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Aus: Ausgabe vom 08.05.2024, Seite 2 / Inland
Tag der Befreiung

»Willkürliche Anmaßungen der Exekutive«

8. und 9. Mai: Polizeiverordnungen noch um Liedgut ergänzt. Würdevolles Gedenken erschwert. Ein Gespräch mit Benjamin Düsberg
Interview: Annuschka Eckhardt
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Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park: Auch im vergangenen Jahr gab es Beschränkungen und Repression am Tag der Befreiung (Berlin, 8.5.2023)

Die Verordnung der Berliner Polizei für die Feierlichkeiten zum Tag der Befreiung und zum Tag des Sieges haben sich in diesem Jahr noch einmal verschärft. Was ist alles nicht erlaubt?

Ausgerechnet an den Sowjetischen Ehrenmalen Treptow, Tiergarten und Schönholzer Heide und ausgerechnet am Tag der Befreiung soll es verboten sein, Fahnen oder Wappen der Sowjetunion zu zeigen. Symbole mit Russland-Bezug sind ebenso verboten. Sogar sämtliche Varianten des bekanntesten sowjetischen Liedes zum Zweiten Weltkrieg, »Der heilige Krieg«, sind verboten. In der ersten Strophe heißt es: »Erhebe dich, gewaltiges Land, erhebe dich für den tödlichen Kampf gegen die faschistische dunkle Macht, gegen die verfluchte Bande!« Das darf nicht gesungen werden an Orten, an denen 27 Millionen getöteter Bürger der Sowjetunion und des Sieges der Roten Armee gedacht wird, der die Welt von der Geißel des deutschen Faschismus befreite. Die übrigen Details dieser geschichtsvergessenen Anordnung kann ja jeder selbst der Verfügung entnehmen.

Widersprechen diese Verordnungen nicht dem deutsch-russischen Gesetz über die Kriegsgräberfürsorge vom 16. Dezember 1992, laut dem die Polizei Berlin in der Verpflichtung steht, sowjetische Ehrenmale und Kriegsgräber vor dem Hintergrund der geschichtlichen Verantwortung Deutschlands zu schützen?

Ich würde sagen, dem Abkommen widerspricht es wohl nicht. Bei dem geht es eher um den Schutz der Grabstätten vor Zerstörung, Vandalismus und Entstellung. Allerdings verletzt die Verfügung ganz eindeutig die Versammlungsfreiheit der Menschen, die an den Gedenkstätten den Tag der Befreiung begehen möchten.

Russisches Liedgut ist laut der Verordnung verboten – das eben erwähnte sowjetische Lied »Der heilige Krieg« ebenfalls. Wie geht das Verbot des Singens sowjetischer Soldatenlieder mit dem von der Polizei geforderten »würdevolle Gedenken an die gefallenen Soldatinnen und Soldaten der damaligen Sowjetarmee« zusammen?

Beides ist gar nicht zu vereinbaren. Es ist ein Hohn, wenn die Versammlungsbehörde die unwürdigen Einschränkungen ausgerechnet mit dem würdevollen Gedenken an die Gefallenen der Sowjetarmee begründet – solches wird durch die Regelungen gerade verhindert. Und wie kann sich die Berliner Versammlungsbehörde anmaßen zu definieren, wie ein würdevolles Gedenken am Tag der Befreiung auszusehen hat?

»Im Zweifel gilt der politische Wille und nicht das Recht«, sagten Sie vergangenen Sonnabend auf einer jW-Veranstaltung. Was gibt es dem entgegenzusetzen?

Habe ich das gesagt? (lacht) So einfach ist es wohl auch wieder nicht. Die Politik denkt in einem Freund-Feind-Schema, welches einem Rechtsstaat eigentlich fremd sein sollte, aber die Justiz beeinflusst. Die Gerichte als dritte Gewalt haben willkürliche Anmaßungen der Exekutive, wie zum Beispiel diese politisch motivierte Allgemeinverfügung zum 8./9. Mai, nüchtern zurückzuweisen. Die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit erhalten besondere Bedeutung als Minderheitengrundrechte und müssen gerade als solche geschützt werden. Leider versagt die Justiz oft genug gerade in aufgeheizten politischen Kontexten, als gerade dann, wenn ihre Nüchternheit besonders gebraucht würde.

Wie können von polizeilichen Maßnahmen Betroffene vor Ort reagieren?

Widerspruch einlegen, das Gespräch suchen, Kompromisse finden, aber sich möglichst nicht wehren gegen die polizeilichen Maßnahmen. Sonst gibt es noch ein Verfahren wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte.

Wie waren denn Ihre Erfahrungen in den vergangenen Jahren während dieser Tage?

Ich habe mich auch in den letzten Jahren gewundert, dass diese Verfügung überhaupt erlassen wurde und dann auch von dem Berliner Oberverwaltungsgericht gehalten wurde. Während das Berliner Verwaltungsgericht, das in erster Instanz tatsächlich mit einer sehr ausführlichen und präzisen Begründung diese Untersagung so­wjetischer und russischer Symbole aufgehoben hatte, hat das Oberverwaltungsgericht dann wieder der Versammlungsbehörde recht gegeben. Das war sehr enttäuschend.

Benjamin Düsberg ist Rechtsanwalt in Berlin mit dem Schwerpunkt Strafverteidigung

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (10. Mai 2024 um 14:21 Uhr)
    T-online-Nachrichten legen allen Eifer an den Tag bei Suche nach Zeugnissen der Judenvernichtung. Der faschistische Völkermord an den Juden wird thematisiert. Politisch in Unwissenheit gehaltene Bevölkerung zahlt sich aus. Wer weiß schon davon, wer erinnert sich, wie in der alten Bundesrepublik Massenmord und -mörder an Juden Schutz, Unterschlupf, Anerkennung in hohen Ämtern fanden, Völkermord an den Juden beschwiegen wurde, von antifaschistischer Aufarbeitung kaum die Rede sein konnte. Haben wir es nun spät, nicht zu spät auch hier mit Zeitenwende zu tun? Sind die scheinbaren aufrechten Kämpfer gegen Antisemitismus über Nacht zu Antifaschisten gewendet, die sie in der alten BRD nie sein wollten? Ohne ein Minimum an politischem Verstand, einem Verstand, der Millionen abgewöhnt, aus den Hirnen gehämmert wurde, dem Millionen nicht mehr zugänglich sind, nichts politisch wissen wollen, ist es nahezu unmöglich, sich noch zurechtzufinden, sich eine eigene Meinung zu bilden, die üblen Tricks der geistigen Demagogen und Meinungsmanipulierer zu erkennen. Es bleibt nichts anderes als bestenfalls rein moralische Urteile, Bedauern mit Gebetsende des Amens, wonach wir alle, jeder und jede nichts machen könnten. So braucht Staat seine BürgerInnen. Wie geistig arm sind Menschen zu machen, die im historischen Rückblick wissen könnten, was Menschen an hervorragenden geistigen und materiellen Leistungen hervorgebracht haben, welche moralisch-menschliche Größe damit oft einherging. Jüngste Generationen berufen sich noch heute mit überschwänglichem Stolz auf eine friedliche Revolution, die sie gemacht haben wollen. Wo ist ihr ganzes Revolutionäre verschwunden? Menschen mit Verstand und Vernunft lassen sich höchst aktuell vormachen, wie scheinbare aufrechte Kämpfer gegen jeden Funken und Verdacht des Antisemitismus, im Gedenken an den Völkermord an den Juden, zugleich Völkermord an Palästinensern zulassen, gut und richtig finden? Wer hätte sich vorstellen können, in diesem Deutschland, dem Deutschland der Demokratie, Menschenrechte, Freiheiten und des Rechts würden Menschen verfolgt, verboten, bedroht, die nichts anderes tun, als Solidarität für ein palästinensisches Volk zu fordern, für Lebens- und Völkerrecht eines Volkes zu demonstrieren, an dem gerade finaler Völkermord begangen wird. Wie politisch abgestumpft, verblödet, dumm und ahnungslos ist ein ganzes Volk gemacht worden, das sich dem nicht massenhaft widersetzt? Demokraten lassen sich zu den Regierenden genehmen Protesten und Demonstrationen treiben, benutzen und wollen nicht sehen oder verstehen können, was in diesem Wendeland nebeneinander vor sich geht? Alle wollen nichts mehr davon wissen, seit wann der braune Sumpf ungehindert hervorquillt, sich mordend und gewalttätig über das Land ausgebreitet hat mit rechter Begleitmusik aus dem Lager der Regierenden. Wie wenig bis nichts muss ein Volk mehrheitlich von Demokratie, Freiheit, Menschen – wie Völkerrecht verstanden haben, wie unfähig vermag es Zusammenhänge der Politik zu erkennen. Wie kann sich deutscher Staat, Regierung und Machtapparat antifaschistisch geben, Antisemitismus verfolgen wollen und zugleich einen 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus, dem Mord an 27 Millionen Russen, zahllosen anderen Semiten mit Auflagen und Restriktionen die Ehre und Würde nehmen, mit Staatsgewalt das Gedenken zu behindern?
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (13. Mai 2024 um 14:54 Uhr)
      »T-online-Nachrichten legen allen Eifer an den Tag bei Suche nach Zeugnissen der Judenvernichtung. Der faschistische Völkermord an den Juden wird thematisiert. Politisch in Unwissenheit gehaltene Bevölkerung zahlt sich aus« Ein äußerst fragwürdiges Statement: »in Unwissenheit gehaltene Bevölkerung« wird wird mit »Zeugnissen der Judenvernichtung« bombardiert. Von welchem politischen Milieu kennen wir solche Aussagen? Dann beklagen Sie, dass die Leute mit ihrem »überschwänglichem Stolz auf eine friedliche Revolution« heute nicht gegen die Regierung der BRD aufstehen. Wie logisch ist das denn? Wie sollten die sich gegen ihre Sponsoren wenden? »Demokraten lassen sich zu den Regierenden genehmen Protesten und Demonstrationen treiben, benutzen und wollen nicht sehen oder verstehen können, was in diesem Wendeland nebeneinander vor sich geht?« Also die Hunderttausende, die gegen die Nazis demonstrieren, sind von der Regierung getrieben worden. Ist es nicht vielmehr so, dass sich heuchlerische Regierungsvertreter an die Proteste dranhängen? »Im Gedenken an den Völkermord an den Juden, zugleich Völkermord an Palästinensern zulassen.« So relativiert man die Verbrechen der Hitlerfaschisten, die mit nichts zu vergleichen sind. Bei aller berechtigter Kritik, die Sie formulieren, sollten Sie aufpassen, nicht ins rechte Lager abzurutschen. Übrigens: T-online-Nachrichten, die Sie kritisieren, kannte ich bisher nicht, kann mir also ein Urteil nicht abschließend erlauben. Die haben aber immerhin ein Thema aufgegriffen, das auch der jW gut zu Gesicht gestanden wäre, oder hab ich das übersehen?: Artikel »Geschmacklos und geschichtsvergessen« https://www.t-online.de/sport/fussball/europa-league/id_100403574/leverkusen-bella-ciao-als-fehlgriff-nach-sieg.html

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