Sozialismus auf 156.000 Quadratmetern
Von Dieter ReinischDer Mietenwahnsinn in vielen europäischen Großstädten und die damit verbundene Ausrichtung des Wohnungsneubaus auf die Interessen von Investoren hat in den vergangenen zehn Jahren die Suche nach Alternativen befeuert. Ein wichtiger Bezugspunkt ist dabei der soziale Wohnungsbau Wiens in der Zwischenkriegszeit.
Im vergangenen Jahr besuchte eine Delegation der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin die österreichische Hauptstadt, um mehr über den öffentlichen Wohnungsbau zu erfahren. Sinn Féin dürfte in der kommenden Regierung für den Wohnungsbau verantwortlich sein und sieht im »Roten Wien« ein Vorbild, also jene Phase vom Wahlsieg der Sozialdemokratie 1919 bis zur Errichtung der Diktatur durch den Austrofaschismus 1933. Damals wurde das breite Fundament für den sozialen Wohnbau in Wien gelegt, der bis heute den Wohnungsmarkt der Stadt prägt. Mit einer zweckgebundenen Abgabe, die vorwiegend bürgerliche Schichten zu entrichten hatten, wurden damals im großen Stil moderne und günstige Wohnungen errichtet – eine der erfolgreichsten Umverteilungen von oben nach unten in der Geschichte des Kapitalismus.
Gegenwärtig erleben das »Rote Wien« und sein öffentlicher Wohnungsbau so etwas wie eine Renaissance. Es gibt kaum eine Rede, in der sich der neue SPÖ-Chef Andreas Babler nicht darauf als eine der zentralen »Errungenschaften der Arbeiterbewegung« bezieht. Auch die Grazer KPÖ-Bürgermeisterin Elke Kahr erklärte in einem Interview vergangenes Jahr, sich in dieser Tradition zu sehen. Nahezu alle linken Parteien versuchen sich in Wahlkämpfen, als Erben des Roten Wiens zu plazieren.
Auch das wissenschaftliche Interesse nimmt seit der großen Ausstellung des Wien-Museums vor fünf Jahren zu. Kokurator der Ausstellung war Georg Spitaler. Er steuerte auch einen lesenswerten Beitrag zu Sport in und um den Karl-Marx-Hof für einen neuen Sammelband bei. Die im kalifornischen Berkeley lehrende Cara Tovey ist Koautorin des Kapitels und Herausgeberin des Bandes »Karl-Marx-Hof. Schlüsselbau der Moderne«. Der Karl-Marx-Hof im 19. Wiener Gemeindebezirk direkt an der Endstation der Linie U4 ist mit einer Länge von einem Kilometer angeblich der längste Wohnbau der Welt und eine Art Wahrzeichen der Wiener Arbeiterbewegung. Mit dem Gemeindebau wollte die austromarxistische Sozialdemokratie die architektonischen Voraussetzungen einer neuen Gesellschaft schaffen, wie Tovey und ihr Mitherausgeber Julian Klinner in der Einleitung ausführen: Sozialismus auf 156.000 Quadratmetern. Um dies darzustellen, bieten sie eine kulturwissenschaftliche Betrachtung breit gefächerter Aspekte des Gemeindebaus: Architektur, Natur, Menschen, Sport, Mode und Nachwirkung.
Methodische Grundlage ist die im deutschsprachigen Raum relativ unbekannte geschichtswissenschaftliche Strömung der »Spatial History«, der Beschäftigung mit Räumen als historische Akteure. Der Band bietet eine überwiegend flüssig lesbare Darstellung einer der wichtigsten Leistungen der modernen Arbeiterbewegung in Mitteleuropa von einigen der führenden Experten auf diesem Gebiet.
Cara Tovey, Julian Klinner (Hg.): Karl-Marx-Hof. Schlüsselbau der Moderne. Mandelbaum, Wien 2024, 260 Seiten, 25 Euro
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