenden Auges ins Unglück rennen, handelt es sich bei Ignacio und seinen Angehörigen um recht vernünftige, weitsichtige Leute. Die einzigen Personen im Roman, für die weder González noch sein Protagonist Sympathien aufbringen, sind zwei Militärs, die Ignacio verdächtigen, die Guerilla zu unterstützen. Sie gehören, wie dessen Frau Ester anmerkt, zu den Füchsen, die in Kolumbien wie auch anderswo »für die demokratische Sicherheit der Hühner« sorgen.

Tomás González: Der Untergang des Pazifiks. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Edition 8, Zürich 2024, 292 Seiten, 29 Euro

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