junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 18. / 19. Mai 2024, Nr. 115
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 08.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Russische Linke

Noch mal zu Lenin

Die über 100 Jahre alten Antikriegstexte des Revolutionärs sind auch 2024 aktuell
Von Boris Kagarlizki
lenin Kopie.jpg
Im sibirischen Exil: Durchsuchung von Lenins Wohnung in Schuschenskoje (Gemälde von W. R. Wolkow, 1958)

Artikel über Lenin haben mindestens einmal im Jahr, und zwar zum 22. April herum, verfasst und veröffentlicht zu werden, manchmal auch im Januar, wenn sich sein Todestag jährt. Mit solchen Texten könnte man wahrscheinlich eine mehrbändige Sammlung füllen. Ich selbst kann mich nicht mehr erinnern, wie viele Artikel ich für Jahrestage geschrieben habe. Heißt das, dass bereits alles veröffentlicht und gesagt wurde?

Wenn wir die obligatorischen Jubiläumsschwärmereien und die ebenso obligatorischen rituellen Verfluchungen weglassen, die zu lesen und zu wiederholen todlangweilig ist, bleibt eine Frage: Warum ist Lenin jetzt, im Jahr 2024, für uns interessant? Und diese Antwort ergibt sich aus den Antikriegstexten des bolschewistischen Anführers, die vor 110 Jahren geschrieben wurden und hochaktuell sind.

Bekanntlich war sich die Mehrheit der Sozialdemokraten in den verschiedenen Ländern, die sich im Krieg (dem Ersten Weltkrieg, jW) befanden, in einem einig: Sie alle unterstützten ihre eigene Regierung und »ihre« Bourgeoisie, erfanden alle möglichen Rechtfertigungen für den Krieg und erklärten, dass »ihr« Land keineswegs der Aggressor war, sondern gezwungen war, zu den Waffen zu greifen, um gegen Ungerechtigkeit und ausländische imperiale Ambitionen zu kämpfen. Und die Logik »Wir müssen unsere eigenen Leute unterstützen« funktionierte anfangs. In diesem Fall spielte es keine Rolle, von welcher Seite der Frontlinie diese oder jene Propaganda ertönte, ihre Bedeutung war immer dieselbe: »Wir« können, und sie können nicht; »wir«, egal was wir tun, verteidigen uns. »Sie«, egal was passiert, sind schuld. Die Partner von gestern erschienen als die leibhaftigen Schurken, während die offensichtlichen Patentbösewichte plötzlich zu den Guten erklärt wurden.

Aus dem Exil an die Spitze

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es für Lenin, der sich im Exil befand, viel einfacher und sicherer war, die Kriegsanstrengungen der russischen Behörden zu kritisieren, als für seine in Russland verbliebenen Gesinnungsgenossen. Allerdings wurde Lenin trotzdem verhaftet – die österreichisch-ungarischen Behörden in Krakau (heute Kraków, jW), wo er und Krupskaja (Nadeschda Konstantinowna Krupskaja, Revolutionärin, Pädagogin und Lenins Ehefrau, jW) sich niedergelassen hatten, um näher an Russland zu sein (darüber gibt es einen ausgezeichneten sowjetischen Film, »Lenin in Polen«), hielten den bolschewistischen Anführer beinahe für einen Agenten der zaristischen Regierung. Bald ließen sie ihn aber laufen und in die neutrale Schweiz entkommen. Bolschewistische Abgeordnete der Staatsduma wurden jedoch wegen ihrer Antikriegshaltung ins Gefängnis gesteckt.

Dennoch war Mut erforderlich, um sich gegen den Krieg auszusprechen. Mut nicht nur persönlich, sondern auch politisch. Erst jetzt, im Rückblick, wird deutlich, wie politisch wirksam Lenins Position war. Gerade die Tatsache, dass er und seine Anhänger eine klare Minderheit waren, hat sie deutlich hervorgehoben, hat sie auffällig gemacht. Und als sich die Situation änderte, als der patriotische Enthusiasmus für den »Krieg bis zum Sieg« von Müdigkeit, Enttäuschung und Einsicht in die Sinnlosigkeit des Geschehens abgelöst wurde, als drei Jahre blutigen Gemetzels in der Gesellschaft ein akutes Bedürfnis nach Veränderung formten, da richteten Millionen von Menschen (nicht nur in Russland) ihre Augen auf Lenin und die Bolschewiki. Das Rad des Schicksals drehte sich und tauschte die Plätze von Revolutionären und Herrschenden. Die wenigen radikalen Sozialisten, die nicht einmal von den Führern der führenden sozialdemokratischen Parteien ernstgenommen wurden, fanden sich plötzlich an der Spitze einer Massenbewegung wieder. Lenin, der in der ersten Hälfte des Jahres 1917 als ausländischer Agent denunziert worden war, fand sich Ende desselben Jahres in Petrograd an der Spitze der Revolutionsregierung wieder.

Analyse statt Glaube

Wir sollten uns an diese Geschichte erinnern, nicht weil sich solche Geschichten oft wiederholen – es wäre verfrüht und leichtsinnig, auf so etwas zu hoffen. Viel wichtiger ist es, zu verstehen, warum Lenin genau diese Position eingenommen und genau diese Wahl getroffen hat, die ihn zunächst zu einer politischen Randfigur selbst innerhalb der Sozialdemokratie machte und ihn dann auf die Höhen der Macht führte. Natürlich spielt hier die revolutionäre Prinzipientreue eine wichtige Rolle. Die Position des bolschewistischen Anführers stand im Einklang mit der Philosophie des marxistischen Sozialismus und den früheren Beschlüssen der Zweiten Internationale, von denen die Führer der großen Parteien eilig abgerückt waren. Aber nicht nur das. Schließlich wäre es möglich gewesen, eine weniger radikale Position zu vertreten und einen scharfen Konflikt mit den einflussreicheren Politikern der sozialdemokratischen Mehrheit zu vermeiden (wie es viele andere Linke taten). Lenins Position basierte nicht nur auf Ideologie, sondern auch auf politischer Analyse, Kalkül und historischen Prognosen. Es ist keineswegs ein Zufall, dass Lenin seine Studie über das Wesen des Imperialismus gerade während des Ersten Weltkriegs verfasste, ebensowenig wie es zufällig ist, dass er seine berühmte Formel über die revolutionäre Situation in seinen Artikel über den Zusammenbruch der Zweiten Internationale aufnahm.

All dies ist weit entfernt von abstrakter Theoretisierung. Der bolschewistische Anführer analysiert die politische Situation und versucht, ihre Entwicklung vorherzusagen. Für ihn ist klar, dass die Behörden des Russischen Reiches nicht nur einen für das Volk völlig unnötigen Krieg begonnen haben, sondern dies auch aus innenpolitischen Erwägungen heraus taten. Krieg ist ein Rezept gegen Revolutionen (und gegen politischen Wandel im allgemeinen). Aber leider wird das Scheitern eines Krieges selbst zu einem Mechanismus, der eine Revolution auslöst. Indem er sich gegen den Krieg ausspricht, nimmt er im Gegensatz zu den Pazifisten nicht nur eine moralische und ideologische Position ein, sondern bereitet auch ein politisches Sprungbrett für die Teilnahme an künftigen revolutionären Ereignissen vor. Das Vertrauen in die Unvermeidbarkeit der Revolution beruhte nicht auf gläubiger Überzeugung, sondern auf einer Analyse der sozialen Widersprüche, die in ihrer Entwicklung unweigerlich das System zerreißen müssen. Diese Zuversicht scheint Lenin nur einmal, gleich zu Beginn des Jahres 1917, verlassen zu haben, als er die berühmten Worte »Wir werden die Revolution nicht mehr erleben« aussprach. In der Tat schien es so, als würde das System alle Probleme und sogar sein eigenes Versagen irgendwie auf mystische Weise bewältigen. Das russische Volk ertrug mit erstaunlicher Geduld alles, was die Behörden ihm antaten. Aber es war die dunkle Stunde vor dem Morgengrauen. Bald darauf explodierte es so, dass wir den Widerhall der Explosion noch heute hören können.

Politik üben

Es geht nicht nur um die Genauigkeit seiner Prognosen und sein Verständnis von der Unvermeidbarkeit der Revolution. Nicht alle seine Vorhersagen trafen ein, und nicht immer war Lenins Analyse der Situation richtig. Die Hauptsache ist, dass die wichtigste Vorhersage eintraf. Wenn auch mit Verspätung, so hat diese Vorhersage doch gestimmt, die Analyse wurde bestätigt. Und so wurde Lenin vom Revolutionstheoretiker zum Politiker. Oder besser gesagt, er konnte sich als Politiker verwirklichen (was er eigentlich schon immer gewesen war).

Das Problem der heutigen Linken besteht darin, dass sie zwar philosophisch denken, philosophische Fragen stellen und darüber streiten, wer der treueste Marxist ist und welche Formel vom Standpunkt der abstrakten Ideologie aus am richtigsten ist, dass sie aber nicht wissen, wie man Politiker wird, und nicht dazu bereit sind. Das ist verständlich: Wir haben keine lebendige und ernsthafte politische Praxis. Es gibt nichts, woran man üben könnte.

Lenin hat dieses Problem 1917 gemeistert. Werden wir dazu in der Lage sein, wenn wir plötzlich eine Chance bekommen?

Boris Juljewitsch Kagarlizki (Jahrgang 1958) ist ein russischer marxistischer Philosoph und Soziologe. Als Kritiker des russischen Einmarschs in die Ukraine wurde er im Februar wegen »Rechtfertigung von Terrorismus« zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Der hier veröffentlichte Beitrag erschien zuerst auf https://rabkor.ru

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (7. Mai 2024 um 21:43 Uhr)
    Genau deshalb schätze ich die jW, weil sie auch darauf Aufmerksam macht, dass in Russland Marxisten verfolgt werden. Boris Kagarlizki ist ein politischer Gefangener, der weiterhin am Marxismus und Leninismus festhält und dafür nach wie vor verfolgt wird, aber sich nicht durch Putins herabwürdigende Kritik an Lenin (in der Nationalitätenpolitik) einschüchtern lässt.

Ähnliche:

  • Isaak Israilewitsch Brodski: Lenin im Smolny, 102 x 158 cm, Öl a...
    22.01.2024

    Lenin liest Hegel

    Im Schweizer Exil skizzierte der russische Revolutionär eine philosophische Grundlegung des Marxismus. Ein Überblick über seinen Nachlass

Regio:

Mehr aus: Feuilleton